Sie verließ ihr Bett, zog sich den Morgenrock über und ging in die Küche. Während sie einen starken Kaffee trank, fielen die schweren Gedanken etwas von ihr ab. Es hatte auch seine Vorteile, wenn man nicht mehr gut hörte. Da die Leute sich bemühen mußten, etwas lauter zu ihr zu sprechen, sagten sie nur das, was wirklich wichtig war. Das empfand sie als wohltuend. Und die Regisseure sprachen sowieso laut, wenn sie aus dem dunklen Zuschauerraum ihre Anweisungen zur Bühne heraufriefen. Die verstand sie noch sehr gut. Bei den Kollegen auf der Bühne gewöhnte sie sich daran, auf die Bewegungen der Lippen zu achten, und auch aus der Mimik auf Worte zu schließen. Das ging ganz gut und wurde von Abend zu Abend besser. Nur wenn sie hinter den Kulissen stand und auf ihr Stichwort wartete, wurde sie manchmal ängstlich und fürchtete, ihren Auftritt zu versäumen, denn nicht immer konnte sie so stehen, dass sie das Geschehen auf der Bühne verfolgen konnte. Wenn sie hinter geschlossenen Türen warten mußte, um sie dann rasch zu öffnen und herauszugehen, überfiel sie manchmal eine Panikstimmung.
Eines Tages merkte sie, dass ein Feuerwehrmann, der hinter der Kulisse seinen Dienst tat, sie beobachtete, wie sie in der für Schwerhörige typischen Stellung hinter ihrer Tür stand, etwas vorgebeugt und die rechte Hand hinter dem Ohr, um den Schall besser auffangen zu können. Das war ihr peinlich. Sie nahm die Hand weg und richtete sich auf. Fast hätte sie dadurch ihren Auftritt verpaßt, wenn sie nicht bemerkt hätte, dass der Mann ihr aufgeregt ein Zeichen gab, dass sie hinaus mußte. Sie öffnete etwas verwirrt die Tür und ging hinaus auf die Bühne. Auf den Gesichtern ihrer Partner lag eine leichte Unruhe, die ihr zeigte, dass sie etwas zu spät kam. Aber sie konnte das mühelos mit einer kleinen Bewegung abfangen und nahm sich vor, nach dem Akt zu sagen, dass in letzter Sekunde etwas an ihrem Kostüm nicht in Ordnung gewesen wäre. Aber niemand kam darauf zurück.
Als sie am nächsten Abend wieder hinter der Tür stand, sah sie denselben Feuerwehrmann, der jetzt etwas näher stand und ihr zunickte. Sie lächelte und merkte, dass es ein dankbares Lächeln war. Da gab er ihr auch schon ein ganz deutliches Zeichen, mit der Hand. Sie trat sofort auf. Diesmal kam sie richtig heraus und war für den ganzen Abend mit einer Sicherheit erfüllt, die sie selbst überraschte.
Nach der Vorstellung ging sie noch kurz in die Kantine, um sich Zigaretten zu holen. Der Feuerwehrmann stand an der Theke, ein kleines Bier in der Hand. Sie ging zu ihm, gab ihm die Hand und bedankte sich. Er war etwas verlegen, sagte, dass er schon dreißig Jahre beim Theater wäre und sie oft gesehen hätte - von oben, denn da war er noch Beleuchter. Jetzt ginge das nicht mehr wegen des Kreislaufs. Seine Frau wäre schwerhörig. Dann schwieg er etwas verwirrt. Ein Bühnenarbeiter kam vorbei und grüßte ihn mit einem »N'Abend, Karl!« Seither nannte sie ihn bei sich Karl II.
Sie sprachen später nie mehr miteinander, als wüßten sie, dass Worte ihre Freundschaft nur gefährden könnten. Er stand aber jeden Abend irgendwo in ihrer Nähe, stets so, dass es keinem auffiel. Sie bemerkte, dass er alle ihre Auftritte kannte, auch in neuen Inszenierungen, und dass sie sich auf sein Zeichen - jetzt war es oft ein unauffälliges Kopfnicken - verlassen konnte. Einmal nur gab es eine kleine Panne.
