Der Träumer

von Oliver H. Herde

Ein Reiter jagte die Reichsstraße 1 von Wehrheim aus gen Trollpforte. Den Ort Gallys hatte er bereits passiert, und dennoch konnte er nicht recht zufrieden sein. Sein Abstecher nach Gareth hatte ihn doch etwas mehr Zeit als vermutet gekostet.
Welch bedauerungswürdiges Bild hatte die einst so prächtige Hauptstadt abgegeben! Das Fehlen überregionaler Instanzen aber bestätigte die Befürchtungen des Herzogs, ob derer der Einhändige unterwegs war. Dabei beschäftigte ihn seine kleine Kundschafteraufgabe weit weniger, als die ganz private Sorge um einen guten Freund und hervorragenden Boltanspieler.
Schon seit Stunden hatte er niemanden mehr überholt. Für das Volk auf der Straße gab es nur die andere Richtung. Flüchtlinge, Verletzte, vereinzelt wurden gar Tote mitgeführt.
Da entdeckte Atreo vor sich zwei Reiter gegen den Strom - der eine in Rüstung, der andere mit Magierrobe angetan. Zu ihnen aufgeschlossen, bremste er ab, und man stellte zunächst einander vor. Allerdings hatte sich Atreo Namen und Titel nie recht gut auf Anhieb merken können. Einzig den Rufnamen des Ritters vermochte er ohne Mühe zu behalten: Alrik. Ebenso hieß das Ross, auf dem Atreo saß, doch verkniff er es sich, dies zu äußern. Statt dessen stellte er sich als »Geron von Reinickenberg, Cavalliere zu Engasal, Sonderemissär im Mittelreiche« vor und überreichte beiden formvollendet wie ein Vinsalter je ein Kärtchen, das selbiges gegen das Vergessen wiederholte.
»Was treibt Euch in diese Gegend?« fragte der Magier verwundert.
»Die Astrologen sprechen von einem besonderen Ereignis in diesen Tagen. Alle Zeichen stehen für eine Entscheidungsschlacht. Der Herzog hat mich als Beobachter entsandt.«
»Ja, das ist wahr, alles spricht dafür...« Offensichtlich war er in Gedanken schon wieder woanders; dort, wohin viele abschweiften, wenn sie Atreo erstmals trafen: »Sagt, bei welcher Gelegenheit habt Ihr Eure Hand verloren?«
Atreo blickte auf seinen Armstumpf, während er erwiderte: »Bei einem Kampf mit einem Mantikor.«
»Tatsächlich? Eine Chimäre! Habt Ihr schon erwogen, die Hand mittels astraler Verformung wiederherzustellen?«
Sogleich streckte ihm Atreo den Arm entgegen. »Bitte!«
»Oh, nein!« wehrte jener fast erschrocken ab. Ich kann dies leider nicht bewerkstelligen und kenne auch darüber hinaus niemanden persönlich, der über solche Kräfte verfügt...«
Überlegen lächelnd zog Atreo den Stumpf wieder ein. Das hatte er erwartet. Sprüche, nichts als Sprüche!
Trotzdem der Magus besser zu reden als zu handeln verstand, beschloss Atreo, gemeinsam mit diesen beiden zur Trollpforte weiterzureisen, um die Gefahren und Mühen zu verringern.

Des Nachts am heruntergebrannten Lagerfeuer träumte Atreo von einem Hügel, auf welchem sich zwei Gestalten gegenüberschwebten. Die eine bestand gänzlich aus einer tiefschwarzen Kutte, aus welcher rötliche Dämpfe hervorquollen. Die andere aber war eine strahlende Rüstung mit einem Wappen auf der Brust, welches Atreo nur zu gut kannte: Zwei gekreuzte weiße Schwerter auf rotem Grund.
›Raidri!‹ schoss es dem Träumer bang durch den Sinn.
Schon wurde die Kutte auseinandergerissen, und sieben Gehörnte Schrecken stoben hervor. Sie vergingen, und die Rüstung mit ihnen.
Schweißgebadet schreckte Atreo auf. Sich umschauend bekam er den Eindruck, nicht nur die Menschen flöhen diese Gegend, sondern gleichermaßen die Tiere. Totenstille herrschte, die von keinem Vogel, keinem Insekt und keinen Windhauch unterbrochen wurde.
