Feledrion auf dem Konvent von Anderstein

IV. Die Friedenselfen

von Oliver H. Herde

Tiefe Stille lag über der Burg zu Anderstein. Nur leises, regelmäßiges Atmen drang sacht aus den Schlafsälen.
Ein einzig Augenpaar nutzte die Strahlen des morgendlichen Sha. Allerdings starrte es versonnen zur Decke hinauf. Sein schlechtes Gewissen quälte Feledrion, nun doch nicht seinen alten Freund Atreo besuchen zu können. Und wenn auch alle sonst schliefen, er konnte es nicht mehr.
Rastlos erhob er sich, tappte wie suchend durch die Burg und hinab in den Hof. Niemand, nicht einmal ein andergastsches Huhn begrüßte ihn. Er kehrte um, ging zum Brunnen, sich in aller Ruhe zu waschen. Die Betrübnis aber wollte nicht von ihm weichen, Atreo ließ ihm keinen Frieden, und so dichtete er sich selbst zum Troste ein Lied, welches er sich von den Menschen ungehört vorsang:
»Stimmgewirr im grünen Eber,
friedlich rauscht der Wind im Wald,
Vögel singen froh am Brunnen,
doch Atreo lässt dies kalt.
Einsamkeit.
Einsamkeit.
Liebe fühlt er für ein Mädchen,
doch die Liebste, die ist weit.
Fort ging sie mit einem andern,
und Atreo ließ sie steh'n,
doch kann ihn das nicht dran hindern,
im Geist ihr Antlitz noch zu seh'n.
Einsamkeit.
Einsamkeit.
Bis er heilt, der Liebeskummer,
braucht es immer seine Zeit.«
Als er nach einiger Zeit fertig war, und sein trauriges Summen verhallte, kam wenigstens geschäftiges Klappern aus der Taverne, wo das Frühstück bereitet wurde.
Und bald darauf wankten die ersten Rondrageweihten verschlafen über den Burghof. Langsam, sehr langsam füllte sich die Schenke. Das zunehmende Treiben vermochte Feledrion gar von seinem Kummer abzulenken.
Am Nebentisch nämlich brachte ein Magier die Frage auf, was wohl geschähe, beschleunigte man einen Thorwaler hinreichend und ließe ihn gegen eine Mauer prallen. Eifrig wurde diskutiert, welche astralen Energien dabei wohl frei würden, ob der Alkoholgehalt eine Rolle spiele, und ob es eine Geschwindigkeit gäbe, bei der die Ausbeute der Energie die zur Beschleunigung des Thorwalers benötigte übersteige. Eventuell könne der Thorwaler gar selbst in astrale Energie umgewandelt werden!
Feledrion schüttelte mitleidig den Kopf. Diese Menschen!

