Daheim in der Fremde

Autoren: Lisa Tyroller und Oliver H. Herde

Sie streicht sich über die Stirn und lässt den Blick durch den Garten vor dem Haus schweifen, zu dem der Pfad führt. Gepflegter Rasen, dem die Hitze wenig anzuhaben scheint, wird er doch täglich auf künstliche Weise bewässert, liegt links und rechts des Weges, welcher in nicht ganz regelmäßigen Abständen von Oleanderbüschen gesäumt wird. Einige Schritte weiter in beide Richtungen stehen Bäume verschiedener Art, so etwa Akazien, Feigenbäume und vereinzelte mächtige Affenbrotbäume, dazwischen bisweilen Sträucher und Büsche. Was hinter den Bäumen liegt, ist nicht deutlich zu erkennen, doch das Grundstück ist von der Straße, die orthogonal zu dem weißen Kiesweg verläuft, auf dem die Sänfte mit Blick zur Hausfront abgestellt wurde, durch eine etwa einen Schritt hohe Mauer aus hellgrauem Stein abgetrennt. Ein kleines schmiedeeisernes Tor, kaum mehr als eine Gartentür, unterbricht auf Höhe des Pfades das Mäuerchen. Auf der linken Hälfte der Wiese findet sich ein kleiner Teich, in dem das Wasser sprudelt und gluckert, weil es von einem Rohr auf dem Grund des Beckens hochgetragen wird, doch als Springbrunnen ist es nicht zu bezeichnen. Steine umgeben den Teich und kleine Gras- und Farnbüschel. Vogelgezwitscher ist zu hören und wieder der Ruf von vorhin.
Es ist deutlich, dass viel Pflege notwendig ist, diesen Garten in einer Gegend, die von Hitze und Staub geplagt wird, zu unterhalten.
Für Zulhamina ist es nicht verwunderlich, dass die Herrin keine verletzte Sklavin will. Das würde schließlich ihren Wert mindern und Arbeitsausfall bedeuten. Daher nickt sie nur, um ihre Achtsamkeit zu bekunden.
Sie muss sich ein wenig zurücklehnen, als Mesherel aussteigt. Doch als diese draußen ist, folgt Zulhamina nicht nach, sondern steckt nur zaghaft den Kopf und somit auch die herabbaumelnde Leine hinaus. Möglicherweise soll sie hier ja warten.
Obgleich sie dadurch nur einen Teil des Gartens einsehen kann, erkennt sie doch bereits, wie viel größer er ist als das Anwesen des Mufat al Shadim. Sogleich beginnen in ihrem Köpfchen die Vergleiche, die Mutmaßungen, was ihr hier wie dort ergehen wird und was anders verlaufen mag. Dabei finden vor allem die eher symbolische Mauer und die vielen Bäume Beachtung.
Die saubere Luft tut Meherel gut, sie seufzt und schließt sekundenlang die Augen. Noch weiter schwächt sich das Pochen hinter den Schläfen ab und sie hat das Gefühl, freier atmen zu könen.
Als jedoch erneut der einzelne Vogelruf ertönt, lauter und näher als zuvor, öffnet sie die Lider und späht aufmerksam um sich.
Nach einem Moment des Wartens löst sich plötzlich ein Schatten aus dem Geäst einer Schirmakazie und ein schwarzer Vogel mit weißen Flügelspitzen und einem gelben Schnabel kommt auf die Frau zugeflattert. Sie hebt den linken Arm und ein Lächeln erhellt ihr Gesicht, als der Geflügelte sich mit einem weiteren Ruf, der geradezu triumphierend klingt in seinem trillernden Tonfall, auf ihrer Hand niederlässt. Dass seine Krallen dabei die braune Haut zerkratzen, scheint sie wenig zu stören.
Mit dem Zeigefinger der Rechten, den Schlüssel dabei sorgfältig festhaltend, streicht sie über sein Gefieder, das in der Sonne matt schimmert. Seine Zutraulichkeit muss für sie selbstverständlich sein, denn sie wirkt nicht verwundert, allenfalls erfreut, als er sich die Zärtlichkeiten gefallen lässt. "Nun, mein Schöner, hast du mich erwartet? Aber ich habe jetzt keine Zeit für dich. Hab' Geduld bis heute Abend, dann werde ich mich an deinem Gesang erfreuen."
Sie neigt den Kopf nach vorn, und für einen Augenblick erweckt ihre Geste den Eindruck, als wolle sie den Vogel auf den Schnabel küssen, doch bevor ihre Lippen ihn berühren, wirft sie mit einer ruckartigen Bewegung die Hand in die Höhe, und das Tier, den Schwung ausnutzend, lässt sich in einen Windstrom fallen, um sich von ihm emportragen zu lassen.
Sie sieht ihm nach, bis er nurmehr als münzgroßer Fleck zu sehen ist, dann wendet sie ihren Blick vom Himmel und dreht sich wieder zu Zulhamina um, die nicht ausgestiegen ist. Sie vermag die Mimik des Mädchens nicht recht zu deuten - ist es neugierig, ängstlich, scheu? Wie auch immer, aussteigen muss es, ungeachtet ihrer Gefühle.
Mesherel geht auf das Mädchen zu und nimmt die Leine in die Hand, ohne daran zu ziehen, denn es liegt ihr fern, das Kind zu strangulieren. "Komm, Zulhamina, zum Starren wirst du hier nicht kommen. Wir gehen ins Haus." Sie macht einen Halbschritt zur Seite, um dem Mädchen den Weg freizumachen.
Drei der vier Sänftenträger, die geduldig warten, bis sie sich mitsamt dem Gefährt entfernen dürfen, verziehen keine Miene, der jüngste jedoch grinst ein wenig, was Mesherels Aufmerksamkeit entgeht. Zwei Bewaffnete, die neben der Treppe, die zum Eingang des Hauses hinaufführt, Wache halten, betrachten das Mädchen mit zurückhaltender Neugier.
In einer Mischung aus Bestürzung und Faszination beobachtet Zulhamina das seltsame Geschehen. Ob die neue Herrin wohl eine Zauberin ist? Inständig hofft die Sklavin, ihr Leben nicht als kleine Maus zu beschließen.
Schon das Ergreifen der Leine betrachtet Zulhamina als Aufforderung, herauszukommen. Es ist mehr die Furcht vor den neuen Dingen, die ihre Bewegungen unsicher werden lassen, als die ihr großzügig erscheinenden Ketten. Schließlich steht sie bei Mesherel, unfähig, all die neuen Eindrücke zu erfassen.
Als das Mädchen auf eigenen Beinen steht, heben die Träger die Sänfte erneut an und transportieren sie um die Ecke des Hauses, wobei der Grinsende es sich nicht verkneifen kann, einen letzten Blick über die Schulter zu werfen.
Mesherel hingegen geht geradewegs über den Kiespfad auf die Treppe zu, die Wachen grüßen sie ehrerbietig, als sie mit Zulhamina im Schlepptau die Stufen erklimmt.
Die Außenwand des Gebäudes ist mit Kletterpflanzen zu einem Gutteil umrankt, deren Blätter allerdings ein wenig schlaff und teilweise bräunlich wirken. Sieben Stufen geht es hinauf, dann stehen die beiden Frauen auf einem Absatz vor einer übermannshohen hölzernen Tür mit zwei metallbeschlagenen Flügeln. Mit der Rechten - denn in der Linken hält sie die Leine - hebt sie den Türklopfer an, einen großen Ring, der laut scheppernd gegen den Löwenkopf schlägt, in dessen Maul er zu liegen kommt, als sie ihn fallenlässt.
Behende tappelt Zulhamina in schnellen, kurzen Schrittchen ihrer Herrin hinterher und nimmt wie geübt die Stufen.
Angesichts der Wachen zieht sie aber ein wenig den Kopf ein und weicht ganz bewusst ihren Blicken aus. Ob es im Hause Schätze zu verteidigen gibt? Bestimmt ist die neue Herrin sehr reich. Oder ihr Bruder, den sie erwähnte. Ob sie für ihn bestimmt ist? Unruhig knabbert sie auf der Unterlippe, die Hände vor dem Schoß haltend, während sie auf das Öffnen warten.
Flüchtig wirft Mesherel einen Blick über die Schulter, ob das Mädchen auch noch hinter ihr steht, was aber im Grunde überflüssig ist, da sie ja die Leine fest in der Hand hält.
Es wird einige Momente dauern, bis die Tür von innen geöffnet werden wird, da sie keine Diener unterhält, die ausschließlich diese Aufgabe zu versehen haben, und so dreht sie sich vollständig zu Zulhamina um, die aussieht, als wolle sie sich in ihren Körper zurückziehen, um sich zu verstecken.
