Die erste Nacht

Autoren: Lisa Tyroller und Oliver H. Herde

Es ist dunkel geworden.
Den Rest des Tages hat die kleine Sklavin in der Küche bei wenig anstrengenden Arbeiten verbracht und wurde dabei von den anderen dienstbaren Geistern des Hauses freundlich, wenngleich nicht übermäßig herzlich behandelt, mag man einmal von Kahid absehen, der beim Abendessen keinen Moment zögerte, sich neben Zulhamina zu setzen und sie mit Geschichten und Fragen zu überhäufen.
Es mag dem Mädchen im Lauf des Tages gelegentlich einmal aufgefallen sein, dass es hier viel zu viele Diener und Sklaven zu geben scheint. Für jede noch so kleine Aufgabe lässt sich jederzeit jemand erübrigen, kaum einmal muss irgendeine Sache auf ihre Erledigung warten. Zwar tritt man sich nicht gerade unablässig auf die Füße, aber viel Trubel ist in den einzelnen Räumen, die die Kleine während des Nachmittags gesehen und betreten hat, doch gewesen.
Nun, da sie unter den anderen Dienerinnen des Hauses in einem großen Schlafraum liegt, hat sie zum ersten Mal die Gelegenheit, sich einen Überblick zu verschaffen. Mädchen und Frauen verschiedensten Alters liegen auf Matten auf dem Boden, unterhalten sich noch ein wenig in der Dunkelheit, klatschen über dies und das oder sind bereits am Einschlafen unter ihren dünnen Decken. Usha allerdings ist nirgends zu sehen.
Allmählich wird es stiller in dem großen Zimmer.
Eigentlich geht Zulhamina erst jetzt ganz langsam so richtig auf, dass es sich bei all den Leuten wohl wirklich um Diener handeln muss. Was für ein seltsamer Haushalt! Allerdings hat sie ja auch erst zwei wirklich kennengelernt, und der eine existiert schon so lange nicht mehr!
Aber noch weitere ungewohnte Dinge stellt sie fest: Man hat sie nicht angekettet. Immerhin scheint sie durch den Verkauf bereits ein klein wenig in ihrem Rang aufgestiegen zu sein, da sie mit anderen Sklavinnen zusammen in einem Zimmer liegen darf, die nicht einmal überhaupt irgendwelche Fesseln tragen. Aber vermutlich sind es doch welche, sonst würde man ihnen wohl Zulhaminas Anwesenheit nicht zumuten. Bestimmt sind sie alle schon sehr lange hier im Hause und genießen daher ganz besonderes Vertrauen. Und es ist ja auch wirklich in jeder Hinsicht schöner als bei Mufat - nur eben noch sehr ungewohnt.
Vorsichtig lauscht Zulhamina dem Wispern, wenn sie auch nicht gar so viel versteht und mit ihren Gedanken ständig abschweift. Die anderen jedoch zu fragen, wer und vor allem was sie sind, getraut sie sich nicht, obgleich sie dies doch so sehr beschäftigt!
Dass Frau Usha nicht hier ist, beunruhigt Zulhamina ein klein wenig. Ob sie doch frei ist? Aber vermutlich ist es für niedere Freie der richtige Titel statt Herrin. Zulhamina hatte ja nie Umgang mit solchen.
Unruhig wälzt sie sich auf ihrer Lagerstatt, die ihr fast zu weich vorkommt. Ihr kleines Herz pocht aufgeregt, nun offenbar mehr wert geworden zu sein. Eigentlich war niemand recht böse heute, nicht einmal der Hausherr. Rastullah meint es wohl gut mit ihr. Nicht allerdings mit ihrem Schlaf, den sie erst nach einer langen Weile findet.
Aber die Erlösung währt nicht lange, denn immer wieder erwacht die kleine Sklavin. Die Umstellung und Aufregung sind einfach zu groß. Und irgendwann steht sie schließlich vom Lager auf. Allerdings ist sie sich dessen gar nicht recht bewusst. Im Halbschlaf wandelt sie ein paar Schritte, bis sie mit den bloßen Zehen gegen eine benachbarte Matte stößt. Sie hält inne und gibt ein leises, unwilliges Brummeln von sich.