Auch Alrik und der Magier saßen mit verunsicherten Minen in ihren provisorischen Nachtlagern. Allerdings interessierte es den Einhändigen in diesem Augenblick wenig, ob und was sie vielleicht im Schlafe gesehen hatten. Seine schon Tage währende Furcht trieb ihn nun noch um so mehr voran. Sogleich begann er, sich reisefertig zu machen; frühstücken konnte er ebensogut unterwegs.
Da erscholl entferntes Gegröle. Ein wilder Haufen von nicht viel mehr als zehn betrunkenen Söldlingen nahte über die Straße von Gallys heran.
Eilig verstecke sich der Magier hinter einigen Büschen. Atreo hingegen begnügte sich damit, ein paar Schritt abseits des Pflasters das Vorbeiziehen dieses erbärmlichen Trupps abzuwarten, und Alrik folgte seinem Beispiel.
In der Tat blieben die beiden ebenso unbeachtet wie der Verborgene. Einer der Trunkenen kam vom Wege ab, stürzte und blieb reglos in einem Schlammloch liegen, während die anderen unbekümmert weiterzogen.
»Seht dieses wackere Banner von Krughebern und Flaschenwerfern!« höhnte Atreo. »Die sind nur deshalb so wenig, weil sie die anderen schon verloren haben!«
Voller Hilfsbereitschaft lief Ritter Alrik, den gestrauchelten Säufer umzuwenden. Niederhöllischer Alkoholgestank schlug ihm entgegen. Der Mann lebte noch, helfen hätte man ihm allerdings bestenfalls mit einem Abführmittel können.
Atreo dagegen kümmerte sich wieder um das Gepäck; diesen Zustand kannte er nur zu gut. Harmlos!
Gerade bereit, den Ritt fortzusetzen, vernahmen die drei Reisenden erneut Gesang aus nordwestlicher Richtung. Diesmal klang es allerdings eher nach zwölfgöttlichem Choral.
Schon bereitete sich Atreo seinerseits auf einen Sprung hinter die Hecken vor, da offenbarten sich die Nahenden als bunt gemischte Versammlung von Spielleuten und einfachem Volke.
Bald umringten sie die drei und forderten sie auf, mitzukommen.
Eigentlich würden ihn diese Fußgänger nur aufhalten, doch willigte Atreo neugierig geworden ein: »Wir haben den gleichen Weg. Lasst mich nur auf mein Pferd steigen!« Alrik und der Magus nickten zustimmend.
Unvermittelt hörte Atreo eine Frauenstimme seinen wahren Namen rufen. Wer machte ihm da seine Tarnung zunichte!? Erstaunen breitete sich in seinem Gesicht aus, als er die junge Skaldin erkannte, welche er vor bald drei Jahren in einem höchst denkwürdigen Gasthaus im Lieblichen Felde kennengelernt hatte. »Nanu, Twina! Was machst du denn hier?«
Leider wurde das aufkeimende Gespräch an dieser Stelle von Alrik und dem Magier unterbrochen, die sich verwunderten, warum man Atreo denn nun Atreo nenne und nicht Geron.
»Oh... dasdas ist nur mein zweiter Vorname«, erklärte Atreo leicht stotternd, womit er offen ließ, welcher von beiden denn nun der zweite sei.
Seine beiden Wegbegleiter hatten jedenfalls vollstes Verständnis. Sie trügen ja auch sehr viele Namen und Titel, die sie nicht alle genannt hätten, versicherten sie einhellig.
Innerlich aufatmend konnte sich Atreo also wieder um seine alte Bekannte kümmern. »Was ist das für eine Meute, mit der du hier umherziehst?«
»Adaon der Barde« - sie wies auf den Mann mit der Laute an der Spitze des Zuges - »glaubt, man könne die Dämonen nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit Gesang bekämpfen.«
»Das mag sein. Mein elfischer Freund hat mir sowas erzählt. In Ebelried sollen Geweihte gegen die Borbaradianer angesungen haben. Allerdings empfand er es wohl als eher bemerkenswert denn schön oder effektiv. Den Versuch ist es allemal wert.