"Kind, steh nicht da wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert wird. Ich weiß ja nicht, wie dein früherer Herr mit dir umgegangen ist" - eigentlich möchte sie den Satz anders weiterführen, aber auf einmal kommt ihr ein Gedanke - "hat er dich oft bestraft?" Sie runzelt in missbilligender Erinnerung an den Händler die Stirn, was aber zu unangenehm ist, um es lang beizubehalten.
Zulhamina hat durchaus keine Vorstellung, wie ein hypnotisiertes Kaninchen sich verhalten mag.
Die Frage aber beschäftigt sie viel mehr, während sie gerade zu stehen versucht. Wie ehrlich kann sie darauf antworten, ohne ein schlechtes Bild auf sich zu werfen? Unsicher kratzt die Linke den gegenüberliegenden Handrücken. "Ich..." Sie atmet aufgeregt wie ein Kind. "Ja, manchmal... Wenn ich nicht folgsam war..." Angestrengt sucht sie nach einer Ausrede. "Wenn ich ihn falsch verstanden habe - ich wollte immer ganz brav sein." Irgendwie glaubt sie sich selbst nicht so ganz.
Mesherel blickt ein wenig skeptisch drein ob dieser vagen Antwort. "Du wolltest folgsam sein, warst es aber nicht, weil du ihn falsch verstanden hast? Was ist geschehen, hast du Betten gekehrt und Böden aufgeschüttelt statt umgekehrt?" Ihr Gesicht ist völlig ernst bei dieser Frage und nichts deutet darauf hin, dass sie einen Scherz machen wollte.
Sie hält die Unterhaltung noch nicht für beendet, unterbricht sie aber, als der rechte Türflügel hinter ihr geöffnet wird. Ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren steht mit geneigtem Kopf da und hält den inneren Türgriff in beiden Händen. Offenbar ist der Flügel sehr schwer, denn es scheint den Jungen einige Mühe zu kosten, ihn am Zurückfallen zu hindern.
"Willkommen, Herrin", presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Rasch tritt Mesherel ein und zieht die Leine hinter sich her, um den Diener möglichst schnell aus seiner unbequemen Lage zu erlösen. Als sie und das Mädchen eingetreten sind, schlägt die Tür mit lautem Krachen hinter ihnen zu.
Im Haus ist es angenehm kühl, was darauf hin deutet, dass die Kletterpflanzen draußen auch in ihrem angeschlagenen Zustand diese wertvolle Aufgabe erfüllen.
Man steht in einem kurzen Flur, der mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt ist. Links und rechts geht je eine Tür aus schwarzem Holz ab, beide sind verschlossen. Geradeaus führt der Flur zu einem Vorhang aus Perlenschnüren, der von einem Windhauch leicht bewegt wird, so dass immer wieder Lichtstrahlen hindurchfallen. Es scheint, als läge hinter dem Vorhang ein Innenhof, aus dem das Geräusch plätschernden Wassers und Vogelgezwitscher dringt.
Im Flur selbst ist es für das lichtangepasste Auge sehr düster. Die Frau blinzelt und wartet darauf, dass sie sich an die Dunkelheit gewöhnt.
Allzu schnell dringen die neuen Eindrücke auf Zulhamina ein, als dass sie auf die seltsame Frage antworten könnte. Vielleicht ist es gut so, da sie diese nicht ganz versteht und ihr dazu nicht recht etwas einfällt.
Mesherel muss auch ein klein wenig an der leine ziehen, bevor die noch nachdenkende Sklavin in das dunkle Loch folgt. Immer kleiner wird Zulhamina angesichts des Unbekannten, das sie nun nicht einmal deutlich sehen kann. Und unter dem lauten Zuschlagen des Tores zuckt sie erschrocken zusammen.
Dann schaut sie mit eingezogenem, unbeweglichem Kopf aus furchtsamen Augen umher und knabbert wieder auf der Unterlippe.
Mit der Zeit nehmen die Schemen im Zwielicht klarere Formen an, so dass die Dame des Hauses in der Lage ist, sich in ihrem eigenen Heim zurechtzufinden. Im Flur gibt es allerdings in der Tat wenig zu sehen, und so richtet sich Mesherels Konzentration für einen Moment nach innen.
Die Furcht des Mädchens bemerkt sie vorerst nicht, ebensowenig wie das an die kleine Sklavin gerichtete schüchterne Lächeln des jungen Mannes, der in Erwartung entweder weiterer Anweisungen oder seiner Entlassung an der Tür bleibt.
Nach einem Augenblick des Sinnierens wendet sich Mesherel an den Diener: "Sag in der Küche Bescheid, dass ich heute später essen möchte. Dem Herrn bring aber sein Essen um dieselbe Stunde wie immer - und sag dem Sekretär, ich würde ihn gerne sprechen, sobald er Zeit hat."
Der Junge nickt pflichtschuldig und läuft den halbdunklen Flur entlang, durch den Vorhang auf den Innenhof hinaus, wo sich zu dem Gezwitscher fröhliches Gelächter gesellt hat. Die Teilung der Schnüre gestattet der Sonne, sich ein wenig freiere Bahn in den kühlen Flur zu brechen.
Dann richtet Mesherel ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen. Fast könnte man meinen, sie fahre ein winziges Bisschen zusammen, als ihr Blick auf die angstvoll geöffneten Augen in dem erschrockenen Gesichtchen fällt. `Aber - sie sieht ja fast aus wie...'
Sie zögert. Dann atmet sie ein und reibt sich über die Schläfe.
Zwar ist Zulhamina nicht die erste Sklavin, die beim Betreten des Hauses verschüchtert und scheu wirkt, doch scheinen diese Gefühlsregungen bei ihr besonders deutlich hervorzutreten - und das ruft seltsame Erinnerungen wach. Zu dem Pochen hinter der Stirn gesellt sich ein merkwürdiges Ziehen in der Kehle.
Ohne nachzudenken, beugt die Hausherrin sich herab und fragt leise: "Zulhamina - ist alles in Ordnung mit dir? Hast du so große Angst?"
Dem Burschen hat Zulhamina nur sehr scheu und vor allem aus Höflichkeit sein Lächeln erwidert. Als er geht, fällt es wieder zusammen.
Um so erschrockener schaut sie einen Moment zu Mesherel auf, als diese so unvermutete Fragen stellt. "Was? Ja, nein, ich meine... Herrin, ich weiß nicht." Oder doch? Sie setzt noch einmal an, aber es ist für sie allzu ungewohnt, nach ihren Gefühlen gefragt zu werden. Andererseits kann man das nicht wirklich Angst nennen, also erwidert sie nach einem Päuschen, weiteren Worten Mesherels doch noch zuvorkommend: "Nein, Herrin." Dass dies wegen der Doppelfrage auch missverstanden werden kann, entgeht ihr völlig.
Mesherel spürt die Verwirrung des Mädchens wohl, und obgleich es ihr schwer fällt, beschließt sie, auf die wenig aussagekräftigen Worte der Sklavin hin doch, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
"Also gut..." Einen letzten Moment zögert sie, dann dreht sie sich ruckartig zu der Türe rechterhand um und öffnet sie.
Auch dahinter liegt ein Gang, der aber immerhin mit diversen Lichtquellen wie Öllampen und kleinen Feuerschalen auf zierlichen Beinen erhellt wird. "Der rechte Flügel des Hauses ist der, in dem du dich hauptsächlich aufhalten wirst. Im linken wohnen mein Bruder und ich. Hier" - sie deutet im Vorbeigehen mit der Hand auf eine weitere Tür auf der rechten Seite des Ganges - "wohnen die Diener. Die männlichen, wohlgemerkt, es versteht sich von selbst, dass du hier nichts zu suchen hast."
Der Flur macht einen Knick nach links, dem sie folgt.
Irgendwie muss Zulhamina die Frage wohl befriedigend beantwortet haben, was sie sehr beruhigt.
Im Gang beschaut sie sich neugierig die Lämpchen, dass die Leine etwas straffer wird. Zugleich versucht sie, alles aufzunehmen, was die Herrin ihr erklärt. Besonders die verbotene Türe will sie sich genau einprägen, weshalb sie wie verträumt davor stehen bleibt.
Verblüfft bleibt Mesherel stehen, als sich die Leine in ihrer Hand mit einem kleinen Ruck strafft und sie sich am Weitergehen gehindert fühlt. Langsam dreht sie sich um, erkennt aber nicht, weshalb das Mädchen stehen geblieben ist.
