Morgenverwirrung
Autoren: Lisa Tyroller und Oliver H. Herde
Ein beständig anwachsendes Rascheln und Rumoren zupft an Zulhaminas Ohren. Zugleich müht sich das Licht des jungen Tages, unter ihre Lider zu kriechen.
Da wird sie von einer der anderen Sklavinnen angestupst. "Na, willst du nicht aufstehen?" Unter allgemeinem Gekichere verschwindet sie mit den anderen hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ungläubig blinzelt Zulhamina den Mädchen und Frauen nach, muss sie sich doch überhaupt erst einmal orientieren, wo sie sich eigentlich gerade befindet. Ob sie will? Wer hätte sie sowas schon jemals ernsthaft gefragt! Aber immerhin klang es nicht so streng wie von Mufat oder seiner Köchin. Dennoch seltsam, dass alle hinausrennen! So ganz ohne eine Anweisung!
Zwei weitere Frauen kommen durch den Vorhang zum Waschraum herein und verschwinden schwatzend auf den Gang hinaus, ohne Zulhamina weiter zu beachten.
Nun scheint Zulhamina allein zu sein. Langsam wird ihr klar, wie säumig sie erscheinen muss. Und austreten muss sie auch noch! Drum rappelt sie sich eilig, wenn auch wiederum etwas verwirrt und zugleich verschlafen vom Boden auf und tippelt wegen des Kettengeschirrs und um der größeren Schnelligkeit willen auf Zehenspitzen zum Vorhang.
Nachdem sie sich erleichtert hat, beäugt sie die Wasserkrüge. Ob das so recht ist, wenn sie sich wäscht? Nach einem etwas hilflosen Umherschauen, taucht sie einfach einmal kurz ihre Hände ins Wasser und wischt sich damit über das Gesicht.
Die Hände am Schurz abwischend, muss sie kurz nachdenken, durch welchen der beiden Vorhänge sie den kleinen Raum eigentlich betreten hat. Doch viel interessanter ist die Frage, was sich hinter dem anderen verbergen mag. So steckt sie dort vorsichtig ihr Köpfchen hindurch.
In dem Raum ist niemand zu sehen. Er ist nicht übermäßig groß, verglichen mit dem Schlafraum der Dienerinnen, aber wenn man bedenkt, dass hier allem Anschein nach - und das einzelne Bett weist darauf hin - nur eine Person nächtigt, so hat man hier gewiss nicht an Platz gespart.
Zwar ist das Zimmer ansonsten nicht sonderlich luxuriös ausgestattet, aber doch durchaus wohnlich und hübsch. Auf einem kleinen Tisch steht eine Schale, gefüllt mit Erde, aus der kleine, zarte Pflänzchen zaghaft die Köpfe stecken.
Ein Teil des Bodens ist mit einem ausgetretenen Teppich bedeckt, dessen Muster allenfalls noch vage erkennbar ist, und durch ein Fenster linkerhand von Zulhamina fällt erstes graues Tageslicht. Ein Regal hängt über dem Bett an der Wand und ist gefüllt mit allerlei Erinnerungsstücken, wie es scheint.
Auf dem Fensterbrett stehen einige Töpfe, die ebenfalls Pflanzen beherbergen, wohlriechende Kräuter, wie man auf den zweiten Blick erkennen kann - und natürlich auch riechen, so man denn nahe genug hingeht. In einer Ecke steht eine bauchige Korbflasche, die aber wohl eher der Zier als einem anderen Nutzen dient.
Zur Rechten des Mädchens führt eine Tür aus dem Raum, die im Moment allerdings nicht offen steht.
Zögerlich tappst Zulhamina in den Raum. Sie ahnt natürlich, dass sie eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Andererseits ist es viel zu schön hier, um es nicht zu betrachten. Vermutlich ist das Zimmer nicht prunkvoll genug, um der Herrin zu gehören, aber vielleicht hat sie ein Kind? In jedem Falle kann dieser Raum nach Zulhaminas Überzeugung unmöglich einem Sklaven gehören. Vielleicht dem Wachhauptmann oder der Köchin.
Mit schiefgelegtem Köpfchen stellt sie sich an den Tisch und betrachtet die kleinen Pflänzchen. Nebenbei schnuppert sie nach dem Duft der Kräuter, und ihre Hände halten einander vor dem Schoße.
Auf der anderen Seite der Tür kommen Stimmen näher, werden lauter und dann wieder leiser, als ihre Besitzer vorbeigehen und sich entfernen.
