Flavius Iosephus

Vom Judäischen Kriege 5,9,3-5,10,3

3) So machte sich Iosephus auf den Weg um die Stadtmauer, und er gab sich Mühe, möglichst nicht in Schussweite zu kommen, aber doch in Hörweite zu bleiben; und immer wieder bot er seine ganze Überredungskunst auf, die Juden dazu zu bringen, dass sie Mitleid hätten mit sich, mit dem Volk, mit ihrer Vaterstadt und dem Tempel und dass sie an dem gegenüber nicht weniger Respekt aufbrächten als die Angehörigen eines fremden Volkes. Die Römer hätten keinen Teil an ihrem Kult, aber sie achteten das Heiligtum ihrer Gegner und hätten bis zum gegenwärtigen Augenblick mit keinem Finger daran gerührt. Sie aber, die darin bisher ihr Leben verbracht hätten und deren Eigentum es auch sei, wenn es erhalten bliebe, seien im Begriff, ihn dem Untergang zu weihen. Sie seien ja selbst Zeugen, dass wirklich die stärksten Mauern bereits geborsten und nur noch die schwächsten von den dreien übrigen seien. Außerdem kennten sie ja die unüberwindliche Kraft der Römer, und es sei ihnen auch nichts Neues, deren Oberherrschaft anzuerkennen. Freilich sei es schön und ehrenvoll, für die Freiheit einzustehen, aber das müßte man gleich tun. Wenn sie aber jetzt, nach ihrer früheren Unterwerfung und nachdem sie lange den Zustand ertragen hätten, die Fesseln brechen wollten, so handelten sie wie Mörder, nicht wie Freiheitshelden. Man könne wohl Herrschern von geringerem Format seine Verachtung zeigen, jedoch nicht solchen, denen die ganze Welt untertan sei. Was hätte sich denn dem Zugriff der Römer zu entziehen vermocht, wenn man von den Gegenden absehe, die wegen der Hitze oder der Kälte unnütz seien? Überall hätte sich das Unglück ihnen beigesellt, und Gott, der den Wechsel der Herrschaften unter den Völkern zulasse, befinde sich eben jetzt auf seiten Italiens. Es sei eben ein unabdingbares Gesetz im Tierreich wie bei den Menschen, dass man dem Mächtigeren nachgeben müsse und dass nur jene über wirkliche Macht verfügten, die am besten bewaffnet seien. Das sei der Grund, warum schon ihre Vorväter, obgleich sie ihnen an Geist und Körperkraft wie auch in sonstiger Hinsicht überlegen gewesen seien, das römische Joch auf sich hätten nehmen müssen, womit sie sich sicherlich nicht abgefunden hätten, wären sie nicht überzeugt gewesen, dass Gott es mit den Römern halte. Und was gebe ihnen denn das Vertrauen bei ihrer starrsinnigen Gegenwehr, wo die Stadt doch großenteils bereits gefanen sei und wo ihnen doch für den Fall, dass die Mauern ihren Dienst täten, weitaus größere Übel innernalb der Stadt bevorstünden, als wenn sie erstürmt werde? Die Römer hätten nämlich genaue Kunde von der Hungerkatastrophe in der Stadt, der erst einmal das Volk, alsbald aber auch die kämpfende Truppe zum Opfer fallen werde. Für den Fall also, dass die Römer die Belagerung nicht fortsetzten und nicht mit blanker Waffe einen Einbruch machten, würden die Eingeschlossenen immer noch von diesem unbesiegbaren Feind bekriegt, der von Stunde zu Stunde an Macht gewinne, wenn sie nicht etwa auch dem Hunger mit dem Schwert in der Hand zu Leibe rücken und so als einzige seine Folter beendigen könnten. Iosephus fügte hinzu, es wäre doch gut, wenn sie ihren Sinn noch änderten, bevor ein irreparables Unglück entstehe, und wenn sie an ihre Rettung dächten, solange noch die Möglichkeit dazu bestehe. Die Römer würden ihnen bestimmt