"Zulhamina!" Scharf ist ihr Ton, befehlend, aber nicht laut. "Nun komm, ich sagte doch, hier hast du nichts zu suchen!"
Ob man auf das Mädchen besonders wird achtgeben müssen? Andererseits hatte Mesherel bis eben nicht den Eindruck, als sei die kleine Sklavin erpicht auf zu engen Kontakt mit Männern - ob sie sich da wohl getäuscht hat?
Schon bei dem leichten Ziehen an der Leine schwenkt Zulhaminas Aufmerksamkeit wieder zu Mesherel. Sogleich senkt sie demütig ein wenig den Kopf. "Ja, nein, Herrin!" bekräftigt sie ihre ungelenken Bemühungen, eine folgsame Sklavin zu sein. "Ich wollte nur... ähm..."
Nach einem sehr kurzen Blick zurück auf die Türe tappst sie dem anderen Ende der Leine entgegen und lässt den verfänglichen Satz lieber unbeendet.
Einen Moment presst Mesherel die Lippen zusammen. Sie mag es nicht besonders, wenn jemand im Gespräch mit ihr nicht beendet, was er zu sagen hat, aber sie weiß auch, dass man in unangenehme Situationen kommen kann, wenn man gezwungen wird, das, was man eigentlich sagen wollte, aber dann doch als unangebracht empfindet, auszuformulieren.
So seufzt sie nur kurz auf, dreht sich jäh wieder um - 'Nicht aufregen, das tut dem Kopf nicht gut.' - und setzt ihren Weg fort, an verschiedenen Türen und Vorhängen vorbei, deren Bedeutung sie nach der eben entstandenen Situation vorerst nicht erläutert. Es würde doch arg viel Zeit kosten, wenn das Mädchen vor jedem einzelnen Raum stehenbliebe, um darüber nachzudenken.
Das Schweigen ist Zulhamina wie ein Strafe, da sie nicht weiß, ob die Herrin sie denn nun verstanden hat oder wütend auf sie ist. Deutlich langsamer folgt sie, wobei sich die Leine immer wieder strafft, weil sie immer wieder zu den einzelnen Türen zurückschaut, die sie passieren. Ob die auch alle verboten sind?
Auf leisen, aber raschen Füßen geht es durch den Gang, der schmaler, aber länger ist als derjenige hinter der Eingangstür. Etwa auf halber Strecke erscheint linkerhand ein Vorhang, durch den die gleichen Sonnenstrahlen und fröhlichen Geräusche dringen wie zuvor, der also folglich zum Innenhof führen muss. Für das Gelächter hat die strenge Dame aber nun kein Ohr, sie passiert den Vorhang, ohne einen Blick auf ihn zu verschwenden.
Gerade als sie vorbei ist, huscht eine junge Frau mit einigen Tüchern und Gewändern auf dem Arm durch den Vorhang in den Gang und prallt beinahe mit Zulhamina zusammen. Überrascht hält sie inne, um ein Unglück abzuwenden und schenkt dem Mädchen ein mütterliches Lächeln, um abzuwarten, bis es an ihr vorüber ist, damit sie auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs in einem Zimmer verschwinden kann.
Auf das Rascheln der Perlenschnüre hin dreht Mesherel den Kopf, und als die Frau außer Hörweite ist, fragt sie: "Mit wievielen anderen Sklaven hast du denn bei deinem früheren Herrn zusammengelebt, Kind?"
Für einen Moment kommt sich Zulhamina fast wie auf dem Basar vor, aber das liegt wohl nur daran, dass sie hier mit keinem Zusammenstoß gerechnet hat. Alles ist auch noch viel zu neu für sie, weswegen sie ohnedem recht unsicher einhertappst.
So braucht sie auch ein Momentchen, sich der Frage bewusst zu werden und schließlich zu antworten: "Das hat gewechselt, Herrin. Der Herr hat seine Sklaven meist nur so lange gehalten, wie er sie gerade brauchte. Er ist sehr sparsam." Sie nickt bedächtig und brav lächelnd, als bete sie ihm gegenüber wieder, was er ihr beigebracht hat. "Da kann er sie auch auf ihren Nutzen prüfen, bevor er sie mit Gewinn weiterverkauft. Nur die alte Köchin hat er immer schon gehabt, glaub ich."
"Verstehe", murmelt die Frau abwesend. 'Gerissener Fuchs, abgefeimter noch, als er mir schon bewiesen hat.'
"Und warum", fragt sie dann wieder laut, während sie sich einer t-förmigen Kreuzung des Ganges nähert, wo dieser nach rechts und links, aber nicht geradeaus weiterführt, "wurdest du erst jetzt verkauft? Er kannte dich ja nun schon lang genug, um deine Fähigkeiten einschätzen zu können und alt genug zum Arbeiten bist du seit geraumer Zeit, wie mir scheint. Des weiteren wirst du sicherlich in früheren Jahren keine nützlichen Fertigkeiten besessen haben, die dir heute nicht mehr zu eigen sind und deren Verlust ein Anlass zum Verkauf gewesen wäre."
Die letzten Worte hat sie eher laut gedacht denn an Zulhamina gerichtet. Zwar gibt es durchaus den einen oder anderen Grund, den Mesherel sich dafür denken kann - schließlich ist das Mädchen gerade in dem Alter, in dem ihre Weiblichkeit zu knospen beginnt und so mancher Käufer hätte seine Freude daran gehabt - aber möglicherweise steckt noch mehr dahinter, als sie sich vorzustellen vermag.
Wie üblich muss die gedankenversunkene Sklavin erst ein wenig gezogen werden, bevor sie in Gang kommt.
"Ja", stimmt sie ein wenig traurig den Kopf senkend zu, "der Herr hat auch immer gesagt, dass ich noch zu wertlos bin, um verkauft zu werden..."
Ein wenig erschrickt sie, als ihr klar wird, wie sie sich gerade selbst vor ihrer neuen Herrin schlecht macht. Doch gesagt ist gesagt. "A-aber das ist ja jetzt wohl anders!" rettet sie sich. Ihr Blick zuckt immer wieder kurz hinauf, um Mesherels Mimik beurteilen zu können.
Während sie den Worten Zulhaminas lauscht, biegt Mesherel nach rechts ab. Hier geht der Gang nur noch ein kurzes Stück weiter, bevor er an der Hauswand endet. Immerhin wird dieser Teil des Flurs durch Sonnenlicht erhellt anstatt durch die trüben Fackeln und Lampen, da in die Mauer eine schmale Fensteröffnung gebrochen ist, die Aussicht auf einen Teil des Gartens gewährt.
Wie jemand sehen würde, der einen Blick nach draußen würfe, liegt sie einige Schritt über dem Erdboden. Unmittelbar unter dem Fenster ranken niedrige Rosenbüsche.
Doch daran verschwendet die Dame nun keinen Gedanken, ihr Herz ist erfüllt von Bitterkeit. Harte Falten entstehen um ihre Mundwinkel, und ihr Blick ist hart wie der Stahl ihres Mengbilars. Je mehr das Mädchen von ihrem früheren Besitzer erzählt, desto mehr beginnt ihn Mesherel ash-Yahun zu hassen. Ihr will nicht in den Sinn, warum ein Mensch einen anderen, gleich welchen Standes, so demütigend behandelt, wenn dieser es nicht verdient hat. Auch wenn die kleine Sklavin in mancher Hinsicht ein wenig ungeschickt sein mag oder bisweilen über ihre eigene Zunge stolpert, ist es beileibe nicht gerechtfertigt, sie mit Worten dermaßen abzuwerten.
Sie schluckt den Zorn herunter und bleibt vor einer Tür linkerhand stehen. Bevor sie sie öffnet, versucht sie allerdings, ihre Mimik wieder unter Kontrolle zu bringen, denn sie möchte nicht, dass das Mädchen den Eindruck erhält, sie wäre wegen ihr so aufgebracht.
Mit einem gezwungenen Lächeln wendet sie sich zu der Kleinen um. "Das ist mein Arbeitszimmer. Normalerweise hast du hier keinen Zutritt, das ist eine Ausnahme, hörst du?" Ihre Stimme ist heiser und klingt, als würde sie jeden Moment brechen.
"Ja, Herrin", versichert Zulhamina und fragt sich, was wohl der Anlass zu dieser Ausnahme sein mag. Zugleich geht ihr durch den Kopf, dass die Herrin mal einen Schluck trinken sollte, da sie doch eine so trockene Kehle zu haben scheint.