Helles Vogelgezwitscher dringt durch das Fenster und die Kräuter verbreiten ihren feinen Duft nach Küche, Heimeligkeit und Wärme. Alles ist sehr ruhig und friedlich, nur draußen vor dem Fenster werkelt eine gebückte Gestalt zu dieser frühen Morgenstunde im Garten herum.
Anscheinend nimmt der ältere Mann Zulhaminas Bewegungen in dem kleinen Zimmer wahr; jedenfalls richtet er sich auf und späht mit zusammengekniffenen Augen zu der Fensteröffnung hinauf.
Schon bei den Stimmen ist Zulhamina etwas zusammengezuckt und hat sich etwas hinter den Tisch geduckt. Sie weiß, sie dürfte nicht hier sein!
Schon will sie sich beruhigt zu den Pflanzen am Fenster umdrehen, als sie des alten Mannes gewahr wird. Erschrocken stolpert sie rückwärts und stößt einen kurzen halblauten Schrei aus. Dann findet sie sich auf dem Boden sitzend wieder.
Nach einem Moment der Besinnung krabbelt sie unter den Tisch, wobei ihre Ketten leise klirren und über den Boden schleifen.
Unten im Garten zuckt der Mann die Schultern und bückt sich bereits wieder zu seinen Pflanzen herab, als ihm allmählich in den Sinn kommt, dass der leise Schrei, den er undeutlich vernommen hat, ebenso eigenartig ist wie das seltsame Klirren, welches ihn an etwas erinnert, wenngleich er nicht genau weiß, an was. Er blickt wieder auf, kann aber keine Bewegungen mehr erkennen und runzelt skeptisch die Stirn.
Mit behutsamen, wiegenden Schritten kommt er zum Haus herüber und bleibt unter dem Fenster des Zimmers der Köchin stehen. "Usha?" ruft er nach einem Augenblick schweigenden Horchens hinauf. "Ist alles in Ordnung bei Euch?"
Zusammengekauert blickt Zulhamina zu dem Fenster hinüber und wundert sich zunächst, warum dort niemand zu sehen ist. Aber nein, das Haus steht ja irgendwie erhöht! Ob das die Sklaven vom Weglaufen abhalten soll?
Aber viel wichtiger: Was nun? Wenn sie nicht antwortet, kommt man bestimmt nachsehen, ob der Köchin etwas geschehen ist. Selbst, wenn sie sich jetzt davonstiehlt, findet man bestimmt leicht heraus, wer sich hier unerlaubt Zutritt verschafft hat.
Wie war gleich die Frage? Möglicherweise genügt ein kleines Wörtchen, den Gärtner beruhigt fortzuschicken. "Ja!" ruft sie mit gesenkter Stimme.
Noch immer liegt ein leichtes Stirnrunzeln auf des Gärtners Gesicht, aber bevor er weiter darüber nachdenken kann, warum die Köchin, die doch immer für einen kleinen Plausch zu haben ist, sich heute so einsilbig verhält, wird er abgelenkt von einer weiblichen Altstimme, die ihn anspricht, um ihm in etwa die gleiche Frage zu stellen wie er der Köchin.
"Stimmt etwas nicht?" fragt Mesherel, die soeben um die Ecke des Hauses geschritten ist, um ein wenig in diesem meist eher ruhigen Teil des Gartens umherzugehen.
Der ältere Mann dreht sich um und schüttelt den Kopf. "Nein, Herrin. Ich hörte Geräusche, aber es scheint nichts gewesen zu sein." Mit leicht nachdenklichem Gesichtsausdruck kehrt er endgültig an seine Arbeit zurück, während die Hausherrin noch einen Moment lang neugierig zu dem Fenster hinaufsieht, bevor sie sich abwendet und leise summend über das Gras spaziert.
Auwei, die Herrin! Am besten, Zulhamina verlässt sofort den Raum, bevor die beiden draußen doch etwas bemerken!
In ihrer Hast und Furcht ist die Sklavin nicht so leise, wie sie es gerne hätte. Schon auf dem Wege zum Vorhang, entschließt sich Zulhamina doch für die Türe, um vorzugaukeln, die Köchin zu sein. Zitterig reißt sie diese etwas zu schnell auf und späht hinaus auf den dahinterliegenden Gang nach links und rechts.
Sicherlich wäre es am besten, nun zur Küche zu eilen. Immerhin ist die gestrige Tätigkeit der einzige Anhaltspunkt für Zulhamina, was man heute von ihr erwarten mag. Aber wo bei Rastullah ist sie gerade und wo die Küche!? Nach nur einem Tag und in ihrer Aufregung ist es nicht leicht für die junge Sklavin, sich in diesem großen Hause zurechtzufinden. Jedenfalls erstreckt sich der mit Türen und Vorhängen bestückte Gang in beiden Richtungen recht lang. So viele Möglichkeiten!