Satt betrachtete Feledrion den Tavernenboden. Überall lagen hier wie in der Burg die 'Kyranda Original Taler' herum, die der 'Finanzminister' des 'Kaisers' in den letzten Tagen einem jeden aufzudrängen versucht hatte. Beide waren Schelme, die in Begleitung eines dritten herumzogen, den Menschen die Nerven zu rauben oder ein Lächeln zu schenken - oder beides.
Um den Elfen herum wurde noch gegessen, manche Gäste tauchten gar jetzt erst auf. Da drangen Rufe von draußen herein. Orks in großer Zahl näherten sich!
Man machte sich kampfbereit, so gut man nach den bisherigen Anstrengungen noch konnte. Dabei bemerkte Feledrion erstmals, er hatte sich über Nacht ein wenig erholt, weil sich das Horn nicht mehr in den Händen des Schamanen befand.
Natürlich waren die Wildhaare gekommen, es zurückzuholen, aber auch aus einem anderen Grunde, welcher für eine Überraschung sorgen sollte. Sie griffen nicht sofort an, sondern forderten angeblich versprochene Seelen ein. Schnell stellte sich heraus, ein Grüppchen nostrischer Magier hatte mit den Orken in Verbindung gestanden. Unter dem Zorn der übrigen waren sie gezwungen, nun offen zu den Schwarzpelzen zu überzuwechseln.
Anschließend verlangte der Schamane erwartungsgemäß nach dem Horn. Dabei machte er einen unverhofft weisen Vorschlag: Ein Zweikampf solle statt eines Gemetzels entscheiden, wem das Horn zukäme.
Eidon nahm die Herausforderung an. Doch allzu schnell zeigte sich, der Orkkrieger würde gewinnen. Als der Ardarit schwer getroffen zu Boden sank, jubelten und grölten die Sieger. Allein, niemand machte Anstalten, ihnen das Horn auszuhändigen.
Die Betrogenen wurden ungeduldig, jeden Moment würde die Situation eskalieren. Was konnte Feledrion tun? Sein Mandra war noch allzu erschöpft, sein Geist zu verwirrt.
Da, auf einmal, erklangen die lieblichen Stimmen Siar'Fays, und ein beruhigendes, beglückendes Gefühl ergriff die Herzen aller. Langsam wurden die Waffen gesenkt, mancher begann sanft zu lächeln. Der Waldelf hatte ein Friedenslied angestimmt, wobei ihn der Magier elfischer Geburt mit Kraft unterstützte, die er selbst kaum mehr hatte. Schon sprangen ihm erste Wunden an den Lippen auf.
Die Zaubermelodie indes tat ihre Wirkung. Welch gelungener Einfall! Die Feinde gingen freudig aufeinander zu, stellten sich vor, wurden ausgelassener. Erste Geschenke wurden ausgetauscht, Orks begannen herumzuspringen, wie es ihre derbe Art zu tanzen ist.
Feledrion aber betrachtete trotz aller Belustigung über die Vorgänge diese auch mit Sorge. Was, wenn Siar'Fay und der Magier mit all ihren Kräften zum Ende kamen?
Der schelmische Kaiser trat auf den Schamanen zu und übergab ihm das Horn! Aber konnte das sein? Das Grinsen des Buntgewandeten mit den vielen Glöckchen sprach für eine Schliche, vermutlich ein Trugbild. Aber auch dies würde nicht ewig andauern.
Ausgelassen spazierte die Menge im Festzug einmal um die Burg herum, dann weiter in Richtung Wald. Dabei zog sie sich mehr und mehr auseinander, wie es bei Wandergruppen oft der Fall ist.
Nach nun bald einer Stunde verlor sich der Gesang. Siar'Fay und der Magier waren außer Stande, ihn weiter aufrecht zu erhalten. Dennoch dauerte es, bis Orks und Menschen aus ihrem friedlich-fröhlichen Delirium erwachten. Da war es den Wildpelzen gar nicht mehr recht, nach Hause begleitet zu werden. Immerhin, sie glaubten das Horn nun zu besitzen und zogen kampflos ab, ungehindert durch die andersteinschen Gäste.
Feledrion verkündete, man dürfe nicht versäumen, die gegenwärtig milde Stimmung der Schwarzpelze zu nutzen. Man müsse jene vielmehr mit einem Geschenk an dauerhaften Frieden herangeleiten. Leider stieß er damit bei den Menschen auf wenig Gehör. Einzig der Kaiser und sein Finanzminister wollten ihn bei diesem hoffnungsvollen Versuch unterstützen. Und sie hatten gar die geeignete Geschenkidee: Eine Kiste Weines, die sie dem Wirte abschwatzten.
Unter den hämischen Bemerkungen der anderen lenkten also die drei scheinbar Lebensmüden ihre Schritte ins Tannicht. Dort krakeelten sie nach den Wildhaaren, man habe eine Gabe für sie dabei, wolle gemeinsam auf den Frieden zwischen Orken und Menschen anstoßen. Auch Feledrion gebärdete sich so laut, wie wohl noch nie in einem Wald.
Sie liefen weit, rasteten lange mit der schweren Kiste, wähnten die Schwarzpelze bald lautstark als Feiglinge, dass sie sich nicht zeigten. Der Kaiser stolzierte ungeduldig glöckchenbimmelnd einher, Feledrion fragte sich, was sie wohl falsch machten, und der Finanzminister saß auf der Weinkiste, als habe er sie soeben allein auf ex geleert.
Zuletzt beschlossen sie, umzukehren, da sprangen zahlreiche Orks endlich herbei, den Schamanen nicht unter sich. Sie zeigten sich sehr begierig, das Mitbringsel zu empfangen. Statt der friedensverkündenden Worte des Kaisers gelüstete ihnen allerdings nach weiteren Geschenken, die sie sich sogleich selbst auswählten: Ein Tuch des Ministers, den Hampelmann-Zeremonienstab des Kaisers und das von Siar'Fay geliehene Kurzschwert Feledrions. Grölend zogen sie mit ihrer Beute ab, wie ein unwirklicher Spuk.
Dergestalt ausgeplündert kehrten die drei waghalsigen Friedensboten nach Anderstein zurück, wo sie erklärten, es gäbe nunmehr nur noch betrunkene Orken im Walde.
»Deine Waffe wollten sie leider auch haben«, erklärte Feledrion seinem Stammesbruder.
»Das passt ja«, erwiderte Siar'Fay ungerührt. »Soweit ich mich erinnere, bekam ich sie einst von einem Wildhaar.«
»dann ist ja gut.«