Dass sie selbst schon ein Weilchen nichts bekommen hat, fällt ihr gar nicht ein. Alles ist gar zu neu und aufregend für sie, um jetzt an Nahrung zu denken. Viel lieber möchte sie wissen, was sie in diesem Hause erwartet. Sie ahnt, dass nicht alles wie bei Mufat sein wird, und dies verunsichert sie natürlich einstweilen.
Kurz nickt Mesherel, ein letzter besorgter Blick streift das Mädchen, dann öffnet sie die Tür.
Dahinter liegt ein durch Tageslicht erleuchtetes Zimmer. An den Wänden finden sich einige Regale, teilweise mit Büchern und Schriftrollen, teilweise mit Ziergegenständen wie dekorativen Gefäßen oder fein gearbeiteten Instrumenten. In der Mitte des Raumes stehen zwei weiche dunkelrote Sofas auf einem Teppich einander gegenüber; zwischen ihnen liegen Sitzkissen auf dem Boden. Beherrscht wird die Einrichtung allerdings von einem schweren Schreibtisch weiter innen im Zimmer, der mit Arbeitsmaterial, Blättern, Notizen und Schreibzeug übersät ist.
Mesherel wartet, bis das Mädchen ebenfalls eingetreten ist, dann schließt sie die Tür. Einen Augenblick sieht sie sich stirnrunzelnd im Zimmer um - 'Welch eine Unordnung. Ich sollte nicht mehr aus dem Haus gehen, ohne hier vorher aufgeräumt zu haben, ich hasse es, hierher zurückzukommen, wenn es so aussieht!' - dann beugt sie sich zu der Kleinen hinab und fasst die Leine unmittelbar unter dem Halsband an, um sich die Konstruktion genauer zu betrachten.
Sehr bewundernd und aufgeregt schaut sich Zulhamina in dem neuen Raum um, der so gemütlich aussieht und zudem vermuten lässt, dass im Hause jemand sehr Gebildetes wohnen muss - vielleicht ja die Herrin selbst oder der Herr, von dem sie sprach. Von Unordnung bemerkt sie nichts, da sie ja nicht weiß, wie die Einrichtung gewöhnlich aussehen sollte.
Statt dessen nimmt sie brav ihr Köpfchen zurück, um der Herrin mit dem Kinn nicht im Wege zu sein.
Mesherel kann nicht umhin, den schlanken Hals und die glatte Haut des Mädchens zu bewundern und für einen Moment erwacht in ihr Neid auf Zulhaminas Jugend und kindliche Schönheit.
Um diese Gedanken abzuschütteln, konzentriert sie sich auf die Befestigung der Leine. Offenbar wird hier der Schlüssel vonnöten sein. Im Grunde selbstverständlich, könnte die Sklavin sich doch sonst ohne weiteres selbst befreien.
Mit geschickten Fingern steckt sie den kleinen Schlüssel in das noch kleinere Schloss am Halsband und dreht ihn, um die Leine abnehmen zu können, was sich auch ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen lässt. Mit der Leine in der Hand sieht sie sich kurz um und deponiert sie dann an einem freien Platz im Regal.
Daraufhin tritt sie wieder an Zulhaminas Seite und legt ihr sanft eine Hand auf den Rücken; mit der anderen weist sie vage in den Raum. "Komm, Kind, setz dich hin, ich möchte gerne unser Gespräch von zuvor weiterführen."
Die Bilder und vor allem Fragen, welche auf Zulhamina einstürmen, sind zu zahlreich, als dass sie sich ihrer überhaupt bewusst würde. Sie kann nur hoffen, dass sie sich an dieses neue Zuhause gewöhnen wird. Bislang ist ja auch noch nichts geschehen, was sie wirklich beunruhigen müsste. Doch gegen ein Gefühl der Unsicherheit ist selten ein Kraut gewachsen.
Auf den uneindeutigen Wink hin schaut sie sich noch einmal im Zimmer um und beginnt sogleich zu überlegen, wie sie es der Herrin rechtmachen kann. Bestimmt wird sie sich auf einem der großen Sitzmöbel niederlassen. Die Kissen am Boden sind gewiss für höhergestellte Sklaven, also setzt sich Zulhamina zwischen sie, wobei sie vorsichtshalber mehrfach zu Mesherel emporschielt. Denn zweifelt sie auch nicht daran, auf den Boden zu gehören, ist doch dadurch lange nicht klar, wo genau und in welche Richtung sie schauen soll.
Ein ein wenig bestürzter Ausdruck tritt auf Mesherels Gesicht, als die kleine Sklavin sich auf den nackten Boden - nun ja, nicht völlig nackt, denn da ist immer noch der Teppich - setzt, anstatt auf eines der Kissen. Allerdings gibt dieses Verhalten der Hausherrin recht eindeutige Hinweise darauf, welchen Rang in der Hierarchie der Bediensteten Zulhamina bislang eingenommen hat.
Tatsache ist, dass sich dieser Rang auch in Mesherels Diensten wohl kaum ändern wird, wie sie sich insgeheim eingestehen muss, aber was das Mädchen nicht wissen kann, ist, dass die Dame auch mit den niedriger gestellten Dienern im Haus durchaus menschlich umgeht, da ihr Leben und ihr Gerechtigkeitssinn von einschlägigen Erfahrungen geprägt wurden.
Aber das dem Mädchen zu sagen, so vermutet Mesherel, wird wenig Sinn machen, denn sicherlich hat die Behandlung durch den Händler die eine oder andere innere Barriere im Geist der Kleinen errichtet, die allein durch Worte nicht zu überwinden sein dürfte.
So unterdrückt sie ein Seufzen und setzt sich dem Mädchen gegenüber auf ein Sofa. Ihre Haltung ist dabei gerade und ein wenig steif.
Nach einem Moment des Überlegens öffnet sie den dunkelroten Mund und sagt: "Also, Zulhamina, in diesem Haus wohnen, wie gesagt, mein Bruder und ich, außerdem noch der Sekretär, aber den wirst du kaum jemals zu Gesicht bekommen. Auch meinem Bruder wirst du in den Fluren des Hauses nur selten begegnen, aber beiden hast du den gleichen Respekt zu zollen wie mir und ihnen zu gehorchen, hörst du?"
Im Grunde sind diese Dinge selbstverständlich und so fährt sie nach einer kleinen Pause fort: "Und was den Umgang mit gelegentlichen Fremden im Haus betrifft - bist du mit den gängigen Formen der Höflichkeit vertraut? Weißt du, wie man einem Gast aufwartet? Oder hat dein früherer Besitzer dich immer außerhalb der Reichweite von Gästen gehalten?"
Zulhaminas Blick folgt der Herrin, auch wenn sie ihren Hals dafür ein wenig verrenken muss. Allerdings schaut sie ihr selbstverständlich nicht direkt ins Antlitz, sondern nur hin und wieder kurz und versteckt.
Es wirkt rrecht streng, wie die Herrin nun so sitzt. Oder ob sie noch immer Schmerzen hat? Aber dann würde sie sicherlich etwas dagegen tun lassen.
"Ja, Herrin", nickt sie bei der Aufzählung, wem zu gehorchen sei. "Natürlich!" Für dieses kleine Nachwort duckt sie sich ein wenig. Hoffentlich war es nicht zu frech! Aber bis sie weiß, ob es hier Sklaven gibt, die nicht über ihr stehen, wird sie ohnehin jedem gehorchen.
Da dies auch für Gäste gelten wird, nickt sie wiederum eifrig und ehrerbietig zugleich. "Ja, Herrin, ich werde alle Wünsche der Gäste erfüllen. Ich war aber beim Herrn Mufat dann meist in der Küche."
Mesherel nickt. "Ja, das sagtest du bereits", murmelt sie.
Hinter ihrer Stirn pocht es kaum noch. Es war wohl wirklich nur die Hitze der Stadt, die ihr so zu schaffen machte. Aber ein seltsam hohles Gefühl hat sich nun in ihrem Kopf breit gemacht, als wäre ihr Schädel mit Wolle gefüllt. So hat sie eigenartige Schwierigkeiten dabei, ihre Gedanken in klare Worte zu fassen, und fühlt sich auch ein wenig schwindelig. Dass das Mädchen sich unter ihrem Blick zu ducken scheint, bemerkt sie kaum. Ihre Sicht wird für einen Moment verschwommen und sie schließt kurz die Augen, um wieder klar sehen zu können.
"Gut... also... und... du sagtest vorhin, er hätte dich manchmal bestraft, wenn du ihn nicht richtig verstanden hast. Was für Missverständnisse gab es da?" Obgleich sie diese Frage wirklich interessiert, hat sie doch vorhin keine Antwort mehr darauf erhalten, wirkt sie ein wenig abwesend, als sie sie ausspricht.