Nachsicht schenken für das, was hinter ihnen liege, wenn sie nur nicht bis zum Äußersten in ihrer Unbeugsamkeit verharrten; sie seien nämlich von Natur aus so geartet, dass sie sich als Sieger milde erwiesen und mehr auf ihre Interessen bedacht seien als auf die Befriedigung ihres Zornes. Weder eine entvölkerte Stadt noch eine verbrannte Erde könnten ihnen von Nutzen sein, und darum gebe ihnen der Caesar auch jetzt nochmals Gelegenneit zur Kapitulation; denn wenn er sich der Stadt gewaltsam bemächtige, dann würde wohl niemand am Leben bleiben, vor allem dann nicht, wenn sie auch in der kritischsten Lage seine Mahnung missachtet hätten. Dass auch die dritte Mauer über kurz oder lang zum Bersten käme, dafür sei die Einnahme der beiden anderen ein Beweis. Aber selbst wenn diese Befestigung uneinnehmbar wäre, so kämpfe doch der Hunger auf seiten der Römer gegen sie. 4) So suchte Iosephus ihnen zuzureden, aber noch während er sprach, schmähten ihn viele von der Mauer herab und riefen ihm Schimpfworte zu, und einige suchten ihn auch mit Geschossen zu treffen. Und da sein überzeugender Rat bei ihnen nicht verfing, argumentierte er mit der Geschichte des Judenvolks und rief: »Ihr Ärmsten, nicht mehr denkt ihr an eure wirklichen Bundesgenossen, und mit Waffen und mit den bloßen Händen wollt ihr euch mit den Römern in den Kampf einlassen! Wo sind sie denn, die auf diese Weise unterlegen wären? Wann aber war Gott, der uns geschaffen, nicht immer auch unser Rächer, wenn wir Juden Unrecht hinnehmen mußten? Seht euch doch um, werdet ihr nicht gewahr, von wo aus ihr den Kampf aufnenmt und welch mächtigen Bundesgenossen ihr vor den Kopf gestoßen habt? Denkt ihr nicht daran, was Gott alles durch die Hände unserer Väter fügte und welch mächtigen Feinden dieser heilige Platz einst den Untergang brachte? Wohl wird mir bang, über Gottes Taten vor Unwürdigen zu sprechen. Gleichwohl aber hört es und wisst es, dass ihr nicht nur die Römer, sonden auch Gott betrügt! Einst brach der Ägypterkönig Nechao - er heißt auch Pharao - mit einer gewaltigen Streitmacht bei uns ein und raubte Sarah, die Mutter unseres Geschlechts aus fürstlichem Geblüt. Wie aber verhielt sich nun ihr Gatte Abraham, unser Vorvater? Kühlte er mit Waffen seine Rache an dem Verbrecher, wo er sich doch auf 318 Paladine verlassen konnte, von denen jeder Herr über zahllose Truppen war? Mitnichten, das alles bedeutete ihm nichts, wenn er Gottes Hilfe ermangelte, und er streckte seine reinen Hände hin zu diesem Platz, den ihr besudelt habt, um sich Gott zum unüberwindbaren Helfer zu machen! Noch ehe der nächste Abend herankam, wurde die Prinzessin, ohne dass ihr Gewalt geschehen war, ihrem Gatten zurückgeschickt; der Ägypter aber warf sich an diesem Platz nieder, den er mit dem Blut eurer eigenen Leute bedeckt hatte, und als ihn dann nachts Traumbilder bedrängten, da war er von Angst und ergriff die Flucht zurück in sein Land und hinterließ den Hebräern, da Gott sie liebte, Geschenke von Gold und Silber! Soll ich auch noch im einzelnen daran erinnern, wie unsere Vorväter in Ägypten ansässig wurden? Mit Gewalt wurden sie niedergehalten, und 400 Jahre lang waren sie Knechte fremder Könige, und obgleich sie mit Waffen und Händen dagegen ankämpfen konnten, hielten sie sich an Gott. Wer weiß nicht, wie Ägypten angefüllt ward von allem möglichen Getier, wie es von allen Krankheiten