Keine Liebe für die Ewigkeit

von Paul Filipp

Sehr geehrter Herr Pfarrer!
Ihre letzte Predigt war nicht nur lang sondern auch schlecht. Ihre Vergleiche hinkten. Das Leben ist ganz anders. Viel Logischer und daher härter. Was Sie über Mord gesagt haben, war reiner Schwachsinn. Was ist dabei, wenn man einen Menschen beseitigt, der einem sehr im Wege steht? Überall in der Welt wird ganz offiziell getötet. Meistens geschieht das im Interesse irgendeiner Gruppe, die daran verdient. Warum nicht ab und zu auch einmal im Interesse eines einzelnen Mannes oder einer Frau?
Sehen Sie, ich war damals bereits über dreißig. Etwas zuviel, dachte ich, für eine Frau, die noch keinen Mann fürs Leben gefunden hat. Ihn, den ich zwei Jahre lang zärtlich geliebt hatte, sah ich nur noch selten. Nach unserem letzten Zusammensein wusste ich, dass er bald gar keine Zeit mehr für mich haben würde. Ich spürte genau, dass es nicht nur die viele Arbeit war, die ihn immer öfter von mir fern hielt. Die Spannung war versickert. Nicht nur bei ihm. Gottseidank!
Er arbeitete an einem Institut für Gifte und Gegengifte, das zu einem großen Chemiekonzern gehörte. Er hieß Rolf Habermann. Ich habe seinen Namen nicht vergessen, obgleich inzwischen viele Jahre vergangen sind.
Als ich zum endgültig letzten Mal bei ihm war, lagen kleine durchsichtige Kapseln mit einer schwachroten Flüssigkeit darin auf seinem Tisch. Sie sahen so schön aus, dass ich eine in die Hand nahm und im Licht der Lampe hin und her drehte. Als er das im Vorbeigehen sah, rief er mir über die Schulter hinweg zu: »Lass die Finger davon! Es ist ein ganz neues Gift, das erst nach drei Tagen wirkt und danach nicht mehr nachzuweisen ist. Toll, was?«
»Wie viele hast du davon?« fragte ich und drehte die Kapsel weiter zwischen den Fingern hin und her. Es fiel mir schwer, mich von ihr zu trennen.
»Weiß ich nicht«, rief er vom Badezimmer her. »Ich habe sie nicht gezählt. Willst du dich nicht waschen?«
»Ich komme«, rief ich zurück und steckte das kleine glänzende Ding in meine Wildledertasche. Während ich durchs Zimmer ging, zog ich die Decke von seinem Bett. Eine grünseidene Decke.
Ich habe die Namen, die in diesem Bericht vorkommen, geändert, was Sie sicher verstehen werden. Ich wohne nicht in dieser Stadt. Nichteinmal in diesem Land. In Ihre Kirche bin ich zufällig gekommen. Im Vorbeigehen, wie man so sagt.
Es gab damals in den letzten Wochen dieser Liebe, die eigentlich keine mehr war, bereits einen anderen Mann in meinem Leben. Er war Röntgenarzt. Als Rolf und ich uns gegenseitig verlassen hatten, begann ich mich mit ihm, den ich vorher in einer gewissen Distanz gehalten hatte, näher zu befassen. Er hieß Obermoser. Dr. med. Alfred Obermoser.
Ich war jeden freien Tag, den mir mein Beruf als Vertreterin einer bekannten Kosmetikfirma ließ, bei ihm und half ihm in seiner Praxis. Als eines Tages seine beiden Sprechstundenhilfen, mit denen er dauernd Schwierigkeiten hatte, einfach nicht mehr kamen, gab ich meinen Beruf ganz auf und sprang für sie ein. Bereits nach wenigen Tagen merkte ich, dass es nur an ihm lag, dass es niemand bei ihm aushielt. Die Einsamkeit meines Herzens hatte mich blind gemacht, gegen sein eigenartiges Verhalten. Allerdings nur für kurze Zeit, so dass es nicht besonders schmerzhaft war, mich innerlich von ihm zu lösen, ohne dass er es gleich merkte.
In einem medizinischen Lexikon fand ich das Wort, welches einen hervorstechenden Zug seines Benehmens klarstellte. Es hieß Rupophobie und bedeutet eine Art von krankhaftem Sauberkeitsbedürfnis, das noch viel stärker war als der Reinlichkeitsfimmel der Ehefrau des dritten Mannes, der damals wie auf einen Wink des Schicksals hin gänzlich unerwartet in mein wieder erschreckend leer werdendes Dasein trat. Sie machte ihm überdies noch mit einer oft ganz sinnlosen Eifersucht das Leben schwer und beschuldigte ihn sogar, dass er trotz seiner fünfundfünfzig Jahre Schulmädchen nachstellen würde. Er litt sehr unter ihren Vorwürfen und war unglücklich, dass er immer wieder sagte, er würde sich scheiden lassen. Er fand aber nie den Mut dazu. Vielleicht spielte auch eine seiner Meinung nach nicht unerhebliche Erbschaft eine Rolle, die seine Frau zu erwarten hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Bei ihm wußte ich das, was ich bei den anderen nie gefühlt hatte. Er war der Mann meiner Träume in jeder Hinsicht.
