Das Telefon klingelt wie angekündigt zweimal. Meine Mutter hatte Angst, ich könne verschlafen. Dabei bin ich geistig hellwach - nur die Motorik will noch nicht so richtig.
Mit einer Viereinhalb-Zimmer-Wohnung hat man etwas, wo man sich die Beine vertreten kann. Ich hetze von Raum zu Raum, weil ich überall etwas zu erledigen habe. Milch kochen, Wetter prüfen, Koffer schließen...
Ach was, den Magneten mit der Schnur lass ich doch besser hier. Könnte peinlich werden, wenn ich in irgendeiner Kirche in einem Spendenbecken angele, während mir drei Dozenten und ein Schwarm Studis zwischen den Beinen umherrennen.
Schnell noch etwas Brause in meine Trinkflasche umgießen. Den Rest gut zudrehen, damit ich nach meiner Rückkehr in gut zwei Wochen noch etwas von der Kohlensäure merke.
Was zieh ich denn nun an? 18 Grad, bedeckt. Steigt sicher noch. Ist ja erst sechs. Also kurze Hosen und ebensolches Hemd. Und natürlich Sandalen. Ich hab nämlich sonst keine Schuhe in wetterfestem und gleichzeitig vorzeigbarem Zustand. Die Leinenschuhe kann ich unmöglich mitnehmen, wie die nach Autoreifen stinken! Na, wenigstens kosteten sie nur fünf Mark...
Italien sei das Land der Schuhe, sagt meine Mutter.
Italien sei ein billiges Land, sagt Herr Dahlheim.
Da wird sich doch etwas finden lassen!
6:09
Die Umhängetasche in den Flur und dann frühstücken. Eigentlich wollte ich ja um Viertel los, aber ich hab ja großzügig gepl...
He! Die Tasche fühlt sich ja an wie ein Wasserbett! Oh nein, alles schwimmt! Die Kohlensäure hat den Schraubverschluss gesprengt!
Dann eben ohne Buch und ohne Walkman. Alles raus, abgeschüttelt und auf dem versauten Kühlschrank deponiert. Mama wollte nachher sowieso herkommen und abschließen, damit ich keine Schlüssel mitnehmen muss. Geschirrhandtuch rein in die Tasche, raus aus der Tasche - und säuberlich wieder aufgehängt. Das wird da drinnen nachher schön kleben!
6:21
So, jetzt aber Frühstück! Zu spät, zu spät! Ich muss an ein weißes Kaninchen mit Herzwappen denken.
6:28
Tür zugeknallt und weg.
Nach vorsichtigen Schätzungen bin ich genauso schnell wie ohne Koffer.
6:42
In der U-Bahn steigt eine Frau mit Koffer zu. Noch eine, die einen Grund hat, um diese Zeit unterwegs zu sein. Aber was treiben all die anderen hier?
7:01
Ernst-Reuther-Platz. Mal sehen, ob ich den Parkplatz der Hypo-Bank an der richtigen Stelle vermute...
Dahlheim meinte zwar, er fährt pünktlich um 7, auch wenn jemand fehlt, aber das glaubt er doch selbst nicht!
Mir ist vielleicht heiß!
Ah, da ganz hinten! Die grünen TU-Busse. Jetzt könnte ich mal langsam überfahren werden, sonst muss ich doch noch mit.
Michaela, mit der ich das Referat halte, sehe ich als erste. Was lacht die denn so? Schön alberne Frohnatur! Ich lache zurück.
Gleich darauf erfahre ich es: Ich habe am wenigsten Gepäck - und nach eigener Aussage hat sie am meisten.
Lässt mich völlig kalt. Na ja, ehrlich gesagt, mit ersterem habe ich zwar gerechnet, aber ein wenig stolz macht es mich schon.
In dem allgemeinen Fieber nehme ich außer Michaela kaum jemanden bewusst wahr.
Es wird kälter und beginnt zu regnen. »Ich überlege, ob ich mir die lange Hose anziehe«, denke ich laut.
»Ja, mach das mal«, erwidert Michaela lachend.
Hm. Gleich zu Beginn vor allen Leuten? Im Prinzip hätte ich keine Probleme damit, aber es könnte jemanden verschrecken. Heben wir uns das für später auf.
Ob ich ins TEL rüberrenne? Nein, wer weiß, wann die hier loswollen. (Darauf, dass am frühen Samstag geschlossen sein könnte, komme ich bemerkenswerterweise gar nicht.) Dort, hinter die Büsche vom Vorgarten! Lange Hose raus aus dem Koffer - saus - simsalabim - saus - kurze Hose rein in den Koffer.
Da fällt mir plötzlich etwas von allerhöchster Wichtigkeit ein: »Ist das ein Nichtraucherbus?«
»Keine Ahnung«, antwortet Michaela.
Empörend! Scheint ihr gar nicht so wichtig zu sein!
Uwe der Fahrer - beides weiß ich noch nicht von ihm - erklärt: »Ich bin Raucher.«
Tasche über die Schultern, Koffer in die Hand, und weg bin ich. Die Kofferraumtür war als Regenschutz ohnehin zu klein für uns alle.
Da! Ein halbleerer Bus. Grauslich gelb, aber ich will ja drinnen sitzen und nicht draußen starren.