geschlagen war, wie das Land unfruchtbar wurde und der Nil kein Wasser mehr führte, wie die zehn Plagen nacheinander einfielen und wie dann unsere Väter unter Bewachung aus dem Lande geführt wurden, ohne dass es zum Blutvergießen und anderen Gefahren kam... denn Gott selbst führte sie an, sie, die künftig seinen Tempel bauen sonten! Ja, einst hatten es Palästina und das Götzenbild Dagon bitter zu büßen, dass die Syrer unsere heilige Bundeslade geraubt hatten. Das gesamte Volk der Räuber brach in Jammer aus, da ihnen das Gemächte in Fäulnis überging und so die Eingeweide samt der Nahrung den Körper verließen, und mit ihren eigenen Händen brachten sie die Lade wieder zurück und gaben sich Mühe, mit Zymbeln und Pauken und Opfergaben aller Art das Allerheiligste wieder zu versöhnen. Gott war es eben, der unseren Vätern solches gelingen ließ, da sie die Finger von den Waffen ließen und Gott das Urteil anheimstellten. Ereilte etwa Sennacherim den Assyrerkönig, als er ganz Asien aufbot, um diese Stadt zu belagern, der Tod aus Menschenhand? Entglitten Seinen Händen nicht die Waffen, damit sie sich zum Gebete falteten, während Gottes Engel in einer einzigen Nacht diese ungeheure Kriegsmacht vernichtete? Und wie dann der Assyrer am Morgen aufstand und 185.000 Leichen vorfand, ergriff er mit den übrigen die Flucht vor den Hebräern, die keine Waffen hatten und denen jede Verfolgung unmöglich war. Auch von der Knechtschaft in Babylon habt ihr Kunde, wo unser Volk 70 Jahre lang in der Verbannung lebte, ohne etwas dagegen zu unternehmen, bis Cyrus es Gott zu Gefallen die Freiheit gewinnen ließ! Er entließ es, und es betreute aufs neue den Tempel seinem Rettergott zu Ehren. Es gibt überhaupt kein Beispiel dafür, dass unsere Väter mit Waffen etwas erreicht hätten oder dass sie durch den Verzicht auf Waffen unterlegen wären, wenn sie ihr Schicksal in Gottes Hand gaben. Verharrten sie auf dem Platz, wo sie standen, dann siegten sie, wenn der Richter es zuließ, wagten sie aber den Kampf, dann bedeutete dies jedesmal ihre Niederlage. So war es auch damals, als der Babylonierkönig diese Stadt belagerte. Unser König Sedekias handelte damals entgegen den Weissagungen des Jeremias und ließ sich auf den Kampf ein; er selbst geriet dabei in Gefangenschaft und wurde Zeuge, wie die Stadt mit dem Tempel zerstört ward. Doch wie viel besonnener als eure Führer handelte jener König, wie viel maßvoller verhielt sich sein Volk als ihr! Als Jeremias verkündete, das Volk sündige wider Gott und verfeinde sich mit ihm, und es werde in Gefangenschaft ziehen müssen, wenn es die Stadt nicht übergebe, da tat weder der König noch das Volk dem Jeremias etwas zuleide. Und was tut ihr? Ich schweige über das, was sich innerhalb eurer Mauern abspielt, denn es fehlt mir an Worten, eure Sünden wider das Gesetz ausreichend darzustellen; ihr beschimpft mich, ihr richtet eure Geschosse auf mich, während ich euch einen Weg weisen will zu eurem Heil; ihr schäumt vor Wut, wenn man euch eure Verfehlungen vorhält, und könnt es nicht hören, wenn man das in Worte fasst, was ihr euch Tag für Tag zuschulden kommen lasst. Oder damals, als Antiochos Epiphanes wider Gott aufstand und die Stadt belagerte, ergriffen unsere Vorväter die Waffen gegen ihn; doch sie fielen in der Schlacht, der Feind plünderte die Stadt, und der Tempel war drei Jahre und sechs Monate unbenutzt.