Auch eine andere Frau findet in dieser Nacht keinen Schlaf. Unruhig wälzt Mesherel ash-Yahun sich auf ihrer Bettstatt hin und her. In ihr rumort etwas, drängt etwas, will etwas sich Recht verschaffen. Wüsste sie nur, um was es sich dabei handelt...
Sie sieht verändert aus, ganz unterschiedlich ist sie von der ehrfurchtgebietenden Erscheinung, die sie am Tage darstellt. Ihr dichtes, dunkles Haar ist aufgelöst und liegt in weichen, verspielten Wellen auf dem Kissen. Ihre schwarzen Augen sind frei von verschönernden oder auch verunstaltenden Kosmetika, ebenso ihr Mund und ihre Wangen. Dennoch wirkt sie weder viel älter noch unansehnlicher als bei Tage. Nur weicher, vielleicht auch ein bisschen verletzlicher.
Nackt bis auf das dünne Stück Seide, das ihren bloßen Körper bedeckt, liegt sie da und versucht, ihre wirren Gedanken zu ordnen.

Schließlich tappst die Sklavin mit leise über den Boden schleifender Fußkette weiter durchs Dunkel des Schlafraumes. Noch immer ist sie nicht wirklich wach. Die Hände hält sie nur ganz leicht vor sich erhoben. Tatsächlich würde sie ein größeres Hindernis wohl eher mit den Augen im Unterbewusstsein registrieren, denn ihre Lider flackern ständig ein wenig.
Die Matratze aber leitet sie vermittels ihrer tastenden Zehen in eine Richtung, in der sie für einige Schritt freien Weg hat. Schließlich bleibt sie vor der Wand stehen.
Noch hat sie die Räumlichkeiten des Hauses noch nicht so verinnerlicht, dass sie im Schlafe die Türe finden würde. So bleibt ungeprüft, ob sie diese hätte öffnen können.
Eine ganze Weile verharrt sie so mit dem Gesicht zur Wand, bis sie sich schließlich davor niederlegt und zusammenrollt, um ihren Schlaf fortzusetzen.

Immer noch liegt die Herrin des Hauses wach, es scheint sogar, als würde sie von Minute zu Minute wacher. Klarer und klarer klingt ein Ton in ihr, aber noch nicht klar genug, um wirklich erkennen zu lassen, was genau er besagt. Da ist Traurigkeit und Wut, dann Sanftheit, der Wunsch zu helfen und etwas zu ändern, Zuneigung und Hilflosigkeit. 'Die Kleine...'
Plötzlich ist der Gedanke ganz und gar deutlich. Ihre Augen weiten sich. Und dann beginnt sie zu weinen, sie, deren Kühle und Strenge ihren Schutz darstellt.
'Wie ich, wie ich...' Das Mädchen erinnert sie an Zeiten, die sie lange verdrängt und unbeachtet in den längst abgeschlossenen Kapiteln ihres Geistes weggeschlossen hat. Schluchzend vergräbt sie das Gesicht in den schlanken Händen.
Lange weint die stolze, schöne Frau in der Einsamkeit ihres Gemachs. Sie weint um sich selbst und um ihre Jugend, sie weint um andere, denen es besser, und wieder andere, denen es schlechter erging als ihr. Sie weint, bis endlich, nachdem Mitternacht längst gekommen und wieder gegangen ist, der Friede einkehrt.
Mit dem Frieden kommt noch etwas anderes und sucht sich eine Heimstatt in ihrem Geist. Es sind Gefühle der Wärme. Der Wunsch, an jemand anderem etwas wiedergutzumachen, was in ihr viel zerstört hat. Mehr als Höflichkeit. Freundlichkeit. Güte.
Sie wird sehen. Vielleicht wird es auch für sie eine Erleichterung bringen. Noch ist alles verschwommen und unklar, aber es steht zu hoffen, dass der Morgen Klarheit bringen wird.
Von tiefen Seufzern und letzten Schluchzern bewegt, findet sie endlich Schlaf.

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Zulhamina / Kurzgeschichten

Redaktion und Lektorat: OHH