Schließlich entscheidet sie sich rein intuitiv für einen Vorhang schräg gegenüber. Auf der anderen Seite gelangt sie auf den Hof mit dem großen Wasserbecken - falls es derselbe ist. So recht festlegen würde sich Zulhamina nicht darauf. Das Licht ist irgendwie ganz anders.
Schüchtern steht sie noch herum - die Hände wie meist vor dem Schoße haltend - und beobachtet, wie der eine oder andere Diener über den Hof eilt. Aber niemand beachtet sie.
Niemand - bis auf einen wohlbekannten jungen Mann, der gerade mit dampfnassen Haaren und Kleidern aus der Waschküche auf den Hof tritt und selbst auf diese Entfernung hin sofort das Gesicht der kleinen Sklavin ausmacht. Eiligen Schrittes überquert er den Hof und kommt auf sie zu.
Erst als er sich ihr bis auf eine geringe Distanz genähert hat, bleibt er zögernd stehen. Er räuspert sich. "Hm - Guten Morgen." Kahid wird ein wenig rot. "Wohin bist du unterwegs?"
Allzu sehr mit dem eigenen Problem beschäftigt, bemerkt Zulhamina Kahids Unsicherheit nicht. "Ich weiß nicht", erklärt sie verschämt von einem Bein aufs andere tretend. "Mir hat keiner gesagt, was ich arbeiten soll oder ob es erst Frühstück gibt."
Allein die letzte Äußerung einer Möglichkeit kommt Zulhamina schon etwas vermessen vor, drum ergänzt sie eilig. "Bestimmt wird erst das essen für die Herrschaft bereitet. Aber ich habe mich ein wenig verlaufen."
Da sie die Wäscherei wiedererkennt, müsste es daneben zur Küche gehen. "Ähm, da lang...?" Sie weist mit zaghafter Geste in die Richtung.
"Äh, ja", antwortet Kahid ein wenig überrascht, "aber das Frühstück ist schon vorbei. Weißt du, die Herrin steht immer sehr früh auf und wir natürlich dementsprechend auch; du bist ein bisschen spät dran..." Der Junge sieht fast genauso betreten aus wie die Kleine. "Ich meine, wir finden sicher noch was in der Küche für dich, das ist nicht das Problem, nur..."
Er hält einen Moment inne und kaut unglücklich dreinblickend auf der Lippe. Dann meint er zögernd: "Die haben dir wirklich nicht viel erklärt, oder?" Es kommt dem jungen Mann wie eine Grausamkeit vor, dieses zarte Geschöpf so wenig informiert und hilflos in diesem Haushalt arbeiten zu lassen. Irgendwie scheint sich niemand wirklich zuständig zu fühlen und wer sich seinen Platz nicht selbst sucht, wird einfach vergessen. So gern er hier lebt, diese Tatsache kann er gar nicht leiden. Und so fühlt er mit dem Mädchen mit, als wäre er selbst der Leidtragende.
Zunächst wird Zulhamina durch das Herumgedruckse regelrecht beunruhigt. Wohlmöglich wird man sie für ihre Langsamkeit bestrafen? Aber zumindest diese irrige Vermutung klärt sich ja schnell auf.
"Nein", erwidert sie nachdenklich. "Will die Herrschaft, dass wir raten, was wir tun sollen?" Ihre Frage klingt sehr ernst und ehrlich gemeint, wenn auch natürlich besorgt. Das wäre eine ungeahnt hohe Anforderung!
Ob dieser in ihrer Naivität doch sehr verständlichen Frage muss Kahid lächeln, und mit einem Tonfall, der ihn einen flüchtigen Moment lang sehr viel reifer erscheinen lässt als er es ist, antwortet er: "Man könnte es fast meinen, nicht? Aber... nein, so ist es nicht. Nur.. naja, also... du hast sicher gemerkt, dass hier irgendwie... also" - er gerät ins Stottern - "es sind viel zu viele Leute, man steht sich in den Räumen fast auf den Füßen und es gibt eigentlich gar nicht so viel zu tun, weil außer der Herrin, ihrem Bruder und dem Sekretär ja nur wir hier wohnen. Das Haus in Ordnung halten eben. Aber auch dafür sind wir zu viele. Und Frau Usha hat mir mal erklärt, dass die Herrin, also, dass sie sich immer mehr Bedienstete kauft, weil sie selbst mal... wie andere Leute andere Dinge sammeln... ähm..." Er verheddert sich in seinen Erläuterungen.