Wozu soll ich noch mehr erzählen? Die Frage ist doch, wer denn die Römer gegen unser Volk ins Feld geführt hat! War es nicht etwa die Gottlosigkeit der Bewohner? Wann begann denn unsere Knechtschaft? War es nicht damals, als unsere Vorfahren gegeneinander rebellierten, als der Wahnsinn eines Aristobulos und Hyrkanos und deren Hader den Pompeius gegen die Stadt führte und als Gott den Römern jenes Volk zu Knechten machte, das die Freiheit nicht mehr verdiente? Drei Monate dauerte die Belagerung, dann mussten die Eingeschlossenen kapitulieren, obgleich sie sich nicht in solchem Maße wie ihr gegen das Heiligtum und gegen das Gesetz vergangen hatten und für den Krieg weitaus besser gerüstet waren. Wissen wir denn nicht, wie Antigonos, des Aristobulos Sohn, ums Leben kam, unter wessen Herrschaft Gott gegen das pflichtvergessene Volk aufs neue den Fall der Stadt verhängte? Und Herodes, der Sohn des Antipater, war es, der den Sossius, Sossius aber, der das Römerheer ins Land brachte. Die Folge war, dass die Juden umzingelt und sechs Monate belagert wurden, bis sie ihre Sünden durch ihre Niederlage büßten und ihre Feinde die Stadt einäscherten. So waren denn niemals für unser Volk die Waffen bestimmt, sondern jeglichem Krieg folgte die Knechtschaft.
Ich glaube, die Hüter des heiligen Ortes haben die Pflicht, alles dem Urteil Gottes zu überlassen und jedesmal, wenn sie selbst mit einer Bitte vor den Richter da oben treten, auf die Betätigung menschlicher Kraft zu verzichten. Was habt ihr denn bis jetzt getan, worauf der Segen des Gesetzgebers gelegen hätte? Oder was habt ihr nicht getan, worauf nicht sein Fluch lag? Wieviel gottloser seid ihr doch als jene, die einst so rasch die Beute des Feindes wurden? Die geheimen Sünden, ich meine Diebstahl, Heimtücke und Ehebruch habt ihr wohl auch nicht verachtet, aber ihr wetteifert förmlich in Raub und Mord, ja ihr betätigt euch als Bahnbrecher einer neuartigen Verworfenheit! Und das alles spielt sich im Heiligtum ab, und es waren die Hände unserer eigenen Stammesangehörigen, die den heiligen Platz besudelten, dem sogar die Römer aus der Ferne ihre Verehrung erwiesen, obgleich sie damit wider zahlreiche Bräuche ihres Volkes verstießen, um euer Gesetz zu achten. Und da habt ihr noch die Stirn, von Gott tatsächlich die Rettung zu erhoffen, gegen den ihr so gesündigt? Ja freilich, ihr seid wirklich gerechte Beter und mit `reinen Händen' fleht ihr zu euerem Helfer! Doch mit ebensolchen Händen hat wohl seinerzeit auch unser König um Beistand gegen die Assyrer gefleht, als Gott jene gewaltige Streitmacht in einer einzigen Nacht zu Fall brachte. Haben jedoch die Römer genau so sündhaft gehandelt wie die Assyrer, dass ihr eine gleiche Rache Gottes erwarten dürft? Ließ sich nicht der Assyrer damals Geld geben von unserem König und versprach er nicht, dafür unsere Stadt zu verschonen, worauf er dann den Eid brach und den Tempel in Schutt und Asche legte? Nein, alles, was die Römer verlangen, ist der übliche Tribut, den schon unsere Vorväter an ihre Väter jederzeit entrichteten; und wenn ihr ihn bezahlt, dann verwüsten sie weder die Stadt, noch berühren sie unseren Tempel, sondern sie schenken euch auch noch alles andere, worum es geht, nämlich die Freiheit für unsere Familien und das ungeschmälerte Recht auf eure Habe und den Schutz für die heiligen Gesetze. Doch kein Zweifel es wäre Wahnsinn, von Gott zu