Gänzlich unerwartete Umstände kamen mir zu Hilfe und trieben diese Frau förmlich in meine Hände. Ich hätte mich im letzten Augenblick noch immer anders entscheiden können. Warum eigentlich? Ich habe es dann ganz bewußt getan und niemals bereut.
Es begann damit, dass sie ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit für einige Tage zu jener Erbtante reiste, die in der gleichen kleinen Stadt lebte, in der Dr. Obermoser wohnte.
Ich habe das nicht als einen Zufall angesenen. Für mich war es ein Wink von jener unbegreiflichen Kraft, die immer wieder Leben entstehen läßt und die es immer wieder auf tausend verschiedene Weisen vernichtet - in Kriegen, bei Unfällen, durch aus dem Nichts plötzlich auftauchende Krankheiten, durch Erdbeben und Tornados. Und die ihr Tun nie bereut. Das Schicksal hatte mir eine Rolle zugewiesen. Ich stand bereit, ohne es zu wissen - in der Praxis des Dr. Obermoser und deprimiert, durch einen jener sinnlosen Ausbrüche, zu denen es nun immer häufiger kam.
Wenn der Mann, dem mein Herz damals bereits ganz und bedingungslos gehörte, seine Frau zu ihrer Tante begleitet hätte, wäre alles nicht geschehen, denn selbstverständlich hätte er sie auch zum Arzt gebracht, nachdem sie in der Nacht zuvor eine Nierenkolik hatte.
Für mich wäre es sehr peinlich gewesen, wenn er mich vollkommen unvorbereitet in der Praxis getroffen hätte. Wahrscheinlich wäre alles aus gewesen. Aber sie hatte ihm wieder einmal kurz vor ihrer Abfahrt eine ihrer üblichen Szenen gemacht. Verärgert blieb er zu Hause und versuchte, mich den ganzen Tag lang zu erreichen. So etwas ist manchmal ganz gut für eine beginnende Leidenschaft.
Ich erkannte die reizlose Frau mit dem spitzen gelblichen Gesicht nicht, denn ich hatte sie nie zuvor gesehen. Ich kannte nur ihre Stimme vom Telefon her. Einmal, als ihr Mann sich tagelang nicht bei mir gemeldet hatte, rief ich gegen sein ausdrückliches Verbot bei ihm zu Hause an. Er war nicht am Apparat, wie ich gehofft hatte, sondern es meldete sich diese nörgelnde, unangenehme Stimme, die ich nicht vergessen hatte und die ich nun sofort wiedererkannte, als sie anfing ihre Beschwerden umständlich zu schildern. Ich hätte sie zunächst einmal wegschicken können, da sie keinen Ausweis über ihre Krankenkasse bei sich hatte. Natürlich war ein Irrtum möglich. Ich nahm mich eisern zusammen, fragte nach ihren Personalien, um eine Karteikarte auszufüllen. Es stimmte tatsächlich. Sie hieß Maria Nader, wohnte in unserer Stadt in seiner Straße und in seiner Wohnung. Sie war seine Frau. Der Herr hatte sie in meine Hand gegeben, wie Sie, Herr Pfarrer, es in einer Ihrer Predigten nennen würden.
Sie wollte durchaus eine Röntgenaufnahme. Dafür hätte sie eigentlich einen Überweisungsschein ihres Arztes gebraucht. Als ich ihr das sagte, meinte sie, dass sie die Aufnahme dann eben selbst bezahlen würde. Sie müsse endlich Klarheit über ihren Zustand haben. Heute nacht wäre es die vierte Kolik innerhalb weniger Wochen gewesen. Um etwas Zeit zu gewinnen, setzte ich sie zunächst einmal in das kleine Wartezimmer für Privatpatienten. Dann lief ich schnell hinauf in die Wohnung meines Freundes, die über seinen Praxisräumen lag, und suchte in meiner Handtasche nach jener kleinen Kapsel, fand sie und lief wieder hinunter.