Wahrlich, dies ist Zulhamina kein angenehmes Thema! Sie möchte doch möglichst brav und nützlich sein!
"Wenn... wenn ich was Falsches gebracht habe oder so... oder mich verlaufen... Oder wenn ich tolpatschig war." So manches war ihr passiert, das der Herr nicht als Kleinigkeit hatte auf sich beruhen lassen. Aber das alles aufzuzählen, fürchtet sich Zulhamina doch sehr.
Der Blick der Hausdame wird wieder klar. "Verlaufen?" Sie hebt die Augenbrauen. "In seinem Haus?" Irgendwie hat sie so einen Verdacht, was das Mädchen mit 'verlaufen' meinen könnte und in ihren Augen liegt ein Funkeln.
"Da nicht so", versucht Zulhamina zu erklären. Tatsächlich spürt sie unbewusst, wie die Herrin ungehalten zu werden droht. "Mehr draußen, in den Straßen. A-aber das ist ganzganz lang her, Herrin, bestimmt!" Sie verschweigt lieber erst einmal, weswegen.
Einen Moment behält die Herrin ihren strengen Gesichtsausdruck noch bei, dann schleicht sich ein schelmisches Lächeln in ihre Mundwinkel, verweilt dort auch ein Weilchen, breitet sich aber nicht weiter aus.
Sie beugt sich ein Stückchen vor. "Zulhamina", beginnt sie ruhig, "ich werde dich für nichts bestrafen, was zu deiner Vergangenheit gehört. Aber ich verlange, dass du ehrlich zu mir bist. Das heißt nicht, dass du mir alles erzählen musst, was du erlebt oder getan hast. Alles, was ich möchte, ist, dass ich nicht das Gefühl haben muss, du sagst andere Dinge als du denkst. In Ordnung?"
Aufmunternd sieht sie das Mädchen an, das auf sie bereits wieder diesen verschüchterten Kaninchen-Eindruck macht. Dabei muss sie sich eingestehen, dass sie für die Kleine durchaus Sympathie hegt. Ob sie wohl die Mauern in ihrem Geist eines Tages wird überwinden können? Mesherel hat schon viele Sklaven - auch befreite - gekannt, denen das niemals gelang. Und auch wenn das Kind zu ihrer Dienerschaft gehört, so möchte sie doch ein gutes Verhältnis zu ihr aufbauen, einer der Gründe für dieses Gespräch. Die Frage ist nur, ob Zulhamina das irgendwann verstehen wird.
"Ja, Herrin." Jene scheint es durchaus ehrlich zu meinen, also nimmt sich Zulhamina vor, dies auch zu sein. Im Grunde ist sie das tief im Herzen ohnehin, weswegen sie so schlecht lügen kann und sich auch schon bei Mufat immer verplapperte.
Und wie war jetzt eigentlich die Frage der Herrin? Was will sie hören? Die Strafen? Nein, die Vergehen! "Der Herr mochte keine Verschwendung. Er war immer sehr bös, wenn ich etwas verkippt habe. Oder wenn ich vergessen habe, ihm Respekt zu zollen, Herrin."
Ein mitfühlender Blick tritt in Mesherels Augen. Zwar kann sie verstehen, dass ein Hausherr auf den Respekt seiner Diener Wert legt - schließlich geht es ihr genauso - doch es gibt für alles ein Maß. Solange ihre Diener loyal und höflich sind, ist es ihr meist herzlich gleichgültig, ob sie sie nun mit einem leichten Kopfnicken begrüßen oder mit einer Verbeugung bis zum Boden.
Und was das Verkippen betrifft... so etwas kann passieren und eine Strafe hilft da im Nachhinein nur selten.
All diese Gedanken kriechen recht zäh durch ihren müden Kopf und sie sieht das Mädchen versonnen an. "Wir werden uns da schon einig werden", murmelt sie eher zusammenhanglos.
Weitere Herzschläge vergehen, bis sie wieder den Mund auftut. "Du musst keine Angst haben, dass dir hier jemand übel gesonnen ist."
An sich würde sie die Unterhaltung gerne fortführen, hat sie doch gerade das Gefühl, dass Zulhamina ein bisschen auftaut, aber ein flaues Gefühl im Magen erinnert sie daran, dass sie das Mittagessen verschoben hat. Und das Kind... das hat sicher auch den ganzen Tag noch nichts bekommen. Unvermittelt fragt sie: "Sag, Mädchen, bist du hungrig? Es dürfte jetzt um die Zeit sein, wo die Dienerschaft ihre Mahlzeiten einnimmt."
Höflich nickt Zulhamina. Von selbst wäre sie wohl noch eine ganze Weile nicht auf diesen Gedanken gekommen. Mufat hat sie heute eher mehr und besser als sonst essen lassen, weil er sich wohl dadurch ein erfolgreicheres Geschäft erhoffte. Aber natürlich ist ein kleiner Magen schnell leer, ebenso wie er schnell voll ist.
Zulhamina ist sehr gespannt, nun den Alltag in diesem Hause kennenzulernen. Alles deutet darauf hin, dass vieles anders für sie werden wird. Ob sie schon aufstehen soll? Bestimmt soll sie in der Küche essen, aber wenn sie jetzt gleich aufspringt, ist die Herrin bestimmt beleidigt.
"Alsdann..." Ein wenig mühsam erhebt sich die Dame des Hauses von ihrer Sitzgelegenheit.
"Dann komm mit, ich zeige dir, wo du mit den anderen essen kannst." Mehr oder weniger elegant schlängelt sich Mesherel an dem Mädchen vorbei und geht zur Tür. Die Leine, die im Regal liegt, beachtet sie nicht weiter, sondern schaut sich nur kurz abwartend nach der kleinen Sklavin um.
Offenkundig ist es Zulhamina gewohnt, sich in Fesseln zu bewegen, denn die Ketten spannen kaum irgendwo an, als sie sich in einer recht fließenden Bewegung aufrichtet und ihrer Herrin nachtappelt.
Mesherel nickt und öffnet die Tür. 'Dieses Kettengewirr... ob das wirklich nötig ist? Nun, man wird sehen, wie sie sich verhält, wenn sie nicht unter meiner ständigen Obhut ist.'
Sie tritt hinaus und wendet sich nach rechts. Ihr Magen grummelt leise und sie zischt reflexartig "Shht!", als könne sie ihren natürlichen Körperfunktionen befehlen.
Unwillkürlich muss Zulhamina grinsen, als das Rumoren im Körper der Herin zu vernehmen ist. Doch schon im nächsten Moment erschrickt sie über ihre eigene Reaktion und hält sich eilig die Hände zwischen Mund und Schleierchen. Da jedoch die Ketten nicht genügend Spielraum lassen, muss sie dafür deutlich gebückt und mit kleineren Schrittchen weiterhoppeln.
Das Grinsen des Mädchens entgeht Mesherel, da sie ihren Blick nach vorne gerichtet hält, wo der Gang weiterführt. Nur einen winzigen Moment sieht sie sich nach der Kleinen um, während sie an dem Flur vorbeigeht, aus dem sie vorhin gekommen ist. 'Was tut sie denn da? Ob ihr übel ist?'
Rechterhand taucht ein Vorhang auf, den sie ignoriert. Als sie jedoch wenige Augenblicke später einen weiteren zur Linken erreicht, bleibt sie stehen. Schweigend wartet sie auf Zulhamina, die trotz ihrer Erfahrung im durch Ketten behinderten Laufen nicht so rasch ausschreiten kann wie die hochgewachsene Dame.
Zum Glück dauert es nicht allzu lang, bis sich Zulhamina wieder beruhigt hat. Sie kann sich wieder aufrichten, wodurch ihre Hände nicht mehr an das Gesicht heranreichen, und etwas schneller zu der Herrin aufschließen. Einzig mit einem zurückhaltenden Schmunzeln hat sie noch zu kämpfen.
Dass bei all diesen Dingen, die in ihrem kleinen Köpfchen herumspuken, mal wieder überhaupt nicht auf den Weg achtet, entgeht ihr gänzlich.
Mit einem wenig aussagekräftigen Lächeln nimmt Mesherel das Mädchen in Empfang und legt ihr die Hand auf den Rücken, als die Kleine sie erreicht. Dann streckt sie den anderen Arm aus und schiebt die Hälfte der Vorhangschnüre beiseite, um sich und der Sklavin Einlass zu verschaffen. Von innen schlägt ihnen Essensgeruch entgegen, jedoch kein so penetranter wie in einer Küche.