Wie geht es eigentlich Faenwulf?«
»Ach, der passt auf Tygrid auf.«
»Stimmt ja, euer Töchterchen! Ich hörte davon.«
Schon eine ganze Weile hatte Atreo beobachtet, wie eine junge Priesterin der Hesinde ihn anstarrte, die mit dem Zug angekommen war. Nun aber, während er Twina hinter sich aufs Pferd einlud, fasste sie den Mut, ihn anzusprechen: »Sagt, was ist mit Eurer Hand geschehen?«
»Ein Mantikor hat sie mir abgebissen«, entgegnete Atreo trocken, wobei er eine weitere Visitenkarte vergab. Hatte er aber geglaubt, die Dame begnüge sich wie die meisten Menschen mit der knappen Auskunft, so täuschte sich Atreo gewaltig.
»Ein Mantikor, interessant«, entgegnete sie erregt, ohne das kleine Schriftstück eines Blickes zu würdigen, wenn sie es auch annahm. »Wie viele Zahnreihen hatte er? Drei?«
»Also...« Da verschlug es ihm doch beinahe die Sprache! »Mag sein. Ich hatte anderes im Sinne!«
»Gewiss. Was habt Ihr dabei gefühlt?«
»Schmerz, was glaubt Ihr denn!?«
»Ziehenden, stechenden...?«
»Beißenden!« schimpfte Atreo. War diese Frau vollkommen übergeschnappt?
»Kommen wir noch einmal zum Mantikor zurück: Könnt Ihr ihn beschreiben?«
Der Einhändige verspürte die heftige Versuchung, die Geweihte unverzüglich zu erdrosseln, doch gelang es ihm, diesen zu zügeln, wenngleich seine Stimme längst nicht mehr so geduldig wie anfangs klang. »Ich kämpfte mit ihm! Und außerdem fiel...«
»Habt Ihr ihn seziert?«
»Dazu blieb nicht genug übrig, weil...«
»Schade, es wäre interessant gewesen, wie groß sein Magen war.«
Auf diese Weise ging es noch eine Weile hin und her, bis Atreo endlich, ohne einen Atemzug zu riskieren, fauchte: »Wenn Ihr mich einmal ausreden ließet, erführet Ihr, dass vom Mantikor nichts für eine Untersuchung Geeignetes übrig blieb, da er im letzten Moment von einem herabfallenden Felsen begraben wurde!« Erschöpft, aber auch erleichtert schnappte er nach Luft. Dies sollte der Befragung ihr verdientes Ende setzen, so wähnte er und wandte sich zur Unterstreichung dessen bereits ab.
Die Frau aber erkundigte sich: »Wie groß? Was für ein Gestein?«
»Arg! Bin ich Bergmann!?« Er stand kurz davor, ihr in den sinnierend erhobenen Finger zu beißen.
»Wohl nicht; schade...«
Die kurze Denkpause wurde von dem Magier genutzt, der sich unterdessen mit Alrik ausgetauscht hatte: »Sagt, Geron oder Atreo oder Wieauchimmer...« Der Angesprochene zeigte ungehaltene, beinahe aggressive Aufmerksamkeit, was dem Magus vollauf genügte: »Der Ritter und ich wurden heute von Träumen heimgesucht, die uns Rätsel aufgeben. Nun entging uns nicht, dass Ihr des Morgens verändert wirktet. Träumte auch Euch?«
Nach kurzem Zögern erwiderte Atreo: »Allerdings!«
»Und würdet Ihr uns das Erlebnis schildern?«
Jeden Satz wohl überlegend, erzählte Atreo sein Traumgesicht, wobei er ganz bewusst auf die Erwähnung des Wappens verzichtete, welches den Markgrafen von Winhall identifizierte. Und um gar nicht erst Nachfragen zu ermöglichen, verlangte er sogleich die Visionen der anderen beiden zu hören, wenn er auch nicht wirklich so erpicht darauf war, wie er vorgab.
Schnell stellten sich deutliche Parallelen heraus: Auch in ihren Fällen ging es um Duelle auf Hügeln. Bei dem einen standen zwei Roben einander gegenüber, die Atreo als Symbole für Rohal und Borbarad wähnte, und welche ebenfalls am Schlusse vergingen. Bei dem anderen waren es Reichskrone und siebenzackige Dämonenkrone, allerdings blieb hier erstere zuletzt erhalten.