"Und darum, weil das so viele sind, hat keiner mehr den rechten Überblick und wenn jemand neues kommt, dann gibt es eigentlich nicht viel für den zu tun und deshalb wird er manchmal erstmal irgendwie vergessen oder niemand denkt daran, dass ja noch jemand..." Verwirrt hält er inne. Als die Köchin ihm das einmal auseinandergesetzt hat, klang alles viel einleuchtender.
"Also, das soll dir Frau Usha erklären. Komm mit, ich gehe kurz mit in die Küche. Dann kannst du sicher auch erstmal frühstücken." Mit einem aufmunternden Lächeln setzt er sich in Bewegung.
Was die Herrin auch mal gewesen sein könnte, will der kleinen Sklavin so rasch nicht einfallen. Aber auf jeden Fall scheinen hier alle ein wenig konfus zu sein. Hoffentlich ist das nicht ansteckend!
Aber wenn es essen gibt, sollte man das niemals ausschlagen. Wer weiß schon, wann es wieder soweit ist! Also folgt Zulhamina dem jungen Mann auf ihren Fußballen, damit sie etwas größere Schritte mit den Ketten vollführen kann.
Kahids Wangen färben sich ein wenig rot, als er sich zu der kleinen Sklavin umdreht und sieht, wie sie ihm ohne zu zögern folgt. Gut fühlt sich das an - und ein wenig befremdlich.
Rasch wendet er den Kopf wieder nach vorne und geht ein bisschen schneller, bis er den Vorhang erreicht hat, der zum Esszimmer der Dienerschaft führt. Noch schlägt er ihn aber nicht zurück, weil er bemerkt, dass Zulhamina mit ihren Ketten nicht ganz so eilig laufen kann wie er, und weil er nicht will, dass sie sich gehetzt fühlt.
Diese aber eilt sich dennoch nach Kräften - so ist sie das gewöhnt. Und tatsächlich muss sie viel Übung darin haben, sich mit Fesselungen zu bewegen. Zudem wirkt sie auch schon gar nicht mehr so hilflos und verloren wie eben noch, als sie allein vor dem anderen Vorhang stand.
Als sie näher kommt, verlangsamt sie jedoch etwas verunsichert ihren Schritt.
Immer noch mit sanft glühenden Wangen schiebt der Junge den Vorhang beiseite, um das Mädchen durchzulassen.
"Komm, je eher wir da sind, desto eher kannst du auch frühstücken." Seine Stimme zittert bei diesen Worten auf eine ihm gänzlich unbekannte Weise. Und seine Hände sind plötzlich ganz kalt. Was ihn bei der schon jetzt herrschenden Wärme einigermaßen verwundert.
Verschämt senkt Zulhamina den Blick, als sie hindurchtritt. Sie hatte eben schon vermutet, Kahid würde warten, dass sie ihm den Vorhang hebt und hält. Das wäre ihr vertrauter vorgekommen. Dennoch erkennt sie natürlich die Geste, weswegen sie sich zwischen der Freude und der Verunsicherung darüber nicht recht entscheiden kann.
Dass es dem Jungen gerade ganz ähnlich geht, bekommt sie zum Glück nicht bewusst mit. Und doch spürt sie es irgendwie, was ihr die Angelegenheit auch nicht gerade erleichtert.
Gemeinsam mit dem Mädchen durchquert Kahid den Essensraum, in dem sich niemand befindet. Wozu auch; das Frühstück ist ja längst vorbei und das Mittagessen wird noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Einen scheuen Blick auf sie werfend, tritt er wieder auf den Gang hinaus.
Zulhamina deutet Kahid kurzes Umwenden so, dass er sich wohl vergewissern möchte, ob sie ihm auch artig folgt. Sogleich beeilt sie sich noch ein wenig mehr, mit ihm schrittzuhalten.
Über den Gang geht es und in die Küche, wo die Köchin sich gerade eine Pause gönnt. Sie ist richtiggehend in Schweiß gebadet, da es in der Küche noch um einiges heißer als in den anderen Räumlichkeiten ist, von der Waschküche einmal abgesehen.
Als sie die Kinder sieht, lächelt sie matt. "Guten Morgen, ihr beiden. Was gibt es denn?"
Kahid sieht das Mädchen auffordernd an, bereit, ihr beizustehen, wenn sie allein nicht weiter weiß.
Diese Frage überrascht Zulhamina doch auch schon wieder sehr! Und Kahid schweigt dazu auch noch!