Auch die Nostrier kamen nun reumütig wieder. Sie berichteten, sie hätten unter dem Banne des Schamanen gestanden, dieser aber habe sich selbst getötet, als er erkannte, das Horn habe seine Macht verloren.

Feledrion suchte nach Draknuh und Zori, konnte sie jedoch nirgends aufspüren. Ihre Lager waren offenbar eilends verlassen, desgleichen - so bemerkte er - jene Rohajas und Eidons. Jemand hatte die vier während des Elfenliedes gen Wald huschen sehen.
Doch auch im Tempelchen traf der Schwan keinen der Vermißten. Nun zweifelte er nicht mehr, sie waren ohne ihn zu ihrer Queste aufgebrochen. Was mochte sie dazu getrieben haben, ihm nichts von den geänderten Plänen mitzuteilen?
Außer ihnen schien dem Elfen niemand sonst auf der Abschlußsitzung der ODL zu fehlen, selbst Prinz Wendolin nahm teil. Folglich waren die anderen sieben ebenso zurückgelassen worden. Wer sie wohl sein mochten? Ob sie mehr wußten?
Tarion neben ihm starrte so geknickt zu Boden.
»Betrübt dich etwas?«
Der Halbelf blickte überrascht auf. »Nein, ich bin müde!«
Nun, dieser gehörte wohl nicht dazu.
Die Magier versuchten derweil, die einzelnen Phänomene und Fragen der vielen Ereignisse zu klären. Der Verräter - 'die kleine Nackthaut' - war nicht entlarvt worden, als aber Yoffrynn ganz beiläufig bemerkte, so nennten die Orks wohl Menschenfrauen, blitzte in Feledrion das intuitive Licht der Erkenntnis auf: Die Hexe! Auch sie war nicht zugegen, und würde sich auf Anderstein so bald nicht wieder blicken lassen. Warum gab man ihm immer die wichtigsten Informationen zu spät? Doch was kümmerte dies andererseits noch?
Ein Bauer erregte sich noch, eine Kuh sei von einem Magier für ein Experiment getötet worden. Gewiss traurig für ihn wie um so mehr die Kuh.
Nur die Nachricht Tarlisins, bei dem Horn handele es sich nicht wie erhofft um das Desiderat, vermochte Feledrions Aufmerksamkeit noch einmal kurz zu wecken. Zwar verstand er den Begriff noch immer nicht vollständig, aber dies war auch nicht nötig, die immense Bedeutung des gesuchten Artefaktes einzuschätzen. Gewiss könnte dieser Name Schannahas Neugier wecken.
Zum Schlusse sollte der Prinz noch ein paar Abschiedsworte sagen, jedoch fragte er erst noch einmal: »Ja, was ist denn nun mit der Kuh?«
Nachdem Falk versichert hatte, die ODL würde sie ersetzen, erklärte Wendolin: »Tja, das war ja eigentlich alles ganz schön mit dem Konvent...« Die Einfachheit dieses Gemütes rührte Feledrion zutiefst.
Der Konventus wurde nun für aufgelöst erklärt, und die Gäste lösten voneinander, ihrer Wege zu gehen. Vielen fiel der Abschied schwer, bei manchen brauchte es noch Stunden, bis sie gepackt, alle verabschiedet und der Burg zu Anderstein ihren Rücken gekehrt hatten.
Selbst Feledrion ging es nicht viel anders, aber schließlich begab auch er sich fort - nun doch gen Engasal, einen guten alten Freund zu trösten.


Das Lied "Einsamkeit" nach der Melodie von "Trautes Heim" aus Walt Disneys Dschungelbuch.
Feledrion / Atreos Haus

© OHHerde 1998