2.9.

8:48

Ob Italien das Land der Schuhe ist, kann ich schlecht beurteilen. Bekanntlich fand ich bislang keine Zeit, dies zu prüfen. Und ob es ein billiges Land ist, hängt von der Preisklassenrepräsentativität der hiesigen Pizzen ab. Die sind am Ku'damm jedenfalls etwas günstiger. Was ich aber langsam aus Erfahrung sagen kann: Italien ist ein Land der Baustellen!
Als weiteres zu den bisherigen Beispielen wäre dafür die Benediktinerabtei Monte Oliveto aufzuzählen: Der Rundgang ist umsäumt von einem erzählenden Bilderzyklus - einem mittelalterlichen Wandcomic. Allerdings befindet sich mehr als ein Viertel hinter Planen und Bauschutt versteckt. Das sollte auch die Besichtigungsdauer um ein Viertel kürzen.
Jedenfalls wird hier das Leben irgendsoeines Heiligen gezeigt, wie man es sich halt in den dunklen Zeiten vorstellte. Am besten gefällt mir die Darstellung einer Soldatin auf einem der Bilder. Moment mal! SoldatIN!?

12:11

Nachdem zu jedem Bild ja ach so viel zu sagen war, staut es sich mächtig vor den Toiletten. Doch wenn es mich auch gerade sehr zum Drängeln drängt, gehört es auch gewiss nicht zu meinen hervorstechendsten Talenten; ich komme als letzter an die Reihe.
Als ich wieder an die frische Luft zurückkehre, ist weit und breit niemand mehr zu sehen. Folgerichtig begebe ich mich zum Parkplatz - wo sich konsequenterweise auch keiner aufhält.
Na schön, klappere ich eben das gesamte hügelige und einigermaßen bewaldete Gelände ab! Wie ich unsere Professoren kenne, brauche ich die Wege nicht zu verlassen.
Gemächlich spaziere ich ein köstliches Frühstücksbrötchen verzehrend umher, bis ich am Wegesrande die Bande finde. Stumm in ein Referat vertieft.

14:27

Nachdem andernorts Petra in Pienza am Brunnen vor dem Dome das ihrige abgehalten hat, gibt es eine Hochzeit zum Besten. Die Festgemeinde sammelt sich unter Blasmusik auf dem Platz und zieht dann in den Dom ein. Erinnert mich in seiner Öffentlichkeit sehr an römische Feste. Wir folgen teilweise hinein, wollen jedoch nicht auf Dauer stören und ziehen uns einstweilen zurück.
Wir warten auf den sonnigen Stadtmauern neben dem Dom. Michaela und ich setzen uns auf eine krumme und schiefe Bank, die bei jeder Bewegung vor sich hin quietscht. Es bedarf zweier Aufforderungen Michaelas, mich von meinen Bewegungen abzuhalten. Wenn ich nicht ausgelastet bin, neige ich zu nerviger Narretei.
Irgendwie hat Michaela was dagegen, als Fahrer-Christian uns hier fotografiert. »Schieß doch zurück!« rate ich. »Schnapp ihn dir!« Sie knippst wie empfohlen. Anschließend stellen die beiden fest, dass sie beinahe dasselbe Kameramodell besitzen.
Mich beschäftigt derweil die nicht klärbare Frage, warum sich hier manche so ungern verewigen lassen. Mit der Suche nach Unsterblichkeit halte ich es wie die alten Griechen: Man lebt, solange sich noch jemand an einen erinnert.

15:04

Ein großer Riss zieht sich an der rechten Domwand herab und quer über den Fußboden. Dahlheim spricht von der Gefahr, die Apsis könne irgendwann wegbrechen, so nahe, wie das Gebäude am Abgrund steht. Vermutlich bereitet es ihm Spaß, die Damenwelt zu beunruhigen, was ich bestens nachvollziehen kann. Im kritischen Bereich hüpfe ich ein paarmal halbwegs unauffällig. Falls der halbe Dom jemals den Berg hinunterschlittert, wäre ich gerne dabei.