"I-ich... Muss ich denn gar nichts arbeiten heute?" Ganz dämlich kommt sie sich bei dieser Frage vor. Nach etwas für ihren leeren Magen zu fragen, traut sie sich erst recht nicht.
Nun erst wirkt die Köchin, als würde ihr so recht bewusst, wer da vor ihr steht. Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Ach du Grundgütiger, Mädchen, jetzt fällt's mir erst auf - ich hab' dich heute beim Essen gar nicht vermisst. Gelt, so geht das mit den neuen Leuten, richtig Leid tut mir das. Also, ohne Frühstück bestimmt nicht, Liebes, ganz bestimmt nicht. Außerdem ist heut' auch nicht mehr zu tun als gestern, und wir sind ohnehin so furchtbar viele Leute... Was sich die Herrin dabei denkt..."
Sie gibt sich keine Mühe, die Stimme zu senken, wie sie sowieso nur selten ein Blatt vor den Mund nimmt. In Windeseile hat sie währenddessen ein kleines Frühstück zusammengezaubert, bestehend aus Brot, ein paar Früchten und einem Stück Käse, das sie auf einen Küchentisch stellt, so dass das Mädchen sich bequem bedienen kann.
"Und nachher gehst du mal und redest mit ihr, vielmehr soll sie mal mit dir reden, ich hab's satt, um ehrlich zu sein, dass sie nicht darüber nachdenkt, wen sie hierher holt und warum, weil ich doch merk', dass du dich hier nicht ganz wohl fühlst - na, wie auch immer, jetzt iss erstmal. Anders sollte man einen Tag gar nicht anfangen." Aufmunternd und ein klein wenig ungeduldig winkt sie die Sklavin zu dem Tisch herüber.
Keinen Widerspruch darin sehen, dass auch eine freie Dienerin die Herrin als solche tituliert, beeilt sich Zulhamina, an den gewisenen Platz zu kommen und dort zu essen, was man ihr gereicht hat. Es ist für sie ungewohnt viel, und so muss sie auch sehr stopfen, um alles herunterzubekommen. Aber da alles so gut schmeckt und frisch ist, fällt ihr das leichter als mit den alten Sachen, die sie von Mufats Haus her kennt. Da gab es oft genug die Küchenabfälle.
Zufrieden sieht die Köchin der Kleinen beim Essen zu, auch wenn sie der Meinung ist, dass gar zu hastiges Verputzen einer Mahlzeit der Gesundheit nicht unbedingt zuträglich ist.
Sie wirft einen Seitenblick auf Kahid, der das Mädchen unverwandt anstarrt, und gibt ihm einen sanften Klaps auf den Arm. Verblüfft wendet er seine Augen von der jungen Sklavin ab.
"Die Herrin ist im Garten. Bringst du sie nachher hinunter - sie weiß den Weg wahrscheinlich nicht - oder brauchen sie dich in der Waschküche noch?" fragt sie leise.
Kahid ist es ziemlich gleich, ob sie ihn brauchen oder nicht, solange er irgendetwas für Zulhamina tun kann. Also nickt er erst eifrig und schüttelt dann den Kopf, was insgesamt eine wenig sinnreiche Bewegung ergibt, von Usha aber richtig gedeutet wird.
Hier im Hause sind sie wirklich verschwenderisch größzügig. Zum Ende hin wird Zulhamina immer langsamer mit dem Essen, aber dann erhebt sie sich endlich. Sie kommt sich direkt ein wneig gemästet vor, aber es war doch auch sehr lecker.
In einer Mischung aus Zufriedenheit und Unsicherheit stellt sie sich lächelnd zu der Köchin und nimmt wiederum ihre Bereitschaftshaltung an.
Die Köchin derweil hat noch ein paar Worte mit Kahid ausgetauscht, nicht eben flüsternderweise, aber doch auch nicht übermäßig laut im Tonfall. Als die Kleine sich nach ihrem hastigen Frühstück wieder zu ihnen gesellt, lächelt Usha sie warm an und streicht ihr mit einer Hand großmütterlich über den zierlichen Oberarm.
"So, Zulhamina, wenn du jetzt satt bist, dann wird Kahid dich in den Garten bringen, damit du mal ein bisschen mit der Herrin plaudern kannst. Ich weiß, es ist ein bisschen ungewöhnlich, dass ich das so einfach entscheide, aber ich finde nun einmal, die Herrin sollte wissen, wer in ihrem Haus lebt. Und ich wette, ihr habt euch nicht wirklich ausführlich unterhalten, oder doch?"