Sie übersah an diesem Abend, dass ihr Freund mit einem Niesreiz zu kämpfen hatte. Um nicht herauszuplatzen, machte er in seiner Bedrängnis eine Kopfbewegung, die sie als ihr Zeichen nahm, obgleich sie das Gefühl hatte, dass es noch zu früh sein müßte. Sie trat auf und merkte an den verdutzten Gesichtern der anderen Schauspieler, dass sie wirklich viel zu früh war. Sie blieb vollkommen ruhig. Vor ihr auf dem Stuhl lag ein Staubtuch, das man vergessen hatte. Sie spielte ein Dienstmädchen und konnte es aufnehmen und wieder damit abgehen, als wenn sie es vorher vergessen hätte. Sie brabbelte dabei etwas vor sich hin und machte eine kleine Nummer daraus, die Gelächter hervorrief. Am nächsten Abend bat man sie vor der Vorstellung, diesen kleinen Noteinfall von jetzt ab zu wiederholen. Jedesmal gab es Gelächter, das sie und noch mehr ihren Freund tröstete, der ihr jetzt auch noch das Zeichen für diesen Auftritt gab. Das vertiefte ihre stumme Freundschaft noch mehr.
Sie trank ihren Kaffee aus und betrachtete die Tischdecke kritisch. Es waren große Flecke darauf. Sie wußte nicht mehr wovon. Es war eine blaue Decke aus einer dieser Kunstfasern, die man leicht waschen kann. ›In handwarmem Wasser nur leicht ausdrücken, nicht wringen und tropfnaß aufhängen! Gar nicht oder nur leicht Bügeln!‹ stand in der Gebrauchsanweisung, die sie aufgehoben hatte und nun nochmals genau durchlas. Man würde sehen, ob das stimmte. Etwas bügeln würde sie schon. Sie liebte glatte Decken. Sie nahm die Decke vom Tisch und ging hinüber in das winzige Badezimmer, in dem man sich kaum umdrehen konnte. Was sich die Architekten, die so etwas bauten, nur dabei gedacht hatten! Sie gab etwas Waschmittel in das ebenfalls zu kleine Becken und drückte die Decke leicht aus. Die Flecke gingen raus. Sie ließ sie noch etwas im warmen Wasser liegen und ging zurück zur Küche, um nach dem Bügeleisen zu suchen. Sie hatte es lange nicht gebraucht. Die Wäscherei lieferte die großen Stücke schrankfertig. Aus dem Alter für Spitzenblusen war sie heraus. Sie hatte sie ohnehin nie gemocht. Ihrer Meinung nach war sie nicht der Typ dafür. Das schien zu stimmen, den auch die Kostümbildnerinnen, die sie für ihre Film- und Theaterrollen anzogen, hatten sie damit verschont.
Die stieg auf einen Stuhl und fand das Eisen ganz oben im Kühlschrank. Wo war nur die Schnur? Sie mußte unbedingt einmal alle Schubladen aufräumen! Sie fand ja nichts mehr! Überhaupt - sie hätte nach Karls Tod die große Wohnung nicht gleich aufgeben sollen, in der alles viel bequemer war. Seinen Erinnerungen konnte man doch nicht entfliehen.
Sie fand die Schnur. Sie sah etwas brüchig aus. Sie schloß sie probeweise an. Als sie fühlen wollte, ob das Eisen heiß wurde, und es mit dem angefeuchteten Zeigefinger berührte, erhielt sie einen leichten Schlag. Sie zuckte zurück und zog den Stecker aus der Dose. Dass sie jetzt zu jeder kleinen Reparatur die Brille brauchte! Sie holte sie und auch einen Schraubenzieher, mit dem sie den Stecker öffnete. Das hatte Karl ihr einmal gezeigt, als sie sich von ihm noch etwas zeigen ließ, ohne gleich ungeduldig zu werden. Früher waren es doch nur zwei Kontakte gewesen, wie sie sich zu erinnern glaubte. Hier gab es drei. Sie schraubte zunächst einmal alle los. Zu spät fiel ihr ein, dass sie sich die Reihenfolge hätte merken müssen, denn da gab es auch drei Farben an den Drähten - rot, grau und schwarz. Rot war ganz sicher wichtig und schwarz wohl auch. Was konnte schon geschehen, wenn sie sich irrte? Kaum mehr, als dass eine Sicherung durchbrannte. Sie schnitt ein Stück der Schnur ab, das gebrochen schien, und schabte die Drähte mit einem kleinen Messer blank. Dann schraubte sie sie wieder an - schwarz rot und grau.