Zwar weckte dies in dem Einhändigen die Hoffnung auf eine gewonnene Schlacht, seine schlimmste Befürchtung aber vermochte es nicht zu beruhigen. Nur unter Mühen konnte er sich zurückhalten, sofort den Eilritt zur Trollpforte anzutreten, anstatt den Weg dorthin mit seinen Mitreisenden und dem Bardenzug fortzusetzen. Es war ja ohnehin nicht mehr gar so weit.

Noch während man am Abend lagerte, rissen die Lieder nicht ab.
Alrik derweil schaffte es mit viel Feingefühl und Beharrlichkeit, Atreo um das Wappen und somit die Identität der Traumrüstung auszufragen.
»Ich bin sehr in Sorge um den Markgrafen«, gestand Atreo schließlich. »Er ist ein guter Freund.«
Plötzlich gab es Unruhe im Lager. Einer der Barden hatte Spottverse auf einen Gehörnten vorgetragen, da gab es einen Riss in der Wirklichkeit, und eben jene finstere Kreatur platzte daraus hervor: Ein wohl fünf Schritt langes, ledergeflügeltes Schlangengezücht. Schon hatte es den Sänger verschlungen und suchte nach dem nächsten Opfer.
Geistesgegenwärtig begann der Magier ein Pentagramm auf dem Boden zu ziehen, um den von ihm erkannten Karakil zu exorzieren.
Ihm Zeit zu geben, stürzte Atreo sogleich zum Kopfe des Monstrums, welcher bereits mit einem Biss einen weiteren Anwesenden schwer verletzt hatte. Allein mit seinem Degen versetzte Atreo dem Ungetüm einen Hieb, woraufhin es sich zu ihm umwandte und ihm seine Kiefer übel in die linke Schulter stieß.
Alrik versuchte, Atreo am Rumpfe der Wesenheit zu unterstützen, doch richtete auch er noch wenig aus.
Der Zauber des Magiers indes funktionierte nicht recht wie geplant. Statt den Dämon aufzusaugen, verwandelte sich das Pentagramm in ein Schlammloch. In der Aufregung unvorsichtig, berührte der Magus die Oberfläche versuchsweise mit seinem Stabe. Dies drohte, ihn das schwer ersetzbare Stück zu kosten, wurde es doch sogleich wie von unsichtbarer Hand hineingezogen. Kein Widerstand nutze, der Prozess ließ sich nicht aufhalten. Schon geriet der Magier in seiner Selbstüberschätzung persönlich in die Fänge des Soges, doch noch immer wollte er nicht von seinem Stabe ablassen.
Da traf Atreo sein Ziel genau: Das Auge des Karakil. Tief trieb er den Degen hinein.
Unsäglich kreischend bäumte sich die Monstrosität auf. Dabei schwenkte der Hinterleib wild umher, prallte gegen den schon bis zu den Knien versunkenen Magier und schleuderte ihn dank einer unglaublichen Gunst des Schicksals samt Stab aus dem Dimensionsloch heraus. Im nächsten Moment geriet der Schwanz selbst in die Falle. Langsam wurde der Dämon fortgezogen, bis er unter grausigem Kreischen entschwunden war.
Dann herrschte Stille.
Unter Twinas Hilfe kümmerte sich Atreo eilig um seine Wunde. Er machte klar, er werde anschließend sofort aufbrechen. Die Sorge um Raidri überwog nun jede Müdigkeit, jeden Schmerz.
Twina, Alrik und der langsam wieder zu Bewusstsein gelangende Magier stimmten zu und wollten ihn begleiten. Nur Kusminja, die Geweihte der Hesinde gab zu bedenken, man solle erst alles in der Theorie erwägen, Pläne schmieden, die Lage analysieren.
Mit ihrem Gerede bestätigte sie einmal mehr Atreos Vorurteile gegen jegliche Priesterschaft. Aber dies machte nichts aus, da ihre Meinung für ihn in keiner Weise von Belang war. Er hatte sich entschieden und brachte dies unmissverständlich zum Ausdruck, indem er auf sein Pferd stieg.