Es ist offensichtlich, dass Usha durchaus ihren eigenen Kopf hat und wer bereits lange hier lebt, der weiß, dass es auch schon Situationen gegeben hat, in denen die ältere und vermutlich auch ein wenig weisere von beiden der anderen, Herrschaft hin oder her, ihre Meinung gesagt hat. Nicht respektlos oder unhöflich, sondern so, wie eine Tante oder Mutter ihrem Mädchen einen Ratschlag geben würde. Und umgekehrt ist Usha eine der wenigen, von denen Mesherel sich etwas sagen lässt, mag es auch wunderlich anmuten.
Für Zulhamina stellt das nur einen weiteren Beweis zu etwas dar, das sie ohnehin schon längst nicht mehr bezweifelt: Frau Usha muss nicht nur eine Freie sein, sondern hier im Hause viel Ansehen genießen. Zum anderen ist sie aber auch sehr warmherzig. Vielleicht erklärt sie ihre Gedankengänge deswegen so genau. Sonst wäre Zulhamina gar nicht aufgefallen, von wem dieser Befehl denn nun kommt.
Nur die Formulierung 'Plaudern' erstaunt sie ein wenig. Daher nicht sie etwas gedankenversunken, was eigentlich bedeuten soll, dass sie alles verstanden habe. Dann aber schüttelt sie eilig den Kopf, als ihr die Frage bewusst wird. "Nein, die Herrin hat nichts weiter gesagt, H... Frau Usha."
Usha nickt. "Mhm. Dachte ich mir. Nun, dann mal ab mit euch beiden." Sie gibt den zwei jungen Leuten einen Klaps auf die Schulter und wendet sich dann wieder ihrer Arbeit zu, dabei einen Seufzer unterdrückend.
Derweil winkt Kahid dem Mädchen, ihm zum zweiten Mal an diesem Tag zu folgen. Insgeheim ist er schwer beeindruckt davon, dass Zulhamina nun tatsächlich eine private Unterhaltung mit der Herrin führen wird, auch wenn es ja noch ganz und gar nicht gewiss ist, ob die Herrin das überhaupt gutheißt. Er selbst kam jedenfalls nie in diesen Genuss, so man es denn als einen solchen bezeichnen kann.
Zulhamina ist sich nicht recht schlüssig, wie sie sich fühlen soll. Alles ist noch zu neu, und noch hat sie nicht wirklich durchschaut, wie es hier im Hause zugeht. Bestimmt wird das Gespräch mit der Herrin etwas Klarheit verschaffen. Eben diese Erwartung lässt ihr Herz schneller schlagen.
Nur kurz schaut sie auf die Köchin zurück, während sie sich selbst umwendet. Dann trippelt sie schweigend Kahid hinterher.
Durch den bekannten Vorhang geht es, erneut durch den Flur, das Esszimmer der Dienerschaft, über den Hof - die Sonne brennt nun schon stark herab - durch einen weiteren Vorhang auf einen halbdunklen Gang, diesen entlang, bis die beiden schließlich vor der großen Eingangstür stehen.
Von einigen der vielen Leute, denen sie über den Weg gelaufen sind, wurden sie gegrüßt, die meisten jedoch haben Kahids freundliches Nicken mit wenig mehr als einem Lächeln beantwortet.
Nun greift der junge Sklave nach der schweren Türklinke und bemüht sich nach Kräften, die Tür zu öffnen. Es kostet ihn viel Kraft, gelingt jedoch ohne Probleme. Mit verbissenem Gesichtsausdruck gibt er Zulhamina ein Zeichen mit dem Kopf, rasch hinauszugehen, damit er die Tür wieder zufallen lassen kann.
Zulhamina hat vor den Leuten immer nur zaghaft eine Verbeugung angedeutet, wodurch sie noch etwas langsamer geworden ist.
Nun schaut sie wieder einmal ziemlich verwundert, weil sie sich fragt, wo de Wächter sind und ob die Tür so schwer ist, damit die Sklaven nicht so leicht herauskommen. Aber das ist doch alles ziemlicher Unfug, stellt sie streng sich selbst gegenüber fest. Manchmal denkt sie wohl wirklich zu viel nach. Mufat hat immer über ihre Träumereien geschimpft, obwohl sie sich doch immer so bemüht hat!
Auf diese Weise dauert es ein Momentchen, bis sie endlich hinausschlüpft und dort noch einmal fassungslos auf die niedrige Mauer am Rande des Geländes hinunterblickt.