Eine Wolldecke brauchte sie noch als Unterlage zum Bügeln. Sie holte sie und stellte ein großes Glas Wasser bereit, um die Decke notfalls etwas einsprengen zu können. Dann schloß sie das Eisen nochmals probeweise an. Diesmal berührte sie es nur ganz vorsichtig mit der äußersten Fingerspitze, die sie nicht wieder naßgemacht hatte. Sie erhielt sofort einen Schlag, der viel stärker war als der erste und sie fast umwarf. Da schrillte das Telefon in ihren Schreck hinein. Sie lief ins Zimmer hinüber. Immer beeilte sie sich, wenn das Telefon läutete, dabei war es jetzt doch meistens eine Fehlverbindung. Aber sie lief immer wieder. Als sie abhob, meldete sich niemand. Sie hörte nur ein Rauschen, wie aus einem der alten Grammophone ihrer Jugendzeit. Dann kam leise wie aus weiter Ferne das Amtszeichen.
Enttäuscht legte sie wieder auf und ging ins Badezimmer. Der offensichtlich falsch gepolte Stecker fiel ihr ein, aber den konnte sie später auch noch richten. Zunächst spülte sie die Decke zweimal in klarem Wasser, das so kalt aus dem Hahn kam, dass ihre Finger ganz steif wurden. Danach ließ sie das Gewebe etwas abtropfen und ging dann ins Treppenhaus damit, da sie ja an diesem Sonntagmorgen allein im Haus war und keine Beschwerden zu fürchten hatte.
Es war ein einstöckiges Gebäude, in dem sie wohnte. Unten waren zwei Geschäfte und oben nur die beiden kleinen Wohnungen, die ihr und Mr. Webster gehörten. Eine kleine Treppe ging zu einem Vorplatz hinauf dicht vor der Bodentür. Dieser Vorplatz lag direkt über ihrer Wohnungstür. Sie konnte ihn erst übersehen, wenn sie die erste Stufe der Treppe betrat. Ein alter Gartenstuhl stand dort aufrecht ans Geländer gelehnt. Manchmal hatte sie beim Heimkommen das Gefühl, dass sich hinter ihm gut jemand verbergen konnte, der sich tagsüber eingeschlichen hatte und die Nacht abwartete, um in die Läden einzubrechen. Es war ihr daher zur Gewohnheit geworden, immer zuerst einen prüfenden Blick nach oben zu werfen.
Die Decke tropfte doch noch sehr, als sie sie durch ihren schmalen Korridor trug und die Wohnungstür öffnete. Sie warf sie rasch über das Treppengeländer und zog sie etwas glatt. Dann sah sie wie immer zu dem Stuhl hinauf. Neben dem Stuhl stand ein Mann. Er war schmal und ganz dunkel angezogen - schwarzes Hemd und schwarze Hose. In der Hand hielt er einen schwarzen Revolver, dessen Mündung genau auf sie gerichtet war. Sie sah, dass er die Lippen bewegte, aber sie verstand kein Wort. Es ging jedoch eine so starke Drohung von ihm aus, dass sie ganz still stand im Bewußtsein einer großen Gefahr, wie sie ihr in ihrem bisherigen Leben noch nie begegnet war.
