Thukydides
1,20-22
20) So also fand ich die Vorzeit, in mühsamer Untersuchung, da nicht jedem ersten besten Zeugnis zu trauen war. Denn die Menschen nehmen alle Nachrichten von Früherem, auch was im eignen Lande geschah, gleich ungeprüft voneinander an. So meinen zum Beispiel die meisten Athener, Hipparchos sei von Harmodios und Aristogeiton als Tyrann erschlagen worden, und wissen nicht, dass Hippias als der älteste der Peisistratos-Söhne herrschte und Hipparchos und Thessalos seine Brüder waren, und dass Harmodios und Aristogeiton an jenem Tage argwöhnisch, einer ihrer Mitwisser möchte sie im Augenblick dem Hippias verraten haben, diesen sein ließen, weil er gewarnt war, und dafür, um doch vor der Verhaftung noch eine Tat zu vollbringen, den Hipparchos suchten, der gerade am sogenannten Leokoreion den Panathenäenzug ordnete, und diesen erschlugen. Und so gibt es noch manches, auch Heutiges, nicht durch die Zeit Verschollenes, was auch die anderen Hellenen irrig meinen, wie etwa, dass die Lakedaimonierkönige nicht jeder einen Stimmstein dazulegten, sondern zwei, und dass der Pitanatische Trupp ihnen gehöre - den es gar nie gegeben hat. So unbemüht sind die meisten in der Erforschung der Wahrheit und bleiben lieber bei den herkömmlichen Meinungen.
21) Wer sich aber nach den genannten Zeichen die Dinge doch etwa so vorstellt, wie ich sie geschildert habe, wird nicht fehlgehn, unverführt von den Dichtern, die sie in hymnischer Oberhöhung geschmückt haben, noch von den Geschichtenschreibern, die alles bieten, was die Hörlust lockt, nur keine Wahrheit - meistenteils unglaubhafte, durch die Zeit sagenartig eingewurzelte Unbeweisbarkeiten; vielmehr wird man sie nach den augenfälligsten Anzeichen für ihr Altertum zur Genüge aufgehellt finden. Und obgleich die Menschen den Krieg, den sie gerade führen, immer für den größten halten, um nach seinem Ende wieder das Frühere höher zu bewundern, so wird doch dieser Krieg sich dem, der auf das wirklich Geschehene achtet, als das größte aller bisherigen Ereignisse erweisen.
22) Was nun in Reden hüben und drüben vorgebracht wurde, während sie sich zum Kriege anschickten, und als sie schon drin waren, davon die wörtliche Genauigkeit wiederzugeben war schwierig sowohl für mich, wo ich selber zuhörte, wie auch für meine Gewährsleute von anderwärts; nur wie meiner Meinung nach ein jeder in seiner Lage etwa sprechen musste, so stehn die Reden da, in möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten. Was aber tatsächlich geschah in dem Kriege, erlaubte ich mir nicht nach Auskünften des ersten besten aufzuschreiben, auch nicht 'nach meinem Dafürhalten', sondern bin Selbsterlebtem und Nachrichten von andern mit aller erreichbaren Genauigkeit bis ins einzelne nachgegangen. Mühsam war diese Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst oder Gedächtnis. Zum Zuhören wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergötzlich scheinen; wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag sie so für nützlich halten, und das soll mir genug sein: Zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören ist sie verfasst.
Quellenliste