Aufseufzend folgt Kahid Zulhamina und lässt die Tür hinter sich zufallen. Als er neben ihr auf dem kleinen Absatz über den Steinstufen zum Kiespfad hinabblickt, wirft er einen verschüchterten Seitenblick auf die Wachen, die am Fuß der Treppe stehen und sich nicht einmal umdrehen, als die Tür sich laut krachend schließt.
"Die mögen mich nicht", flüstert er dem Mädchen zu, "weil ich mal einen von ihnen verärgert habe. Aus Versehen, aber das ist denen gleich. Komm." Langsam steigt er die Stufen hinunter.
"Aus Versehen?" rutscht es der Sklavin heraus. Einen Moment lang steht sie grübelnd auf dem Treppenabsatz, doch so schnell fällt ihr alles und nichts ein.
Eilig hüpft sie ihrem Führer die Stiegen hinunter nach, dass die Ketten fröhlich klirren.
Erst bei dem Geklirr der Ketten drehen die beiden Wächter die Köpfe, aber in ihren Gesichtern ist nichts zu lesen - weder Überraschung noch Interesse, Ärger oder Abneigung.
"Ja", murmelt Kahid, sowohl leiser als auch langsamer werdend, wenngleich es wirklich ein Kunststück wäre, das Erreichen des Erdbodens und damit der Wachhabenden noch um mehr als wenige Augenblicke hinauszuzögern. "Bin mal gestolpert... in den einen rein... Das war nicht meine Schuld, sondern die von so einem Vogel, der plötzlich aufgeflogen ist... und ich hab' grad heißen Tee getragen..."
Ein letzter Schritt, und der Junge steht zwischen den Männern. So rasch wie möglich will er weitergehen, aber der rechte Wächter legt ihm eine schwere Hand auf die Schulter. "Wo soll's denn hingehen, Kerl?"
Zulhamina verfolgt die kurze Darstellung mit betroffenem Ausdruck. Wenn ihr auch nicht entgeht, wie komisch das möglicherweise ausgesehen haben könnte, ist ihr Mitgefühl doch allzu stark.
Und bei der Bewegung des Wächters zuckt sie etwas zusammen, bleibt stehen und senkt rasch den Blick.
Kahid scheint zu schrumpfen, als wolle er so klein werden, dass er dem Griff des Mannes entschlüpfen kann, aber der lässt nicht locker. Also schluckt der Junge und sagt einfach die Wahrheit: "In den Garten... zur Herrin. Zulhamina" - er deutet auf das Mädchen - "wurde zu ihr geschickt und sie kennt den Weg noch nicht." Ein wenig trotzig klingen die letzten Worte, aber bei weitem nicht herausfordernd.
Der Wächter wirft einen Blick auf die kleine Sklavin, hebt die Brauen und lässt Kahid los. Genaugenommen gibt er ihm einen kräftigen Schlag auf die Schulter, dass er ein paar Schritte vorwärts stolpert. "Also dann. Aber wehe, ich finde euch nachher in den Büschen." Sein Kamerad lacht zustimmend.
Kahid hingegen blickt finster drein und reibt sich die Schulter, während er Zulhamina mit einem Kopfnicken bedeutet, ihm zu folgen.
Zulhaminas bekräftigendes Nicken hat ob seiner Zaghaftigkeit wohl ohnehin niemand wahrgenommen. Also folgt sie Kahid nur beklommen, als es endlich weitergeht. Ihre leicht gebückte Haltung richtet sich dabei allerdings kaum auf.
Mit raschen Schritten und in seinem Ärger ausnahmsweise nicht ganz darauf achtend, was das Mädchen macht, läuft Kahid um die vom Kiespfad aus gesehen linke Ecke des Hauses. "Blöde Bande", murmelt er, gerade leise genug, um von den Wachen nicht mehr gehört zu werden.
Zulhamina bleibt nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen. Eine eigene Meinung zu dieser Angelegenheit würde sie sich nie herausnehmen, zumal sie ja noch so neu im Hause ist. Außerdem muss sie sich aufs Laufen konzentrieren. Auf die Zehenspitzen erhoben, erreicht sie trotz der Kette zwischen den Fußgelenken eine um ein bis zwei Handbreit größere Schrittweite. Die Kurve zieht sie erst mit Verzögerung nach, so sehr schaut sie auf den Boden, der ja Hindernisse bereithalten könnte.
Von der Herrin ist nichts zu sehen. Also stapft Kahid weiter zur nächsten Ecke. Bevor er aber dahinter verschwindet, wirft er einen grimmigen Blick auf das Mädchen - grimmig keineswegs wegen ihr, sondern weil er sich immer noch über den Wächter ärgert. Der Ausdruck schwindet jedoch rasch, als er die kleine Gestalt so grazil und zugleich auch ein wenig unbeholfen - wie das zusammen passt? Kahid hätte keine Ahnung, würde man ihn fragen - über den Rasen gehen sieht. Augenblicklich versöhnt, hält er inne, um erneut auf sie zu warten.