Tatsächlich handelt es sich um einen gewöhnlichen Raum, in dem keinerlei Gerätschaften zur Zubereitung von Speisen zu sehen sind, sondern in dem lediglich eine Anzahl von Leuten verschiedenen Alters auf diversen Sitzgelegenheiten am Boden hockt und aus Schüsseln eine einfache Mahlzeit zu sich nimmt. Das angeregte Plaudern verstummt, als die Dame eintritt und zahlreiche Augenpaare richten sich auf das ungleiche Paar, vornehmlich die Kleinere von beiden.
Natürlich widersteht Zulhamina dem leichten Schieben nicht absichtlich; lediglich ein leichtes Zögern aus Unsicherheit kann man ihr vorwerfen, als sie eintritt. Den Kopf hält sie schnell demütig gesenkt - auch während sie ihren vorsichtigen Rundumblick schweifen lässt. Und kaum dass sie nicht mehr den ans Weitergehen gemahnenden Druck spürt, vollführt sie einen kleinen Knicks zur Begrüßung der Anwesenden.
Dass jene auch Sklaven sein mögen, lässt sie jedenfalls nicht vermeinen, mit ihnen auf gleicher Stufe zu stehen.
Einige der Anwesenden sind aufgestanden, um sich vor der Herrin zu verbeugen, doch handelt es sich dabei hauptsächlich um die älteren unter den Bediensteten. Die meisten jüngeren begnügen sich damit, den Kopf ehrerbietig zu neigen und mit dem Essen innezuhalten.
Ein betagter Mann, an dem der Zahn der Zeit unübersehbare Spuren hinterlassen hat, tritt näher und öffnet den beinahe zahnlosen Mund zu einem freundlichen Lächeln. "Willkommen, Herrin."
Seine Stimme zittert ein wenig und ein Junge springt auf, um ihn zu stützen, als er für einen Moment ins Wanken zu geraten scheint. Es handelt sich um denselben, der zuvor die Tür geöffnet hat.
"Was verschafft uns die Ehre?" fragt der Alte respektvoll, aber nicht unterwürfig, als er sich wieder gefangen hat. Offenbar ist es keineswegs an der Tagesordnung, dass sich die Hausherrin im Esszimmer der Dienerschaft aufhält.
Mesherel lächelt sanft angesichts des Alten und schiebt Zulhamina einen halben Schritt vor. "Ich grüße dich, Assar." Wie es scheint, betrachtet die hochgewachsene Frau den Ergrauten nicht schlicht als Diener, sondern hegt durchaus Zuneigung für ihn.
Dann fährt sie mit gesenkter Stimme fort: "Dies ist Zulhamina. Sie ist noch sehr jung, also kümmere dich um sie, bis sie sich eingelebt hat. Zunächst soll sie in der Küche arbeiten und in Obhut der Köchin stehen."
Der Alte betrachtet das Mädchen aus trüben Augen und nickt fröhlich zu den Worten Mesherels.
Die Szene mit unverändert scheuem Blick beobachtend, fragt sich Zulhamina ob die jungen Diener wohl in höherer Gunst stehen als die alten. Andererseits wäre es möglich, dass die Herrin sich von den niederen nicht überragen lassen möchte. Wie auch immer, hier ist offensichtlich manches anders, als Zulhamina es vom Hause des Mufat her kennt. Das wird es ihr nicht leicht machen.
Den alten Mann ordnet Zulhamina als den Vorsteher der Dienerschaft ein. Ob er vielleicht sogar ein Freier ist? Jedenfalls sinkt ihr Köfchen unter seiner Musterung verunsichert noch ein wenig tiefer, bis sie auf ihre eigenen blanken Zehen schaut.
Dass mit der Köchin eine Frau für sie zuständig sein soll, erleichtert sie ein wenig. Vielleicht darf sie ja sogar wie bei ihrem vorigen Herrn nahe des Kamins schlafen, wo der Boden nachts nicht so kühl ist.
Der Alte kichert leise, als er des verschüchterten Gesichts des Mädchens gewahr wird. Beschwichtigend hebt er die Hand. "Nun, nun", lacht er freundlich, "wir kümmern uns um die Kleine. Die Köchin ist eine gute Frau, weiß, wie umzugehen ist mit den jungen Dingern." Er neigt das runzlige Haupt tief vor der Herrin und fügt hinzu: "Keine Sorge, Herrin Mesherel, keine Sorge für das Kind, wir kümmern uns." Trotz seiner etwas eigentümlichen Art, die Wörter zu stellen, spricht der alte Mann gänzlich ohne Akzent.
Die Dame des Hauses nickt und nimmt die Hand von Zulhaminas Rücken. "Nun geh und iss etwas", sagt sie zu der Sklavin.
Der Alte lacht erneut und winkt dem Mädchen, ihr zu den anderen Bediensteten zu folgen. Der Junge hält weiterhin stützend seinen Arm, wirft aber währenddessen ein scheues Lächeln auf die Kleine.
Vom etwas wunderlichen alten Mann abgelenkt, beachtet Zulhamina den jüngeren kaum mehr als die restlichen. So viele Leute bringen sie sowieso immer etwas durcheinander.
Ob der Alte schon ein wenig senil ist? Jedenfalls behagt Zulhamina nicht gar so sehr, offenbar so viele verschiedene Weisungsbefugte über sich zu haben - das gibt bestimmt noch Verwirrungen und Ärger.
Sie stolpert nur ein oder zwei kleine Schrittchen voran, als sie losgeschickt wird. Keinesfalls liegt dies an den Fußketten, sondern an der Unsicherheit, wo sie sich denn hinsetzen darf. Bestimmt gibt es nicht nur eine feste Rangordnung, sondern auch Plätze, die höheren Sklaven oder gar freien Dienern vorbehalten sind. Etwaige Sitzmöbel oder -kissen zieht Zulhamina ohnehin nicht in Betracht. Schließlich hält sie sich für sehr gut erzogen. Orientierungslos schaut sie umher.
Zulhaminas Unsicherheit entgeht Mesherel nicht, aber irgendwie wird die Kleine lernen müssen, sich zurechtzufinden; wirklich helfen kann ihr da niemand, auch die Hausherrin nicht, glaubt diese. Zwar wird ihr auch keiner das Leben betont schwer machen, über die anfängliche Unsicherheit aber muss sie alleine hinwegkommen. Und so dreht die hochgewachsene Frau sich nach einem letzten skeptischen Blick auf das Mädchen um, tritt durch den schwingenden Vorhang und eilt davon. Ihre Schritte verhallen im Gang.
Währenddessen ist der alte Assar in Begleitung des Jungen zu seinem Platz zurückgekehrt, um dort sein unterbrochenes Gespräch sogleich wieder aufzunehmen. Auch die meisten anderen haben sich wieder gesetzt, um ihre Unterhaltungen und die Mahlzeit weiterzuführen. Die kleine Sklavin scheint vergessen, zumindest beachtet der Alte sie nicht weiter.
Der Junge aber, nachdem er sich vergewissert hat, dass er den Greis allein lassen kann, richtet sich auf und geht mit verhaltenem Lächeln zu dem Mädchen zurück. Ein, zwei Herzschläge lang betrachtet er das kindliche Gesicht schweigend, dann öffnet er den Mund und fragt: "Hast du keinen Hunger?"
Je weiter sich die Herrin entfernt, desto mehr vermisst Zulhamina ihre leitende Hand. Inzwischen steht die kleine Sklavin fast wie erstarrt in der Nähe des Durchganges. Sie hat ihre Abwartehaltung eingenommen, indem ihre Hände einander nun vor dem Schoße halten. Ihr Kopf ist noch ein wenig gesunken und ebenfalls bewegungslos. Nur die Augen springen unruhig umher, suchend, musternd.
Als der junge Mann auf sie zutritt, behält sie ihn mit dem abgesenkten Blick fixiert. "Ich... ja, nein... ein bisschen..." Stottert sie auf die Frage hin. "Wowo soll ich denn sitzen?" Dann fällt ihr ein, dass noch nicht einmal davon die Rede war, und so schließt sie vorsichtshalber an: "...wenn ich darf?"
Ein Strahlen breitet sich auf dem jugendlichen Gesicht aus, als dem Jungen klar wird, dass hier jemand steht, der offensichtlich kompetenter Hilfe bedarf. Das Mädchen sieht sehr nett aus, und so wird er ihr nur allzu gerne behilflich sein, was das Einfinden in Mesherels Haushalt betrifft.
