Eines Nachts in Neetha...

von Oliver H. Herde

Krachend flog die schwere hölzerne Tür aus den Angeln. Sofort waren die drei Reisenden hellwach. Gegen das vom Gang ins dunkle Zimmer einfallende Licht einer Funzel oder Fackel konnten sie vage einen muskelbepackten Kerl erkennen, zweifellos der Urheber der soeben geräuschvoll erfolgten Beschädigung des abgelegenen Gasthofes `Eternenrose'. Träge ließ sich der Klotz von einem etwas kleineren aber ebenfalls stämmigen Mann mit hüftlangem Bart beiseiteschieben.
"Kerrat Hagor!" erkannte ihn der Ingerimm-Geweihte Gordoran aus Havena, nachdem er seine Laterne unter dem Bett hervorgeholt hatte.
"Habe ich euch Landstreicher endlich gefunden", höhnte der Eindringling. "Der Graf wird sich freuen, euch wiederzusehen. Einhundert Dukaten bekomme ich für jeden von euch!"
"Noch hast du uns nicht in Gratenfels, elender Kopfjäger", platzte Fredo der Krieger hervor und sprang behende aus seiner Schlafstatt, wobei er seinen Zweihänder ergriff.
"Lubi", rief Kerrat Hagor. Sofort erschien eine weitere Person in der Tür. Es handelte sich um ein kleines Männlein mit dunkler Haut, das nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Der Winzling setzte ein Blasrohr an die Lippen und richtete es auf den barbrüstigen Fredo.
"Vorsicht, Lähmgift!" warnte der Streuner Atreo vom Wolfsberg seinen Freund, denn er hatte Lubi sofort als den Angehörigen des grausamen Stammes der Butiki erkannt und wusste um deren bevorzugte Waffe.
Blitzschnell zerrte Fredo seine Bettdecke vor sich. Der Giftpfeil blieb wirkungslos darin stecken. Und bevor Lubi einen zweiten Schuss tun konnte, zertrümmerte ein aus sicherer Hand des Streuners abgefeuerter Pfeil das Blasrohr. Atreos Balestrino, eine faustgroße Armbrust war eine Spezialkonstruktion nach eigener Idee, denn ihm fehlte seit dem Kampf mit einem Mantikor die linke Hand.
Mit blutender Unterlippe und einem ausgeschlagenen Zahn ergriff der Winzling die Flucht. Dafür platzten noch drei weitere finstergesichtige Männer herein. Zwei von ihnen stürzten sich sogleich auf Atreo, der dritte nahm sich gemeinsam mit dem Anführer den Ingerimm-Geweihten vor. Der Muskelriese dagegen hob gröhlend seine gewaltige Barbarenstreitaxt empor und ließ sie anschließend auf Fredo herabfahren. Dank der Gunst des Schicksals streifte er ihn nur am Unterarm. Das Bett jedoch hatte weniger Glück und wurde unter tosendem Krachen zertrümmert.
"Ich hole die Pferde", kündigte Fredo an.
"Wie das?" fragte Atreo, der sich diese Aktion angesichts ihrer großen Bedrängnis nicht so recht vorstellen konnte.
"So", erwiderte Fredo sich gegen seinen Feind werfend, und im nächsten Sekundenbruchteil stürzten die beiden Krieger aus dem klirrend zersplitternden Fenster.
"Hat dir schon mal jemand deinen Bart angezündet?" erkundigte sich Gordoran lachend, während er die auf einem Schemel abgestellte Laterne gegen die Brust des Anführers schleuderte. Augenblicklich loderte es grell im Gesicht des entsetzten Kopfgeldjägers auf. Dies war der geeignete Moment, für Atreo und Gordoran, ihrem Kampfgefährten zu folgen. Obwohl sie aber einigermaßen weich auf dem bewußtlos unter dem Fenster im ersten Stock liegenden Kraftmenschen landeten, verknackste sich Atreo seinen Knöchel.
"Dafür werde ich nicht viel Karma brauchen", erklärte Gordoran nach einer flüchtigen Begutachtung des Fußes.
Dann hielten die beiden Kampfgefährten ihre Verfolger mittels Pfeilbeschuss vom Fenster fern, bis Fredo mit den Pferden kam.
"Die Mädchen werden staunen, dass wir so früh aus Drôl zurück sind", schmunzelte Gordoran, als die drei in die Dunkelheit davonpreschten.


Atreos Haus

© OHH 1986