Zulhamina beeilt sich sehr - besonders, als sie sich durch den Blick gerügt fühlt. So beruhigt es sie, dass er dies doch noch anzuerkennen scheint. Allerdings wird sie auch etwas langsamer, weil er stehenbleibt. Warum nur? Ein wenig fragend schaut sie ihm entgegen.
"Na komm", fordert er sie, inzwischen wieder vollkommen fröhlich, auf. "Ich weiß nicht ganz genau, wo die Herrin sich befindet, und auch wenn der Garten nicht so riesig ist, müssen wir vielleicht doch ein bisschen suchen. Sie geht gern zwischen den Bäumen spazieren, weißt du." Kurz flammt in ihm der Gedanke auf, wie schön es wäre, mit Zulhamina zwischen Bäumen spazierenzugehen.
So gern Zulhamina ihm folgen möchte - natürlich nicht, um mit ihm zu spazieren, sondern um zu Herrin zu gelangen und genaueres über den Zweck ihres Hierseins zu erfahren - er bleibt ja dauernd stehen! Nur gut, dass der Einfall zu diesem Treffen von der Frau Usha kommt, denn sonst würde die Herrin wohlmöglich schon warten und ungehalten werden! Und wer die Schuld bekäme, scheint Zulhamina ganz und gar unzweifelhaft.
Drum tippelt sie an ihm vorüber, um ihren Eifer anzuzeigen und allen Beschwerden vorzubeugen. Suchend schaut sie umher.
Überrascht sieht er zu, wie sie an ihm vorbeieilt. Ein klein wenig verwundert geht er gemäßigten Schrittes hinterher, sich gleichfalls umsehend.
Auch hinter der zweiten Ecke ist von Mesherel vorerst nichts zu sehen. Da bemerkt der Junge aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung im nahen Buschwerk. Stirnrunzelnd legt er den Kopf schief und wartet ab.
Es mag erstaunen, wie Zulhamina Hast und Zaghaftigkeit zu verbinden versteht. So wirkt sie zwar ein wenig hektisch, jedoch ist sie dadurch nicht wirklich schnell. Sie getraut sich nicht recht, einfach in irgendeine Richtung zu laufen. Wie leicht könnte das missverstanden werden! Nach der Herrin aber zu rufen, geziemt sich für eine Sklavin ganz sicher nicht - jedenfalls nicht, solange das Haus nicht in Flammen steht.
So hoppelt sie fast wie ein aufgebrachtes Kaninchen zwischen den Pflanzen umher.
Plötzlich flattert aus dem Gebüsch ein dunkler Vogel auf. Weiße Flügelspitzen und ein gelber Schnabel stehen im Kontrast zu dem schwarzen Gefieder. Er zieht einige Kreise, segelt scheinbar ziellos umher, dann setzt er unvermittelt zu einer Landung an.
Erstaunt sieht Kahid zu, wie das Tier sich in aller Seelenruhe auf die heftig wackelnde Schulter Zulhaminas setzt und die Flügel anlegt. Sanft ist die Berührung der an sich so scharfen Vogelkrallen, denn der Schwarzweiße ist es gewohnt, sich auf menschlichen Hände und Schultern niederzulassen und hat gelernt, die Haut derselben so wenig wie möglich zu verletzen. Allerdings muss er sich schon Mühe geben, bei dem Gehoppel nicht herunterzufallen und flattert ab und an flüchtig mit den Flügeln, um das Gleichgewicht zu wahren.
Im gleichen Moment tritt eine hochgewachsene Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Nicht weniger erstaunt als der junge Sklave beobachtet die Herrin des Hauses, wie ihr Lieblingsvogel sich eine fremde Schulter als Sitzplatz auserkoren hat.
Um so überraschter ist Zulhamina. Regelrecht erschrocken zuckt sie zusammen, schaut auf ihre Schulter und bleibt etwas zitterig stehen. Langsam begreift sie, dass wohl keine Gefahr droht. Allerdings entbindet sie das nicht von einer gewissen Ratlosigkeit, wie sie sich denn nun verhalten soll. Als sie die Herrin nahen bemerkt, schaut sie ihr hilfesuchend entgegen.
Weiter...
Zulhamina / Kurzgeschichten
Redaktion und Lektorat: OHH