erwarten, dass er den Gerechten genauso begegnet, wie er sich den Ungerechten gab, und seine Rache tritt ja in dem Augenblick ein, da es nötig ist. So hatte er die Assyrer schon in der ersten Nacht, als sie die Stadt eingeschlossen hatten zu Fall gebracht. Wäre also unser Volk nach Gottes Urteil auch in unserer Generation der Freiheit würdig, oder hätten die Römer Gottes Rache auf sich gezogen, dann hätte Gott wohl gleich zugeschlagen und so wie bei den Assyrern, also schon damals, als Pompeius die Hand gegen uns erhob, oder als Sossius ihm folgte oder auch damals, als Vespasian Galiläa zur Wüste machte, spätestens aber, als Titus an die Stadt heranrückte. Aber weder Pompeius Magnus noch Sossius geschah ein Leid, mit Gewalt konnten sie sich sogar der Stadt bemächtigen, ja Vespasian wurde sogar Kaiser unmittelbar, nachdem er uns besiegt hatte, und für Titus vollends sprudeln jene Quellen noch reicher, die euch zuvor das Nass verweigerten. Ihr wisst ja, wie damals, ehe er kam, der Siloah und alle Quellen vor der Stadt austrockneten, so dass man das Wasser in Gefäßen kaufen musste. Nunmehr aber spenden sie euren Feinden eine solche Fülle, dass nicht nur sie selbst und ihre Tiere reichlich davon haben, sondern dass sie auch noch die Gärten damit bewässern können. Schon früher einmal, als die Stadt eingenommen wurde, geschah dieses Zeichen, nämlich seinerzeit, als der genannte König von Babylon mit dem Heer anrückte und Stadt und Tempel einäscherte, obgleich nach meiner Überzeugung damals niemand eine solche Sündenlast auf sich geladen hatte wie ihr. So glaube ich denn mit aller Entschiedenheit, dass Gott das Heiligtum verlassen hat, dass er sich zu jenen schlug, gegen die ihr kämpft. Bedenkt doch, jeder gute Mensch meidet das Haus eines Sünders und verachtet seine Bewohner; glaubt ihr denn, dass Gott, der jedes Geheimnis kennt und um jeden verborgenen Gedanken weiß, noch in einem solch verruchten Hause wohnen bleibt? Was ist denn bei euch noch geheim, was liegt noch verborgen? Wovon hätten denn eure Feinde nicht schon seit langem Kunde? Ihr bildet euch ja noch etwas ein auf eure Verstöße wider das Gesetz, und ihr frevelt ja um die Wette, denn ihr kommt euch noch herrlich vor ob eurer Verruchtheit, so als handeltet ihr edelmütig!
Gleichwohl aber gibt es für euch noch einen Weg der Rettung, wenn ihr es wollt, und die Gottheit schenkt euch wieder gern ihre Huld, wenn ihr euren Frevel bekennt und bereut. Ihr Männer mit Herzen aus Eisen, werft eure Waffenausrüstung weg, erbarmt euch der Vaterstadt, die schon verwüstet am Boden liegt, blickt nach hinten und schaut, was für eine Herrlichkeit ihr dahingebt, welches Kleinod von einer Stadt, welch prächtigen Tempel, welchen Reichtum an Weihegaben, die zahlreiche Völker angehäuft haben! Wer wollte all das dem Feuer überantworten, wer will, dass es nicht mehr bestehe? Was sollte denn überhaupt noch der Existenz würdig sein, ihr Hartherzigen, die ihr gefühlloser seid als Stein? Wenn ihr all das schon nicht mit sehenden Augen betrachten könnt, dann habt doch wenigstens Mitleid mit euren Angehörigen, und jeder werfe einen Blick auf seine Kinder, auf sein Weib, auf seine Eltern, die schon in Kürze dem Hunger oder dem Krieg zum Opfer fallen werden! Ja, auch meine Mutter und meine Gattin sind in Gefahr und auch noch ein ruhmreiches Geschlecht von altem Glanz, und es wird wohl mancher glauben, mein Rat entspringe der Rücksicht auf sie. Nein, tötet sie, nehmt mein Blut dafür, dass ihr gerettet werdet; auch ich bin bereit zu sterben, wenn ihr dann zur Besinnung kommt!«