"Sicher darfst du. Warum denn nicht? Hier sitzen doch alle." Er weist mit der Hand in den Raum. "Da drüben ist Platz und da steht auch noch was zu essen." Sein Zeigefinger deutet an eine freie Stelle nahe einer der Zimmerwände. "Ich sitze auch da", fügt er gleich einem überzeugenden Argument hinzu, das Mädchen aufmerksam beobachtend.
Aus den Worten schließt Zulhamina, dass der junge Mann Sklave niederster Rangordnung sein muss - so, wie sie sich selbst auch einzuschätzen gelernt hat. Ganz am Rand, wie es sich gehört.
"Danke", bringt sie in leiser Schüchternheit hervor und tappst auf die ihr zugewiesene Stelle zu. Als sie diese fast erreicht hat, kann sich ihre Aufmerksamkeit auch endlich von der übrigen Dienerschaft abwenden, von der sie sich so beobachtet fühlt, und schauen, was es zu essen gibt.
Auf seiner Lippe herumkauend trabt der Junge hinter der neuen Sklavin her. Sehr gesprächig scheint sie nicht zu sein. Na, vielleicht ändert sich das ja noch. Sie ist ja auch ein paar Jahre jünger als er und sicherlich viel schüchterner.
An seinem Platz angekommen, lässt er sich auf den Boden fallen und lehnt sich gegen die Wand. Eigentlich ist er schon satt, aber warum sich sonderlich beeilen, wenn es ohnehin kaum etwas zu tun gibt in diesen Tagen? Es muss wohl mit der Hitze zusammenhängen, die brütender als sonst über der Stadt liegt, denn schon manches Mal ist ihm aufgefallen, dass es weniger Arbeit gibt, wenn es besonders heiß ist. Er kann sich zwar nicht recht erklären, wieso das so sein mag, da es im Haus eigentlich immer angenehm kühl ist, aber er wird sich hüten, seine aufgabenfreie Zeit aufs Spiel zu setzen.
Auf dem Boden direkt vor ihm stehen ein Korb mit grobem Fladenbrot in etwas unförmigen Stücken und drei mittelgroße Schüsseln, in der ersten eine hellrote Flüssigkeit, in der kleine dunkle Stückchen schwimmen, aus der Dampf aufsteigt, in der zweiten gebratene Fleischstücke, von denen nur noch eine Handvoll übrig ist, und in der letzten getrocknete Datteln. Etwa eine Armlänge entfernt befindet sich noch eine Platte mit ein paar Früchten: Arangen, Pfirsiche und Granatäpfel, die allerdings schon ein bisschen verschrumpelt aussehen. Daneben stehen ein Krug mit Wasser und einige irdene Becher, teils benutzt.
Einige andere Sklaven jüngeren Alters sitzen ebenfalls um die Schalen herum und bedienen sich fröhlich plaudernd daraus. "Mit der Soße musst du aufpassen", sagt der Junge und deutet auf die rote Flüssigkeit, "die ist scharf." Er greift nach einem Stück Brot und tunkt es vorsichtig hinein.
Zunächst überlegt Zulhamina unsicher am Mittelfinger kratzend, wovon sie wohl nehmen darf. Am ehesten scheinen ihr die alten Granatäpfel angemessen. Bei Mufat hat sie ja fast nur Küchenabfälle bekommen.
Doch der andere Sklave korrigiert ihre Vermutung auf die Soße hin. Folglich nimmt auch sie ein Brot und folgt seinem Beispiel. Es scheint nicht nur scharf, sondern auch heiß zu sein, also bewegt sie das Brot langsam, dass es auf seinem Wege ein wenig abkühlt. Andererseits möchte sie nicht unleidig wirken, indem sie mit dem Essen allzu lange zögert, also verschwindet das Soßenbrotstück unter das leicht gelüftete Schleierchen und zwischen ihren Lippen.
Mit sichtlichem Behagen beißt der junge Sklave in sein Fladenbrot, nachdem auch das Mädchen sich davon genommen hat. Leise schmatzend rückt er ein wenig hin und her, um eine bequemere Haltung einzunehmen.
Dann sieht er das Mädchen von der Seite an. Irgendwie wirkt es auf ihn geradezu grazil, als sie einen Bissen in den Mund nimmt und dabei so zart und klein aussieht. Nachdenklich kaut er weiter. Als er runtergeschluckt hat, fragt er: "Wie heißt du denn eigentlich?"
Sich höchst bewusst, dass sie beobachtet wird, bekommt Zulhamina alles noch schwerer herunter. Fast verschluckt sie sich sich daher auch, als sie angesprochen wird.
"Zuzulhamina."
Eigentlich hat sie gar keinen rechten Appetit, aber irgendwie möchte sie die Situation überspielen und tunkt daher schnell wieder ihr Brot ein.
Ein wenig verdutzt sieht der junge Mann aus. Hat sie nun gestottert oder heißt sie wirklich so? Ach, was soll's, so wichtig ist das ja gar nicht, er wird es schon noch herausbekommen. "Ich bin Kahid."
Er lächelt einen Moment lang breit, dann fällt sein Blick auf ihre Ketten. Er deutet mit der Rechten darauf. "Warum musst du die tragen?"
Scheu müht sich Zulhamina, das Lächeln zu erwidern, doch die neue Frage beendet diesen Versuch. Darüber hat sie nicht so genau nachgedacht. Für sie gehören Fesseln jeglicher Art zum Alltag. Allerdings fällt es ihr schwer, diesen Umstand in Worte zu fassen - eben, weil er ihr so natürlich erscheint.
"Ich, also... dasdas war doch... Ich meine, mein voriger Herr hat gut aufgepasst, dass er nichts verliert. Die alte Köchin war die einzige, die nicht mal ein Halsband trug, weil er wohl sicher war, dass sie bei ihm bleibt."
Das Brot ist vergessen. Statt dessen blickt Zulhamina vorsichtig zu Kahid, ob der damit wohl zufrieden ist. Gleichzeitig sucht sie nach weiteren Erklärungen.
Nachdenklich beißt Kahid in sein Brot und kaut gedankenvoll darauf herum. Als der Bissen in seinen Magen gewandert ist, kratzt er sich am Kopf. "Also, hier hat eigentlich keiner Ketten oder sowas. Es würde auch keiner weglaufen, glaube ich. Also, nicht nur wegen der Wachen draußen. Den meisten geht es hier ganz gut, weißt du. Natürlich nicht so gut, wie wenn wir alle frei wären und uns eine richtige Arbeit suchen könnten oder ein Geschäft aufmachen, aber schlecht hat es hier keiner. Die Herrin ist ziemlich streng, aber böse ist sie nicht. Ich denke, sie hält nichts von Ketten. Assar hat mal was in der Art gesagt."
Grüblerisch sieht er das Mädchen an. "Vielleicht hat sie nur vergessen, sie dir abzunehmen. Sie ist manchmal ein bisschen zerstreut." Er grinst halbherzig.
Nur wenig versteht Zulhamina von den Andeutungen einer für sie vollkommen fremdartigen Lebensweise. Dass Wachen auf Dauer Fluchtversuche verhindern können sollten, erscheint ihr so abwegig, dass sie gar nicht weiter darüber nachdenkt. Und natürlich arbeiten Sklaven nur dann gut, wenn sie gesund sind. Aber von was für einem Geschäft der junge Mann spricht, ist für Zulhamina kaum nachzuvollziehen, zumal ihre Gedanken schon weitergelenkt werden. Vielleicht findet die Herrin Ketten ja hässlich oder weiß, dass sie für manche Gelegenheit unbequemer sind als andersartige Fesseln.
Die letzte Bemerkung jedoch scheint Zulhamina all diese Rätsel zu erklären: Bestimmt hat Kahid nur gescherzt und sie ein wenig angeflunkert. Ein wenig verulkt kommt sie sich vor, aber dennoch zwingt sie sich zu einem höflichen Lächeln, wobei ihr Blick allerdings auf das inzwischen zusammengeknüllte Stückchen Brot in ihrer Hand sinkt.
Kahid nagt auf seiner Lippe herum. Irgendwie reagiert das Mädchen nicht so, wie er gehofft hat. Kein Ton kommt über ihre Lippen und ansehen will sie ihn wohl auch nicht. Und ihr Lächeln... naja, von Herzen scheint das nicht zu kommen, soviel Menschenkenntnis hat er.
So starrt er missmutig auf den Boden. Dabei hatte er sich so über jemanden gefreut, dem er ein bisschen helfen könnte und mit dem es sich vielleicht auch mal über etwas anderes als den üblichen Kram hätte reden lassen können. Also blickt er eine Weile schweigend vor sich hin, bis er endlich den Mut findet, zu murmeln: "Wenn... wenn du nicht mit mir sprechen magst, dann musst du es sagen."
