Wilhelm von Humboldt

Auszüge aus:

Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen

(1791/92)

Die Menschen wollen in Gesellschaft leben. Dazu führt sie ihre Natur. In der Gesellschaft aber fühlen sie das Bedürfnis gemeinschaftlicher Führung. Nun entstehen natürlich die beiden obigen Fragen: 1. Was verlangt man von der Regierung und worauf schränkt man ihren Zweck ein? 2. Wie bringt man es dahin, dass die Regierung nie mehr tun wollte, aber dies immer tun könnte?

Das physische und moralische Wohl der Nation, sagen fast alle unsre politischen Schriftsteller, ist der Zweck des Staats, und Religions- und Polizeiedikte sagen es deutlich genug, dass die Ausführung hier der Theorie sehr nahe bleibt. Vorzüglich häufig aber ist das Einmischen des Staats in die Betreibung aller Gewerbe. Ackerbau, Handwerke, Handel, Künste, und Wissenschaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Auf diesen Grundsätzen ist die seit einiger Zeit so gepriesene Polizeiwissenschaft erbaut, und vielen Schriftstellern nach sollte man glauben, das einzige Verderben sei nur dies, dass man nicht jeden einzelnen Untertanen überall und, wie Rousseau seinen Emile, bis ins Ehebett hinein hofmeistern kann.

Sehnsucht nach Freiheit entsteht ... nur zu oft erst aus dem Gefühl des Mangels derselben. Unleugbar bleibt es jedoch immer, dass die Untersuchung des Zwecks des Staats eine große Wichtigkeit hat, und vielleicht eine größere als irgendeine andere politische. Dass sie allein gleichsam den letzten Zeck aller Politik betrifft.

Schon mehr als einmal ist unter den Staatsrechtslehrern gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichtigen müsse. ... Ackerbau, Handwerke, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Nach diesen Grundsätzen hat das Studium der Staatswissenschaften eine veränderte Gestalt erhalten, wie Kameral- und Polizeiwissenschaft z. B. beweisen, nach diesen sind völlig neue Zweige der Staatsverwaltung entstanden, Kameral-, Manufaktur- und Finanz-Kollegia. So allgemein indes auch dieses Prinzip sein mag, so verdient es, dünkt mich, doch noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese Prüfung muss von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken ausgehen.

Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andern Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.

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