Sie stand unbeweglich und sah ihm zu, wie er die Treppe herabschlich mit den glatten Bewegungen eines Tieres. Erst als er bis auf einen Schritt herangekommen war, wich sie rückwärts gehend in ihre Wohnung zurück. Das hätte sie gleich mit einer blitzschnellen Bewegung tun sollen, als sie ihn bemerkte, fiel ihr jetzt ein. Dann hätte sie sicher die Tür hinter sich zuschlagen und zum Telefon laufen können. Jetzt war es zu spät. Sie sah an seinen Augen, dass er sofort schießen würde. Ob die Waffe wirklich geladen war? War es überhaupt nicht nur eine Spielzeugpistole? Man hatte so etwas schon gehört. Sie verstand nichts von Waffen und konnte das nicht feststellen. Sein Gesicht war sehr weiß und wirkte wie gefroren. Ihr fiel besonders auf, dass die Haut an seinen Schläfen wie von einer inneren Spannung hochgezogen war, so dass er die schrägen Augen eines Asiaten hatte. Langsam und lautlos kam er näher und drängte sie weiter in den Korridor zurück, bis er die Tür hinter sich schließen konnte. Mit der freien Hand drehte er blitzschnell den Schlüssel herum, den sie immer von innen stecken ließ, wenn sie zu Hause war. Jetzt war sie gefangen und hatte das beklemmende Gefühl, nicht einem Menschen gegenüberzustehen, sondern einem unberechenbaren Tier. Sie wußte auch ganz genau, dass er kein Geld wollte. Eine unnatürliche Ruhe breitete sich in ihr aus, vom Herzen langsam zum Kopf ansteigend. Das war alles so unwirklich, dass sie darauf wartete, jeden Augenblick aus einem Traum zu erwachen. Sie schloß die Augen und öffnete sie gleich wieder in der Hoffnung, dass der Mann verschwunden und sie wieder allein in der Wohnung sein würde, wie sie es noch vor einigen Minuten gewesen war. Aber er stand noch da in seiner entsetzlichen Wirklichkeit. Ein seltsames kaltes Lächeln war jetzt um seine Lippen, das aber gleich wieder wegglitt, wie ein Wolkenschatten von einer öden Landschaft. Er sprach noch immer kein Wort, kam aber nun wieder näher und zwang sie dadurch, noch weiter zurückzuweichen, bis sie sich in ihrem kleinen Zimmer gegenüberstanden. Sie konnte nicht weiter zurück, spürte die Kante eines Stuhles in ihren Kniekehlen und wollte sich schon ermattet auf den Sitz fallenlassen, als sie eine innere Stimme davor warnte. Er hatte sie bisher wortlos und nur mit Bewegungen bedroht. Sie durfte jetzt keine Bewegung wagen, die sie kleiner machte. Endlich verflüchtigte sich auch der leichte Nebel, den der erste Schreck über ihre Augen gelegt hatte. Immer deutlicher sah sie seine hellen Augen, die durch sie hindurchsahen in eine ihr unsichtbare Ferne. Er hielt den Kopf nun etwas geneigt, als ob er einer fernen Melodie lauschte, die sie nicht hätte hören könne, auch wenn ihre Ohren sie nicht im Stich gelassen hätten. Sie empfand, dass sie zwei verschiedenen Daseinsebenen angehörten, zwischen denen es keine andere Verbindung gab als den Tod, so wie es zwischen Jäger und Wild keine andere Verbindung gibt.
Auf einmal merkte sie, dass sie sprach. Worte, die ihr Gehirn gar nicht bewußt gebildet hatte, sprudelten aus ihr heraus. Worte, die keinen Sinn hatten, die eigentlich keine Worte waren, sondern mehr Laute, wie man sie einem kleinen Kind oder einem Hund gegenüber anwendet, der mit entblößten Zähnen vor einem steht, weil man einen fremden Garten betreten hat. Der Mann hob einen Augenblick witternd den Kopf, abgelenkt von seiner Melodie, die ihm befahl, sie zu töten. Sie atmete auf, aber da senkte er die Stirn wieder und forderte sie mit einer Bewegung der Waffe auf, sich ganz dicht an die Wand zu stellen und die Hände vom Körper so weit als möglich entfernt mit den Innenflächen gegen den rauhen Putz zu pressen. Unten fuhr ein Auto mit ahnungslosen Menschen vorbei, die ihr hätten helfen könne. Sie spürte ein leises Zittern der Mauer. Dann war es wieder ganz still um sie.