Es scheint, als wolle er noch etwas anfügen, aber dann presst er rasch die Lippen aufeinander und schweigt wieder. Der Appetit ist ihm vergangen.
Bis eben hat Zulhamina nachgedacht, ob sie Kahid irgendwas über die Herrin fragen könnte. Oder was die Wachen denn nun wirklich für eine Aufgabe haben. Aber seine letzten Worte lassen sie stutzen. "Wawarum, wie kommst du darauf?"
Verdutzt sieht Kahid Zulhamina an. Er hatte schon fest damit gerechnet, dass sie seine Ahnung bestätigen und ihm mehr oder minder deutlich sagen würde, dass ein Gespräch mit ihm wirklich nicht erwünscht ist. Aber wie es scheint, hat er sich geirrt - vielleicht ist sie ja tatsächlich nur schüchtern. Oder - naja, die erste Zeit in einem neuen Haus ist meistens schwierig, das stimmt schon.
Also holt er tief Luft und erklärt: "Naja, weil... weil du so schweigsam bist. Und fast nichts gesagt hast. Da hab' ich gedacht, du magst vielleicht nicht mit mir reden. Könnte ja sein." Mit Hoffnung in den Augen blickt er dem Mädchen ins hübsche Gesicht.
In dem Antlitz spiegeln sich in schnellem Wechsel und teilweise gar gleichzeitig Unsicherheit, Entschuldigung, Ratlosigkeit und Nachdenklichkeit. "Nein, aber ich weiß doch nicht, was ich sagen soll und darf!"
Dass sie mit Männern insgesamt noch nicht viel geredet hat, ist ihr gar nicht recht bewusst, doch hemmt es sie zusätzlich, zu dem jungen Sklaven dauerhaft aufzuschauen.
"Vievielleicht magst du mir sagen, waworauf die Wachen aufpassen. Bestimmt ist die Herrin sehr reich?"
Am Essen hat Zulhamina auch kein großes Interesse, da ihr Hunger sowieso noch nicht groß war. Dennoch beschäftigt sie mehr aus Verlegenheit die Finger, indem sie noch etwas von Brot und Soße nimmt.
"Wenn... wenn du magst..." Das leise Lächeln, das dem jungen Mann jetzt wieder aufs Gesicht tritt, ist noch sehr vorsichtig, aber immerhin spricht daraus Zuversicht. "Ich glaube schon, dass die Herrin sehr viel Geld hat, denn sie hat viele Diener und ein großes Haus und einen Sekretär und sie kauft und verkauft Sachen, Stoffe und so. Aber ich habe gehört, dass eigentlich nicht wirklich ihr, sondern ihrem Bruder all das Geld gehört, nur ist der viel älter als sie und krank und kann das alles nicht mehr selbst verwalten. Darum kümmert sie sich darum, weil sie das besser kann als er. Er geht gar nicht mehr aus dem Haus und das Essen muss man ihm auch meistens aufs Zimmer bringen, damit er nicht in den Speisesaal gehen muss. Vorhin habe ich es ihm gebracht!"
Seine Augen leuchten vor Stolz darüber, was er alles weiß und dem Mädchen erzählen kann, aber er senkt seine Stimme ein bisschen, als er fortfährt: "Warum die Wachen da sind, da bin ich mir nicht so sicher. Ich meine, es gibt ja schon vieles hier im Haus, was jemand stehlen könnte, und sie passen auf, dass niemand einfach so reinkommt, auch keine ungebetenen Gäste und so. Es stehen auch welche hinter dem Haus und an den Seiten, damit es von allen Seiten bewacht ist. Naja, und sie geben Acht, dass niemand einfach so wegläuft von den Dienern. Aber da hab' ich dir ja schon gesagt, dass das eigentlich keiner tun würde. Das ist also nicht ihre Hauptaufgabe. Denke ich."
In der Hoffnung, die Kleine ein wenig beeindruckt zu haben, sieht er sie erwartungsvoll an.
Nebenher isst Zulhamina noch halbherzig, dann muss sie zwischendurch ob des Redeflusses des Jungen ein klein wenig schmunzeln, doch ist sie insgesamt viel zu beeindruckt, um beides fortzuführen. Staunend lauscht sie, wobei ihr Mund sich etwas öffnet, als triefe ihr von all dem neuen Wissen ein Teil schon wieder über die Lippen heraus.
Das mit den vielen Wächtern ist ihr allerdings unerklärlich und geradezu unheimlich. "Seltsam..." murmelt sie nur nachdenklich. Unschlüssig schielt sie im Raum umher.
Aufmerksam beobachtet der Junge jede Geste Zulhaminas und jeden Gesichtsausdruck, der unter dem Schleier zu erkennen ist. "Seltsam? Wieso?" fragt er, ist es für ihn nach all den Jahren, die er hier zum Haus gehört, doch selbstverständlich, unter diesen Bedingungen zu leben.
Bevor das Mädchen jedoch Gelegenheit finden kann, zu antworten, erheben sich ein paar der anwesenden Bediensteten und rasch folgen alle anderen nach. Manche greifen nach den Schüsseln auf dem Boden, andere verlassen das Zimmer, ohne sich weiter aufzuhalten. Offenbar ist die Mahlzeit beendet. Einige treten durch den Vorhang, durch den Mesherel und die kleine Sklavin vorhin hereingekommen sind, die meisten jedoch passieren den zweiten, der dem anderen ungefähr gegenüber liegt und auf den Innenhof hinausführt.
Auch Kahid steht auf und nimmt in jede Hand eine der kleineren Schüsseln. "Du musst in der Küche arbeiten, nicht wahr? Soll ich dich hinbegleiten? Das Geschirr muss ja sowieso dorthin", sagt er scheinbar beiläufig, Zulhaminas Gesicht nicht aus den Augen lassend.
Natürlich seltsam! Und zwar auch, dass es den Sklaven gar nicht zu wundern scheint, wofür die vielen Wachen denn nun wirklich dienen.
Der allgemeine Aufbruch jedoch bringt Zulhamina nicht nur von ihren Grübeleien ab, sondern geradezu in helle Aufregung. Was wird denn nun aus ihr? Wo laufen denn alle hin? Was soll sie nun tun?
Zum Glück erinnert sie Kahid an die Anweisung mit der Küche. "Ja, ich glaube wohl, ja." Immer noch ziemlich erregt schaut sie nach weiterem Geschirr, das sie mitnehmen könnte und steht dann auf. Es ist wirklich beachtlich, wie wenig die Ketten sie behindern! "Ja, ich weiß nicht, wo sie ist, die Küche."
Die Aufregung des Mädchens entgeht dem jungen Mann nicht, doch erklärt er sich diese schlicht durch die Tatsache, dass die neue Sklavin sich eben erst in dem neuen Zuhause zurechtfinden muss. Und dass er ihr zeigen kann, wo die Küche ist - ja, es ist sogar seine Pflicht, findet er - freut ihn natürlich außerordentlich.
Er grinst ein bisschen, während er sich dem Vorhang zuwendet, durch den Zulhamina vorhin hereinkam. "Ich hab' ja gesagt, dass sie manchmal zerstreut ist. Die Herrin, meine ich. Sonst hätte sie dir bestimmt schon gezeigt, wo du arbeiten sollst. Naja, wahrscheinlich hat sie angenommen, dass Assar dich hinbringt."
Er blickt sich flüchtig nach dem Alten um, doch der hat den Raum bereits verlassen, ohne auch nur einen Gedanken an das Mädchen zu verschwenden. "Der alte Mann vergisst halt sehr viel", erklärt er, während er auf den Gang hinaus tritt. "Eigentlich hat er das Amt des Vorstehers nur noch inne, damit er sich nicht so unnütz vorkommt. Die Herrin mag ihn sehr gern, aber arbeiten kann er schon gar nicht mehr, weil er immer vergisst, was er eigentlich tun wollte. Das kommt vom Alter, glaube ich."
Im Flur wartet er kurz auf das Mädchen, damit sie aufschließen kann.
Anscheinend sind hier alle etwas vergesslich oder sonstwie wunderlich, beginnt Zulhamina zu befürchten. So lange sie nett sind, ist das natürlich nicht so schlimm. Vielleicht sieht man ihr dann auch leichter kleine Fehler nach.
Eilfertig müht sie sich, schrittzuhalten.

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Zulhamina / Kurzgeschichten

Redaktion und Lektorat: OHH