Der Herr Doktor hatte einen seiner schwarzen Tage. Er stand mit seltsam starrem Gesicht vor dem Leuchtkasten, an dem der lange schmale Film mit einer Wirbelsäule hing. Er fragte nicht, von welchem Arzt die Patientin geschickt worden wäre, was er sonst immer tat. Es sollte eben sein, und es wäre töricht gewesen, sich dagegen zu wehren. Überdies merkte ich in diesem Augenblick, dass es sich bei dem seltsamen Stimmungsumschwung, der ihn manchmal jäh überfiel, nicht um eine Laune sondern um eine Krankheit der Seele handelte. Ob ihm das einmal irgend jemand sagen würde? Auf die Gefahr eines Wutausbruches hin? Ich würde es bestimmt nicht tun. Dazu war er mir bereits zu fremd geworden. Dazu hatte er schon zuviel in mir zerstört.
Jeder Packung des Kontrastmittels, das wir damals für Nierenaufnahmen verwendeten, lag eine kleine Testampulle bei. Sie enthielt einen Kubikzentimeter Lösung. Zwanzig solcher Kapseln füllten eine normale Spritze, wie sie vorgeschrieben war. Da er schon lange keine besonderen Tests mehr machte, weil die Patienten das Mittel immer gut vertrugen, wurden diese kleinen Ampullen in einem besonderen Kästchen gesammelt, und wenn zwanzig zusammen waren, für eine Untersuchung verwendet. Er war sehr sparsam, dieser Herr Doktor Obermoser, an den ich nicht gern zurückdenke. Auch in der Liebe.
Als er mir sagte, dass ich die Patientin wie üblich vorbereiten sollte, antwortete ich: »Es wird einen Augenblick länger dauern. Ich nehme die Testampullen. Es liegen genügend da.« Er war sehr bleich, sah müde aus und nagte an seiner Unterlippe, ohne zu antworten, ohne mich anzusehen. Früher hatte ich unter seinem Benehmen gelitten. Jetzt machte es mir nichts mehr aus.
Ich war von einer seltsamen Ruhe erfüllt, als ich die für mein weiteres Leben entscheidende Spritze vorbereitete. In dem Kästchen lagen 24 Ampullen. Ich nahm zwanzig. Eine davon sägte ich auf und entleerte sie in das Waschbecken. Für alle Fälle mußten zwanzig leere Ampullen daliegen. Diejenige, die ich nun schnell aus meiner Tasche nahm und als erste aufzog, würde ich gleich nachher in die Toilette werfen. Während ich die anderen Neuzehn hintereinander aufzog, wurde die rötliche Färbung immer schwächer, bis am Ende so gut wie nichts mehr zu sehen war.
Da kam er auch schon und nahm mir die Spritze unwillig aus der Hand und ging hinüber zu dieser Frau, die ich vorher bereits auf dem Aufnahmetisch zurechtgelegt hatte, den rechten Arm frei, Abbindeschlauch, Tupfer und Alkohol daneben.
Plötzlich wurde mir schwindelig. Ich fühlte kalten Schweiß auf meiner Stirn. Aber da kam er schon zurück und gab mir die Spritze zur Reinigung. Am folgenden Tage brach ich nach einem heftigen Streit jede Beziehung zu ihm ab.
Sie mußte zwanzig Minuten liegen, bevor das Kontrastmittel sichtbar werden konnte. Ich sah zweimal nach ihr ohne jedes Mitleid. Ihr unzufriedenes, fahles Gesicht stieß mich ab. Wahrscheinlich hatte sie vor zwanzig Jahren, als er sie heiratete, anders ausgesehen.
An ihrer Miene war nichts zu finden. Sie bezahlte sichtlich erleichtert gleich und starb drei Tage später in ihrer eigenen Wohnung an einem Herzschlag nach dem `unerforschlichen Ratschluß des Herrn', wie Ihr Amtsbruder, Herr Pfarrer, bei ihrer schlichten Beerdigung verkündete.
Nach einem Jahr, in dem wir fast jede Nacht zusammen waren, und in dem auch noch die alte Tante starb, so dass auch die erwartete Erbschaft an ihn fiel, war es nicht schwer, ihn zu heiraten. Er war durch die zwanzig Jahre seiner Ehe zu sehr daran gewöhnt, das zu machen, was eine Frau ihm sagte. Von den beiden andereren Männern, die, ohne es zu wissen, an seinem jetzigen Leben mitgewirkt haben, hat er nie etwas erfahren.
Er geht fast nie mehr aus, wenn er aus seinem Geschäft nach Hause kommt. Auch das hatte sie ihm beigebracht. Nur sonntags fahren wir manchmal bei gutem Wetter in die Berge und schwimmen ab und zu in einem stillen Waldsee - ganz nackt.
Er ist sehr glücklich jetzt, wie er mir ab und zu in gewissen Minuten zuflüstert. Ich bin es auch, denn er gefällt mir noch immer besser als jeder andere Mann. Es ist alles ein wenig langweiliger, als ich es mir vorgestellt habe.
Und, Herr Pfarrer, es macht mir nichts aus, dass ich ihn in Ihrem Himmel vielleicht nicht wiedersehen werde.


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