Aristoteles

Politik 6,2,1317a

Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit. Man pflegt nämlich zu behaupten, dass die Menschen nur in dieser Staatsform an der Freiheit teilhaben, und erklärt, dass danach jede Demokratie strebe. Zur Freiheit gehört aber erstens, dass man abwechselnd regiert und regiert wird. Denn die demokratische Gerechtigkeit besteht darin, dass man nicht der Würde, sondern der Zahl nach die Gleichheit walten lässt, wo diese Gerechtigkeit herrscht, da muss die Menge Herr sein, und was die Mehrzahl billigt, das muss das Gültige und das Gerechte sein. Man sagt nämlich, es sei gerecht, dass jeder Bürger das Gleiche habe. So sind denn in den Demokratien die Armen mächtiger als die Reichen. Denn sie sind zahlreicher, und maßgebend ist die Meinung der Mehrzahl. Dies also ist das eine Zeichen der Demokratie, das alle Demokraten als Wesenszug dieser Verfassung angeben. Ein anderes ist, dass man leben kann, wie man will. Sie sagen, eben dies sei die Leistung der Demokratie; denn nicht zu leben, wie man wolle, sei charakteristisch für Sklaven. Dies also ist die zweite Eigenschaft der Demokratie. Von da her kommt denn, dass man sich nicht regieren lässt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei.
Da nun dies vorausgesetzt wird und dies die Regierungsform ist, so ergibt sich das Folgende als demokratisch: Alle Ämter werden aus allen besetzt, alle herrschen über jeden und jeder abwechslungsweise über alle. Ferner werden die Ämter durchs Los besetzt, entweder alle oder doch jene, die nicht der Erfahrung und Kenntnisse bedürfen. Von der Vermögenseinschätzung hängen die Ämter entweder überhaupt nicht oder nur zu einem minimalen Grade ab. Keiner darf ein Amt zweimal bekleiden, oder nur wenige Male oder in wenigen Fällen, abgesehen von den Kriegsämtern. Die Ämter sind alle kurzfristig, oder doch alle, bei denen es möglich ist. Richter sind alle und können aus allen entnommen werden und richten über alles oder doch über das Meiste, Größte und Bedeutendste, wie über Rechenschaftsablagen, Verfassungsfragen und Privatverträge. Die Volksversammlung entscheidet über alles oder doch das Wichtigste, die Behörden dagegen über nichts oder nur ganz weniges. Von den Behörden ist der Rat das demokratischste, dort jedenfalls, wo nicht reichliches Taggeld für jeden zur Verfügung steht. Wo aber dies der Fall ist, da werden auch dieser Behörde die Kompetenzen entzogen. Denn wo eine Volksversammlung in der Lage ist, reichliche Taggelder zu geben, da zieht sie alle Entscheidungen an sich, wie wir schon in der vorangehenden Untersuchung gesagt haben. Ferner werden Taggelder gewährt für alles, wenn möglich (für Volksversammlung, Gerichte, Behörden), oder doch wenigstens für Behörden, Gerichte, Rat und die wichtigen Volksversammlungen oder doch diejenigen Behörden, die zusammen zu speisen haben.
Wenn ferner die Oligarchie durch Adel, Reichtum, und Bildung charakterisiert wird, so scheint die Demokratie von alledem das Gegenteil sein, Unadligkeit, Armut, Unbildung. Bei den Ämtern gilt, dass keines lebenslänglich sein darf. Bleibt aber ein solches aus einem früheren Zustand übrig, so wird seine Kompetenz beschränkt und aus der Wahl eine Auslosung gemacht.
Dies sind also die gemeinsamen Eigenschaften aller Demokratien. Aus der Gerechtigkeit, die anerkanntermaßen als demokratisch gilt (nämlich dass alle der Zahl nach dasselbe haben), entspringt eben jene Verfassung, die am meisten demokratisch und volkstümlich zu sein scheint. Denn die Gleichheit besteht darin, dass Arme und Reiche in gleicher Weise regieren, dass nicht Einzelne allein entscheiden, sondern alle gleichmäßig ihrer Zahl nach. So - meint man wohl - sei für die Verfassung die Gleichheit und Freiheit garantiert.


Quellenliste