Der Mann begann plötzlich leise zu pfeifen und den Kopf hin und her zu wiegen. Die Leere wich aus seinem Blick. Er musterte sie lauernd und duckte sich etwas. Sie konnte es nicht sehen, aber sie fühlte mit einem sechsten Sinn, wie sich seine Rückenmuskeln spannten wie zu einem Absprung. ›Jetzt wird er es tun‹, dachte sie. Welch bizarres Ende ihres Lebens! Sie hatte sich manchmal vorzustellen versucht, wie ihr Tod einmal sein würde, aber niemals wäre sie auf einen solchen Gedanken gekommen.
Seine Oberlippe hob sich und entblößte kräftige weiße Zähne, als wenn er sie damit zerfleischen wollte. Es war nichts in der Nähe, womit sie nach ihm hätte werfen können. Genau in der Sekunde, da sie zu unterliegen drohte, begriff sie, dass er auf eine Bewegung von ihr wartete, auf eine letzte Fluchtbewegung, die den angesetzten Sprung auslösen sollte. Eine Bewegung der unsinnigsten Angst mußte das sein. Sie wußte, dass sie ihm die verweigern konnte, und sie war entschlossen, es zu tun, bis ihre Kräfte sie ganz verließen. Ein unheimliches stummes Ringen begann. Er duckte sich noch etwas tiefer, aber sie richtete sich noch etwas höher auf und gewann dadurch an innerer Ruhe. Ihr fiel ein, dass sie einmal von einem Tänzer - es war Harald Kreuzberg - gehört hatte, dass man Bewegungen machen könnte, die beim Gegner mit absoluter Sicherheit eine Gegenbewegung hervorriefen. Als sie damals ungläubig lächelte, machte er unvermutet die große Bewegung eines Schlages gegen sie, und sofort hob sie die Hand schützend vor ihr Gesicht. Ihre Verblüffung bereitete ihm Vergnügen. Er ahnte nicht, in welcher Lage sie einmal daran denken würde. Und sie ahnte es erst recht nicht.
Aber jetzt sah sie einen Weg. Ihr Gehirn arbeitete mit jener Klarheit, die sie immer beim Spielen hatte, wenn es um verschiedene wichtige Requisiten ging, deren Reihenfolge sie nicht vergessen durfte. Sie mußte Bewegungen erfinden, die ihrem stummen Gegner etwas aufzwangen, was er eigentlich nicht wollte. Es war eine Premiere ohne Generalprobe, und es ging um ihr Leben! Wenn sie die geringste Flucht andeutete, war sie verloren!
Sie hatte keine Furcht mehr, weil sie jetzt wie in einem Theaterstück wußte, was sie zu tun hatte, obgleich ihr gerade jetzt die beiden Frauen einfielen, die man in den letzten Tagen gefunden hatte - tot - mit Bißwunden wie von einem großen Tier.
Sie wußte nun, dass sie ihn töten mußte, wenn sie weiterleben wollte. Der Tod stand unüberwindbar groß und schrecklich schwarz zwischen ihnen. Es gab keinem anderen Ausweg. Einer von ihnen mußte ihm gehören, mußte mit ihm gehen, fort aus dem grellen Licht der gleißenden Sonne in das sternenlose Dunkel einer endlosen Nacht. Der andere war ein Stier, dessen dunkles Fell blau schimmerte. Sie fand nichts dabei, dass sie ihn töten mußte. Die innere Verwandlung, die bei ihrem Beruf notwendig war, wenn man das Mittelmaß überschreiten wollte, ergriff immer stärker Besitz von ihr. Etwas war anders als sonst. Nicht mit dem Wort mußte sie diesmal arbeiten, sondern mit leichten, tänzerischen Bewegungen, die sein Mißtrauen beschwichtigten. Sie wußte nicht genau wie es weitergehen sollte. Das würde sich erst aus seinen Reaktionen ergeben. Um sie war heißer, gelbweißer Sand, und sie war ein Torero, der einem wilden, wütenden Stier gegenüberstand, den er mit genau festgelegten Bewegungen in den Tod locken mußte, dessen Fell inzwischen tiefblau geworden war.
