Der Dieb

von Oliver H. Herde

»Wo steckt dieser Feigling?« Ungeduldig zuckten die Blicke des vierzehnjährigen Rukus zwischen den Ständen des überfüllten Marktplatzes umher.
Die halb so alte Fina aber funkelte ihren Kumpanen böse an: »Atreo ist nicht feige!«
»Ach, halt die Klappe, sonst verlieren wir ihn noch!« wehrte Rukus ab. Damit meinte er den Krapfenhändler, der seine Leckereien gerade in einem flachen offenen Tragekasten auf dem Haupte balancierend umhertrug und für einen Heller das Stück anpries. Nicht aber auf die Backwaren hatten es die Kinder abgesehen, sondern auf den Inhalt seiner großen Gürteltasche.
Für einen Moment wurden die beiden von einem blonden Jungen in ebenso ärmlichen Lumpen wie sie selbst abgelenkt. Dieser machte sich lauthals über die verdächtig allzu roten Wangen eines bärtigen Küfers lustig, welcher gerade ein Fass über den Platz rollte.
Just da schoss Atreo aus seinem Verstecke unter dem Tisch eines Tuchhändlers hervor, dass er die dort herumscharrenden Hühner aufscheuchte. Erfolglos versuchte er, die Tasche von des Krapfenbäckers Gürtel zu lösen.
»He, du Lump!« rief jener und schnappte mit seiner freien Hand nach Atreo. Der Griff ging ins Leere, einige Krapfen wurden aus der Kiste geschleudert.
Der Dieb indes lief mitten zwischen einige Schweine, welche ihrerseits erschrocken auseinanderstoben. Eine Sau rannte eine kreischende Frau mit gepunktetem Kopftuche nieder, während die Hirtin mit ihrem Stock nach Atreo schlug, dass ihr hüftlanger Zopf umherwirbelte.
Mit einem Satz versuchte der Junge, sich über den Stand eines Weinhändlers zu retten, doch kam er an diesem und seinen Fässern nicht recht vorbei, dass er umkehren musste. Den nach ihm greifenden Armen ausweichend, sprang Atreo einem der Borstenviecher auf den Rücken, von dort auf Fina, die schreiend unter ihm zusammenbrach.
Atreo hastete weiter über den Stand des Tuchhändlers, da ihm andere Fluchtmöglichkeiten durch den Küfer und einen Mann mit Helm versperrt wurden. Von dort hüpfte er zum Obststand hinüber, wo er Händler wie Kundin die Kapuzen in die Gesichter zog.
Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war er nach eigenem Ermessen gewissermaßen schon gerettet. Nun brauchte er nur noch zu laufen. Allerdings prallte der schlaksige Junge schon nach wenigen Schritten gegen eine hochgewachsene Gestalt, dass er das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
Der Angerempelte bückte sich nach Atreo, reichte ihm helfend die schmale Hand, da trafen sich ihre Blicke. Schwarze, unvergleichlich friedliche Augen schauten aus einem ebenmäßigen, von silbernem Haar umwallten Antlitz auf den kleinen Flüchtling herab. Zwei spitze Ohren bewegten sich mit, als das Wesen zu lächeln begann.
Natürlich war dies nicht der erste Elf, dem der Zehnjährige in den Straßen von Havena begegnete. Dennoch kam es ihm wie ein erstes Mal vor. Dieser hier war auf irgendeine Weise anders als die anderen. So friedvoll und geborgen hatte sich Atreo noch niemals gefühlt.
Ein wütender Ruf riss beide aus ihrer Starre heraus. Der Elf half Atreo auf, während er irgend jemanden zu suchen schien.
Leider konnte Atreo nicht warten. Er musste seine Flucht vollenden. Da er sich weniger auf Kraft und Geschick, denn auf Raffinesse verlassen konnte, rannte er am Praiostempel nicht vorbei, wie seine Verfolger annahmen, sondern direkt zum Haupttor hinein. Unbemerkt von der Priesterschaft, den kreisrunden Altarraum aber ganz bewusst meidend, schlüpfte er durch das Gemäuer und zu einer Seitenpforte hinaus.