16:42

An San Antimo interessiert mich weniger die Abtei selbst, als der reichliche Auslauf, der sich in dem weitläufigen Areal bietet. Nach anfänglichem Zögern, renne ich ungezügelt über das unebene Areal zur Abtei und wieder zurück zu den Bussen, ehe noch die ersten anderen die Straße verlassen haben. Das macht Spaß! Jetzt will ich mich richtig austoben!
Neben der Straße steigt das Gelände auf der der Abtei abgewandten Seite fast mauerartig zwei Meter in die Höhe. In einem Anflug von Wahnsinn, Selbstüberschätzung und dem unbeachteten Aufblitzen der Erkenntnis, dies ja doch nicht zu schaffen, renne ich darauf zu und daran empor, nur um sogleich halb rücklings und halsüberkopf auf das harte Pflaster der Tatsache abzurutschen. In einer den Sturz fortsetzenden Bewegung wandle ich meine waagerechte Position wieder in eine senkrechte.
Unter den verständnislosen Blicken der Umstehenden stelle ich begeistert eine Schadensselbstanalyse zusammen: Kleinere Kratzer an Händen und Unterarmen, größere Schüfungen am rechten Knie und Schienbein. Klasse! Endlich mal richtig was los! Blöd nur die Schramme an der linken Sandale, die im Gegensatz zu allem Übrigen nicht heilen wird.
Aber genug habe ich deswegen noch lange nicht. Nachdem ich das praktische Handwaschbecken am Eingang der Abtei benutzt habe, entschließe ich mich, nicht auf die Gruppe zu warten und lieber das Umland allein abzuwandern.

16:57

Schon bald fällt mir ein Weinfeld auf einem nahegelegenen Hügel auf. Habe ich Appetit? Ja! Schaut jemand? Nö. Also erklimme ich.

17:22

Nach erfolgter Sättigung und vorsätzlichen Umwegen, will ich mal nicht so sein und geselle mich wieder zu der Gruppe. Diese lauscht soeben gemütlich im Grase bei einer besonders stattlichen Zypresse hinter der Abtei Kathrins Referat.
Nach einer Weile setzt sich ein zwielichtiger Kerl mit einem großen, selten hässlichen Hund zu uns. Doch das äußerliche Ungetüm, das sich direkt neben mir niederlegt, zeichnet sich durch allerhöchste Friedfertigkeit aus. Nicht wie diese nervösen Kleinzüchtungen, die unentwegt vor sich hin kläffen. Gespannt beobachte ich die Reaktionen der anderen: Auf männlicher Seite vor allem Belustigung, auf weiblicher ist man eher minder begeistert über den Gast. Zu gerne würde ich Dahlheims Gedanken hören, dem sichtlich spöttische Bemerkungen auf der Zunge liegen.
Mir jedenfalls wird das Tier sympathischer, je länger ich es betrachte. Wieder ein Referat, von dem ich nichts mitbekomme. Aber Kathrin würde es mir gewiss nachsehen, wüsste sie um meine lebensfrohe, selbstzufriedene Stimmung.

17:46

Bald darauf erfahre ich, die anderen waren noch gar nicht drinnen! Na, viel Spaß jedenfalls! Ich habe mir schon die Hände gereinigt, ich setze mich lieber hier an das knorrige Bäumchen und sonne mich.
Als mich Petra so beim Verlassen der Abtei entdeckt, ist ihr das Motiv von uns beiden gar nicht so ungleichen Freunden ein Foto wert. Als ich sie jedoch bemerke, zögert sie. Sie hat wohl Angst, ich sei so fotoscheu, wie gewisse Mitreisende. »Mach ruhig!« zerstreue ich ihre Bedenken. In Gedanken erteile ich nochmals jedem jederzeit Generalvollmacht, mich überall aufzunehmen. Und warum auch nicht?

Zum neunten Tag


Das Italienische Tagebuch
ist auch als E-Buch bei Tolino erschienen,
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© Oliver H. Herde
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