Philipp Jenninger

Gedenkrede

Wortlautauszüge der Rede Jenningers, November 1988
In der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Jenninger zum Gedenken an die Judenpogrome hieß es unter anderem:

"Meine Damen und Herren, die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch wir Deutschen erinnern uns an das, was sich vor einem halben Jahrhundert in unserem Land zutrug, und es ist gut, dass wir dies in beiden Staaten auf deutschem Boden tun, denn unsere Geschichte lässt sich nicht aufspalten in Gutes und Böses, und die Verantwortung für das Vergangene kann nicht verteilt werden nach den geographischen Willkürlichkeiten der Nachkriegsordnung...
Für das Schicksal der deutschen und europäischen Juden noch verhängnisvoller als die Untaten und Verbrechen Hitlers waren vielleicht seine Erfolge. Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt.
Wiedereingliederung der Saar, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, massive Aufrüstung. Abschluss des deutschbritischen Flottenabkommens, Besetzung des Rheinlandes, Olympische Sommerspiele in Berlin, Anschluss Österreichs und Großdeutsches Reich und schließlich, nur wenige Wochen vor den Novemberpogromen, Münchner Abkommen, Zerstückelung der Tschechoslowakei der Versailler Vertrag war wirklich nur noch ein Fetzen Papier und das Deutsche Reich mit einem Mal die Hegernonialmacht des alten Kontinents.
Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine Abfolge außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, musste dies alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: Aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?
Sicher, in freien Wahlen hätte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht Aber wer wollte bezweifeln, dass 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? Gewiss, einige "querulantische Nörgler" (Haffner) wollten keine Ruhe geben und wurden von SD und Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen und zwar aus allen Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen.
Und noch eines darf nicht übersehen werden: Alle die staunenerregenden Erfolge Hitlers waren insgesamt und jeder für sich eine nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System. Und Weimar war ja nicht nur gleichbedeutend mit außenpolitischer Schwäche, mit Parteiengezänk und Regierungswechseln, mit wirtschaftlichem Elend, mit Chaos, Straßenschlachten und politischer Unordnung im weitesten Sinne, sondern Weimar war ja auch ein Synonym für Demokratie und Parlamentarismus, für Gewaltenteilung und Bürgerrechte, für Presse und Versammlungsfreiheit und schließlich auch für ein Höchstmaß jüdischer Emanzipation und Assimilation.
Das heißt, Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das parlamentarisch verfasste, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar selbst Da stellte sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem persönlich doch besser als zuvor. Und das Reich war doch unzweifelbar wieder groß, ja größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht eben erst die Führer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge verholfen?
Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?...
Hitlers sogenannter 'Weltanschauung' fehlte jeder originäre Gedanke. Alles war schon vor ihm da: Der zum biologistischen Rassismus gesteigerte Judenhass ebenso wie der Affekt gegen die Moderne und die Utopie einer ursprünglichen agrarischen Gesellschaft, die zu ihrer Verwirklichung des 'Lebensraums' im Osten bedürfte. Sein eigener Beitrag bestand außer in der weiteren Vergröberung, Vereinfachung und Brutalisierung des von anderen übernommenen Weltbildes im wesentlichen in der fanatischen Besessenheit und massenpsychologischen Begabung, mit der er sich selbst zum wichtigsten Propagandisten und Programmatiker des Nationalsozialismus emporhob...
Die Abkehr von Hitler erfolgte beinahe blitzartig: Die zwölf Jahre des 'Tausendjährigen Reiches' erschienen bald wie ein Spuk. Darin äußerte sich gewiss nicht nur die vollständige Desillusionierung hinsichtlich der Methoden und Ziele des Nationalsozialismus, sondern auch die Abwehr von Trauer und Schuld, der Widerwille gegen eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Die rasche Identifizierung mit den westlichen Siegern förderte die Überzeugung, letzten Endes - ebenso wie andere Völker - von den NS-Herrschern missbraucht, besetzt und schließlich befreit worden zu sein. Auch dies gehörte zu den Grundlagen, auf denen eine ungeheure Wiederaufbauleistung das von der Welt bestaunte deutsche Wirtschaftswunder hervorbrachte.
Man kann solche Verdrängungsprozesse heute mit einleuchtenden Gründen kritisieren und wir tun gut daran, diese Kritik ernsthaft und vorbehaltlos zu bedenken. Moralische Überbeblichkeit führt dabei allerdings nicht weiter. Vielleicht konnte das deutsche Volk in der heillosen Lage des Jahres 1945 gar nicht anders reagieren, und vielleicht überfordern wir uns rückblickend selbst in unseren Ansprüchen an die damalige Zeit.
Heute stellen sich für uns alle Fragen im vollen Wissen um Auschwitz. 1933 konnte sich kein Mensch ausmalen, was ab 1941 Realität wurde..."


Quellenliste