Drei Mädels auf der Rückbank und ein weiteres in der Mitte der Mittelreihe. Und letzteres sympathisches Gesicht kenne ich auch schon, seit ich Geschichte studiere - allerdings nicht mit Namen.
»Ist das ein Nichtraucherbus?«
»JA!« erwidert der Damenchor lauthals-enthousiastisch.
»Und ist hier noch Platz?«
»Jo, ich weiß nich«, lächelt die Mittige unsicher zurück.
Also IST frei! »Willst du rücken, oder mich durchlassen?«
Sie rückt.
Die restlichen drei Plätze füllen sich männlich; na schön.
Iiieh, der da draußen raucht ja! Na, notfalls habe ich die vier Mädels im Rücken...
7:26
Der Bus fährt an. Die Scheiben beschlagen. Wassermassen ergießen sich auf das morgendliche Berlin herab. Bei den anderen scheint das die Stimmung zu senken. »Ist doch ein ideales Reisewetter. Oder wollt ihr lieber gebraten werden?« Keine Ahnung, ob mir irgend jemand zuhört.
Ein PKW von für mich schwer zu identifizierender, vermutlich aber silberner Farbe überholt uns auf eine irgendwie vertrauliche Weise.
»Zu wem gehört DER denn?« fragt der Fahrer.
Die große Blonde von der Mitte der Hinterbank jammert peinlich berührt auf. Es sind ihre Eltern, die sie zum Startplatz brachten. Das arme Ding!
8:10
Man macht sich bekannt. Zweimal Kerstin. Und zweimal Christian. Na klasse! Hab ja erst ungefähr sechs davon in meiner Telefonliste! Stefan und Stefanie. Soso. Eine Petra und ich.
Im Laufe des Vormittags verbreite ich einige trockene Bemerkungen über die Reise, die Menschheit und was mich sonst noch ärgert. Das hebt die Stimmung - seltsamerweise nicht nur bei mir. Die Leute sind geradezu begeistert von meiner Nörgelei! Wer hätte das gedacht! Besonders Raucher-Christian neben mir ist ein dankbares Publikum. Das heizt mich natürlich weiter an.
11:46
Am ersten Treffpunkt kommt der Bus als Etappensieger an. Wir kraxeln vier oder fünf Treppen hinauf in ein Café, das quer über der Autobahn hängt. Mir sehr recht, dass keiner den Fahrstuhl benutzen will.
Die anderen bestellen etwas zu trinken. Ohne einen Blick auf die Preise zu werfen, ahne ich die Gefahr und verzichte. Hab ja noch Johannisbeersaft.
Es dauert fast eine halbe Stunde, bis der zweite Bus erscheint. Ab und zu dudelt ein Spielautomat eine lustige Melodie, die mich zum rhythmischen Mithampeln veranlasst, was besonders Fahrer-Christian zu belustigen scheint. Aber so etwas bestärkt mich ja nur in meinem Treiben.
Na, das war dann wohl die Mittagspause. Macht nichts! Wir haben ja alle noch genügend Proviant. Wenn ich an die Schokoladenkekse denke, die nach den Äpfeln und Pfirsichen schmecken, mit denen sie im fantaverklebten Frischhaltebeutel stecken...
13:28
Irgendeine bayerische Tankstelle mit Raststätte - oder umgekehrt. Was wollen wir hier? Das letzte Tanken liegt doch höchstens eine Stunde zurück. Da steht ja der Hunecke-Bus! Und da die anderen beiden.
Stefan sucht einen geeigneten Parkplatz, und schließlich kapiere auch ich endlich, was das besondere Flair dieses Anziehungspunktes ausmacht: Hier steigt Herr Miller zu.
Soweit ich von meinem Platz aus sehen kann, ist nichts Ungewöhnliches für einen Bayern seines Alters an ihm. Außer vielleicht dem Inhalt der drei anderen Busse, der ihn umringt.
Die Mädels wollen gleich hin, ihm die Hand drücken. Stefan meint sinngemäß, das sei irgendwie zu unterwürfig, Fahrer-Christian enthält sich wie bisher, und dem anderen Christian gilt das Hauptinteresse wohl wieder nur seinen Stinkstäbchen.
Also, ich entferne mich jedenfalls nicht weiter vom Bus, als ich Platz für ein paar Kniebeuge brauche. Miller hat ja genug Gesellschaft, da kann er sicher gut auf jemanden verzichten, den er nicht kennt und der ihn nicht kennt. Keine Ahnung, ob hier irgend jemand meiner Stellungnahme lauscht...
Die Mädels eilen jedenfalls erregt davon, als gälte es, das Autogramm eines Popidols für Halbwüchsige zu ergattern.
14:46
Wir quälen uns die kleinen Straßen eines bayerischen Städtchens entlang. Wo ist denn auf einmal die Autobahn? Offenbar steuern wir unser erstes Ausflugsziel an: Etwas, das die anderen als 'Eremitage' bezeichnen.
Hm. Soso! Was mag das sein?
Übersetzt hieße es wohl soviel wie Einsiedelei.
Hm. Soso! ...und bin so klug als wie zuvor...
14:59
Wir stehen auf einem Parkplatz. Ich erfahre, dass das eben Bayreuth war. Noch sehe ich nichts, das jemandem besichtigungswürdig erscheinen könnte. Sind wir hier richtig? Hoffentlich finden uns die anderen Busse.