Konnte sie versuchen, den Gegner mit einem ganz kleinen Vorstoß abzutasten? Sie mußte es wagen! Sie riskierte einen kleinen Ausfall gegen ihn, indem sie sich mit beiden Händen von der Wand hinter ihr abstieß und nur wenig gegen ihn vorfiel. Sie achtete sehr darauf, dass nichts Bedrohliches in dieser Bewegung lag, machte sie fast spielerisch und stellte fast erstaunt fest, dass sie sogar ein Lächeln zustande brachte. Sie spielte mit vollem Einsatz, wie sie immer gespielt hatte. Wenn sie gut und überzeugend war, war auch der Erfolg sicher, wie an den ungezählten Premierenabenden vorher.
Verdutzt wich er etwas zurück und knurrte sie an. Sie jubelte innerlich. Jetzt ging die Kraft auf sie über. Sie bekam ihn in die Hand. Er war anscheinend gewohnt, dass Frauen fliehen wollten und dabei schrien. Das erregte ihn zum Greifen, und das Geschrei erweckte den Reflex, sie zum Verstummen zu bringen mit seinem großen weißen Zähnen. Sie kam ihm entgegen, nicht drohend, aber was wollte sie? Sie sollte endlich erschreckt zurückweichen, dass er sie fassen konnte. Dann würde alles andere blitzschnell ablaufen, wie bei den beiden Frauen vor ihr. Er war verwirrt. Auf seiner Stirn erschienen dünne Schweißperlen. Sie sah das ganz genau und nahm erneut Kraft daraus. Sie wußte, dass sie ihm nicht zu nahe kommen durfte, um nicht das Gefühl, in die Enge getrieben zu sein, bei ihm hervorzurufen, aber sie mußte zuerst einmal ganz von der Wand freikommen, gegen die er sie gedrängt hatte. Ihr Vorteil lag darin, dass er aus dumpfem Instinkt, sie aber aus klarer Überlegung und fast zur Gewohnheit gewordener Intuition handelte. Sie begann leicht und rhythmisch ganz kleine tänzerische Bewegungen zu machen, mit den Händen zuerst, dann mit den Hüften, die er unwillig knurrend zuließ. Hatte er nicht vorhin gepfiffen? Ob er darauf irgendwie ansprach? Sie versuchte es. Es klang nicht schön, aber er horchte auf. Da glitt sie blitzschnell von der Wand weg und stand nun so, dass er sich drehen mußte und damit seinen Rücken vor die offene Küchentür brachte.
Jetzt erkannte sie, wohin sie steuern mußte. Sie erinnerte sich an eine Bäuerin, die sie einmal als Kind gesehen hatte, wie sie junge Enten sanft vor sich her scheuchte. Mit denselben Bewegungen trieb sie ihn nun rückwärts, und er tat, was sie wollte. Aber sie sah seinem Gesicht an, dass die Überraschung nachließ und er nachzudenken begann, um einen Ausweg aus ihren zwingenden Bewegungen zu finden. Seine Augen verengten sich. Die Schweißperlen auf seiner Stirn wurden größer. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Sie begann nochmals zu pfeifen, diesmal lauter. Es gelang ihr, ein Drängen in den Ton zu legen. Er reagierte ein letztes Mal und trat noch einen Schritt zurück. Jetzt war er ganz in der Küche, die er fast füllte und deren Enge ihn noch unruhiger machte. Dicht neben ihm sah sie das Bügeleisen stehen. Das Triumphgefühl, das sie durchströmte, veranlaßte eine zu heftige Bewegung. Sofort duckte er sich sprungbereit, und eine Erleichterung war ihm anzusehen. Da hatte sie sich aber wieder in der Hand. Innerlich war sie der Torero, der nun den Degen zum Todesstoß hob. Äußerlich duckte sie sich auch etwas, als wenn sie ihm endlich entgegenkommen wollte. Spielerisch griff sie nach dem Glas