Erschöpft ließ sich Atreo im Irrgarten des Stadtparkes fallen. Hier war er sicher. Kaum jemand kannte sich hier so gut aus, wie die Straßenkinder, auch wenn man bemüht war, Gesindel von diesem Orte des Vergnügens und der Erholung fernzuhalten.
Der Junge musste nicht lange warten, bis ein vertrautes Gesicht um die Biegung in den Hecken feixte. Offenbar versteckte Fina etwas hinter dem Rücken.
Doch Atreos Ärger siegte über seine Neugier: »Noch mal mache ich nicht das Ablenkungsmanöver für Rukus!«
»Ist doch alles glattgegangen! Schau mal!« Damit zeigte sie ihm die beiden erbeuteten Krapfen. »Ein Bonus für uns beide.«
»Trotzdem ein blöder Plan!« nörgelte Atreo und verscheuchte eine ihn umkreisende Fliege.
Fina setzte sich neben ihren Freund und gab ihm seinen Anteil.
Wortlos essend saßen sie eine ganze Weile beisammen. Es bedurfte keiner weiteren Erklärungen Atreos, um Fina ihm geben zu lassen, was er brauchte: Verständnis und ihre Anwesenheit.
Endlich erschien auch Rukus. Mit einer Spendabilität heuchelnden Mine zahlte er jedem der beiden einen Heller und ein paar Kreuzer aus des Bäckers Tasche.
»Ist das alles?« fragte Atreo fassungslos.
»Ja, leider.« Er fegte eine lästige Fliege beiseite. »Nach Abzug meines und Remigorets Anteil...« Jener letztgenannte war ihrer aller Ziehvater und Hehler.
Atreo sprang auf und griff nach der Gürteltasche. »Zeig doch mal her!«
Rukus aber wandte sich zu schnell ab.
Da stand auch Fina auf und verschränkte wütend die Arme. »Zeig uns alles, dann teilen wir!«
»Da ist auch mein eigenes Geld mit drin«, behauptete der Ältere.
»Lügner!« Nochmals versuchte Atreo, an die Tasche zu kommen, doch Rukus war geschickter.
Allerdings kam so Fina zum Zuge. Schon mit dem ersten Griff förderte sie mehrere Heller und Kreuzer und gar einen Taler zutage.
»Verdammter Schuft!« brüllte Atreo. »Irgendwann betrügst du jemanden, der dich dafür niedersticht!«
»Willst du mir drohen?« Spottend schubste er den kleineren Widersacher von sich.
Jener aber war sofort wieder bei ihm. »Meinen Anteil will ich!«
Ein wildes Gerangel unter den Kindern brach aus. In dessen Verlaufe wurde Fina durch eine der Heckenwände geschleudert. Ihr Schmerzgeschrei nahmen die Kampfhähne kaum wahr, wohl aber ihr nachfolgendes entsetztes Kreischen. Wie eingefroren verharrten die beiden Jungen in ihren Bewegungen, bis Fina durch die entstandene Lücke im Gebüsch zurückstürzte. »Ein Toter! Er sieht ganz eklig aus!«
»Dann lasst uns hier verschwinden«, entschied Rukus eilig.
Doch Atreo hatte eine seltsame Neugier gepackt. Er wollte sich das ansehen. Mit einer vorsichtig langsamen, aber bestimmten Bewegung tauchte er in das beschädigte Gesträuch ein.
»Nicht!« flehte Fina.
»Ich werde doch keine Angst vor einer Leiche haben!«
»Also, ich warte jedenfalls nicht auf die Garde«, zischte Rukus und beeilte sich, fortzukommen.
Fina wollte ihren Freund nicht im Stich lassen, ihm zu folgen aber vermochte sie ebenso wenig. So wartete sie angespannt auf seine Rückkehr, beinahe das Atmen vergessend.
Jener indes erstarrte über einem greulich zugerichteten Körper, über den sich bereits zahlreiche Insekten hermachten. Es fehlte ihm an der nötigen Erfahrung, zu beurteilen, was dem Manne den Oberkörper aufgerissen hatte, dass die Eingeweide herausquollen. In der Tat, er verspürte keine Furcht vor diesem bemitleidenswerten Menschen, wenngleich ihm der Anblick natürlich eine gewisse Übelkeit bescherte.
Kaum aber, dass er sich über ersteres recht bewusst wurde, hörte er etwas knacksen. Wenn der Mörder noch in der Nähe war, so gab es allerdings etwas, wovor es sich fortzulaufen lohnte!
Ein schwerer Schritt.
Noch einer.
Sofort hechtete Atreo durch das Loch zurück, blieb mit den Beinen an irgendeinem Zweig hängen und prallte hart neben der zusammengekauerten Fina auf. Erschrocken zuckte sie, blickte auf, Panik in den feuchten Augen.
Atreo schnellte auf die Beine, schnappte die Freundin an der Hand und riss sie mit sich fort.


Atreos Haus

© OHH 2002