10. Kapitel

1) Obgleich Iosephus die Tränen kamen, als er solches den Rebellen zurief, verharrten diese in ihrem Starrsinn; denn sie sahen auch in einer Änderung ihrer Haltung keine Garantie für ihre Sicherheit. Das Volk jedoch ließ sich solchermaßen dazu bewegen, zu den Römern überzulaufen. Teils verkauften die Leute ihre Besitzungen um einen ganz geringen Preis, teils ihre bedeutenderen Wertsachen, und die erlösten Goldmünzen verschluckten sie, um diese vor etwaigen Räubern zu verbergen. Hatten sie sich dann zu den Römern durchgeschlagen und das Gold wieder zutage gefördert, dann waren sie doch in der Lage, das Lebensnotwendige dafür zu kaufen. Titus ließ nämlich viele aufs Land gehen, wohin ein jeder gerade wollte; und schon allein deswegen liefen die Juden in immer größerer Menge über, da sie sich so vor der Not in der Stadt in Sicherheit bringen konnten, ohne den Römern Knechtsdienst zu verrichten. Aber Iohannes und Simon samt ihrem Annang wendeten im ganzen Umkreis der Stadt den Überläufern ihr Augemnerk in noch hönerem Grade zu als einem etwaigen Heranrücken der Römer, und wer nur in den geringsten Verdacht geriet, wurde auf der Stelle getötet.
2) Die reichen Leute waren übrigens nicht minder verloren, wenn sie blieben; denn unter der Beschuldigung, ein Überläufer zu sein, konnte ein jeder allein schon wegen seines Reichtums zu Tode gebracht werden. Der Hunger ließ den Wahnsinn der Rebellen noch wachsen, und von einem Tag zum anderen wurde diese dreifache Not noch schlimmer. Da Getreide überhaupt nicht mehr offen angeboten wurde, stürzten sie plötzlich in die Behausungen, um diese danach zu durchwühlen. Stieß man auf Essbares, dann wurden die Bewohner gequält, weil sie zuvor ihren Besitz abgestritten hatten; fand man aber nichts, dann wurden sie misshandelt, weil sie diesen allzu gut verborgen hätten. Dabei konnte man doch den Ärmsten schon äußerlich anmerken, ob sie etwas hatten oder nicht. Wer noch irgendwie über Kräfte verfügte, besaß offensichtlich noch etwas zu essen; jene aber, die körperlich schon am Ende waren, gingen unbehelligt aus, weil es ja Wahnwitz gewesen wäre, Menschen zu töten, die ohnehin bald an Nahrungsmangel zugrunde gingen. Viele gaben ihre ganze Habe hin um ein Weizenmaß; das waren dann aber die Reicheren, denn die Ärmeren konnten allenfalls nur noch ein Maß Gerste einhandeln. Dann schlossen sie sich zuinnerst im Hause ein, und es gab welche, die vor Hunger die Körner roh verschlangen; andere verarbeiteten sie wenigstens noch zu Brot, wie es gerade die Not oder die Angst noch nahelegte. Nirgends mehr wurde das Mahl am Tische eingenommen, man holte die Speisen halbfertig vom Feuer und würgte sie hinunter.
3) Es war ein erbärmliches Essen, ja ein Anblick zum Weinen wie sich die Robusteren zu helfen wussten, während die Schwächeren in Jammern ausbrachen. Es gibt kein Gefühl, das den Hunger an Intensität übertrifft; und kein Gefühl bringt der Hunger so absolut zum Schweigen wie das Gefühl für das Schickliche. Was sonst einem noch ans Herz rührt, das lässt ihn gleichgültig, sobald er hungert. Es gab Frauen, die den Männern, Kinder, die ihren Eltern, und - was am furchtbarsten ist - Mütter, die ihren Kindern den Bissen aus dem Munde raubten...


Quellenliste