mit dem Wasser, das sie vorhin zum Bügeln bereitgestellt hatte, und goß es mit einem Schwung der Hand auf den Boden, dicht vor dem eisernen Abflußgitter. Seine Augen flammten auf, und sie zog ihre Hand ruckartig zurück. Sofort fuhr seine Hand etwas vor, mit griffbereiten Fingern. Sie lachte höhnisch und etwas zu schrill. Er zuckte zusammen und richtete sich dann drohend auf, jetzt bereit, sich auf sie zu stürzen. Sie duckte sich noch etwas mehr. Das nahm er als Schwäche und Nachlassen des Bannes, in den sie ihn geschlagen hatte, aber ehe er seinen Vermeintlichen Vorteil wahrnehmen konnte, streckte sie ganz langsam die Hand nach dem Bügeleisen aus, so langsam, dass er es genau sehen mußte, als wenn sie es greifen wollte. Sofort trat er einen halben Schritt vor, direkt in die Wasserlache hinein. Da schoß ihre Hand plötzlich ganz schnell vor, und prompt kam sein Gegenreflex. Seine gekrümmten Finger kamen ihr zuvor und umschlossen das Eisen. Der elektrische Schlag riss ihn zu Boden. Er lag gekrümmt da, zuckte noch zwei - drei Mal. Der Revolver entglitt seiner Hand.
Der weiße Sand leuchtete grell auf, als der Stier zuckend verendete. Dann wurde er zum blauen Fliesenbelag des Küchenbodens. Sie bemerkte, dass sie schrie, und sie konnte nicht aufhören, obgleich sie beide Hände vor den Mund preßte. Sie schrie und krümmte sich, als ob sie gleichfalls unter Strom stünde. Dann wurde ein Schluchzen daraus, das nach und nach verstummte.
Sie richtete sich ganz gerade auf und strich sich das Haar aus der Stirn, ging zum Telefon, um die Polizei zu rufen, nachdem sie rasch noch den Stecker aus der Dose gezogen hatte. Danach saß sie am Fenster und starrte hinaus, ohne etwas zu sehen, mit dem ungezielten Blick einer Blinden. Die Tischdecke fiel ihr nach einer Weile ein. Die brauchten sie nicht am Geländer hängen sehen! Sie ging und holte sie herein, legte sie auf die Wolldecke, als wenn sie gerade beim Bügeln gewesen wäre. Den Revolver hob sie auf und versteckte ihn in einer der unteren Schubladen. Sie wußte nicht, warum sie das tat.
»Wie kommen Sie denn ins Haus?« fragte sie verwundert die beiden Beamten, die bald darauf an ihrer Tür läuteten.
»Durch die Gartentür. Die ist offen«, antwortete der Jüngere, der sie an irgend jemanden erinnerte, ohne dass sie darauf kam, wer es sein könnte.
»Ich wollte gerade bügeln«, gab sie später an. »Er bedrohte mich und griff nach dem Eisen. Dann fiel er um. Ich hatte ihn nicht gehört, denn ich bin fast taub, wissen Sie!« Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie fragte: »Wer ist er denn?«
»Er heißt Karl Hellmer«, sagte man ihr. »Sein Name wird morgen in allen Zeitungen stehen. Er hieß so!« Und dann wollte der junge Polizist noch etwas sagen, aber sein Kollege machte ihm ein Zeichen, zu schweigen, weil er sah, dass sie stark zitterte und sich am Küchentisch festhielt.
Als sie im Dunkel der folgenden Nacht wieder allein in ihrer Stille lag, beschloss sie: Niemand sollte jemals erfahren, dass sie einen Stier getötet hatte, der Karl hieß - Karl Hellmer. Sie dachte in späteren Jahren immer öfter an ihn - ohne Hass und Ekel - mit einer eigenartigen Zärtlichkeit, die sie selbst nicht verstand. Und sie nannte ihn heimlich bei sich Karl III.
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