Die junge Skaldin ließ sich wie zuvor von ihm mitnehmen, und nun folgten auch die anderen drei und ließen den Rest des Zuges zurück, seinen Weg später und zu Fuß fortzusetzen.

Es dämmerte, als die Trollpforte in Sicht kam. Dort wurde bereits gekämpft! Gegen die Morgenröte war wenig zu erkennen, um so mehr vermochte der Einhändige sich nicht länger zurückzuhalten. Im Galopp stürzte er der Schlacht entgegen.
Ritter Alrik heftete sich ihm an die Fersen, nur der Magier und seine geweihte Mitreiterin fielen nach und nach zurück.
Zunächst erstrebte Atreo noch, das Banner Raidris vom Rande des Kampfgetümmels her auszumachen. Kurz rief er zu Alrik hinüber, auch er solle danach Ausschau halten. Selbst der Skaldin erklärte er das gesuchte Wappen.
Als er aber einsehen musste, von Außerhalb kaum überhaupt eine Standarte erkennen zu können, preschte er mitten hinein in das tobende Chaos.
»Was tust du?« rief Twina entsetzt, doch er antwortete ihr nicht, brüllte nur Raidris Namen in die Menge.
Noch immer suchte Alrik, den beiden zu folgen, während Magier und Geweihte sich darüber stritten, was zu tun sei.
Eine seltsame Erfahrung musste man in der Schlacht machen: Freund wie Feind waren bald kaum noch zu unterscheiden; alles erschien unwirklich. So beschränkten sich die drei darauf, niemanden anzugreifen, sondern sich nur zu verteidigen. Atreo stand ohnehin nicht der Sinn danach, etwas zum Ausgang der Schlacht beizutragen. Nur Raidris Verbleib interessierte ihn. Ohne Twina, die ihm dabei den Rücken freihielt, hätte er seine verzweifelte Suche vielleicht bereits hier mit dem Leben bezahlt.
Tiefer und tiefer trieb Atreo sein Ross. Zur Front! Nur dort konnte ein Kämpe von Raidris Natur stehen.
Und wie er so in den Wirbelsturm hineinritt, da gewahrte er einen Hügel, auf dem er seine Traumgestalten wiedererkennen musste, als schliefe er noch immer. In panischer Angst mühte er sich ab, sich zu ihnen durchzukämpfen, doch vergebens. Die Wogen des Kriegsgeschehens hielten ihn auf schmerzlicher Distanz.
Da musste Atreo mit ansehen, wie Raidri von wirbelnden Schwertern zerrissen wurde, stürzte und blutüberströmt und reglos liegen blieb. Entsetzt erstarrte er, sein Pferd wurde unkontrolliert abgetrieben, ohne dass Twina von hinten etwas dagegen hätte unternehmen können. Ein Hieb traf sein linkes Fußgelenk, doch nahm er dies kaum noch bewusst wahr.
Endlich erreichte Alrik die Gefährten, packte die Zügel und führte Atreos Braunen auf eine Anhöhe, welche gerade nicht umkämpft wurde. Dort saßen sie nun wie im Auge eines Rondrikans.
Gewohnheitsmäßig folgte Atreo Twinas Beispiel, als diese ihre schlimmsten Wunden zu versorgen begann. Seine Bewegungen jedoch blieben schwerfällig und unsicher, seine Lippen formten immer wieder still ein Wort.
Der Ritter bemerkte sehr wohl die Lethargie des Einhändigen und redete ihm zu, er möge nicht aufgeben, nicht verzagen.
»Raidri ist tot.«
Wie hätte Alrik die tiefe Bedeutung dieser dumpf gebrummten Worte für Atreo in ihrer Gänze ermessen können!
Weiter drang er in ihn, die Hoffnung nicht fahren zu lassen. Atreos Geist erreichte er nicht, dafür aber dessen nie im Leben verlorenen intuitiven Optimismus und Mut zum Widerstand. Wofür gab es Magier, wofür Geweihte der Tsa? Eventuell war Raidri noch zu retten. Und wenn Menschen es nicht vermochten, so vielleicht die Alikorni. Er brauchte den Leichnam!
Unvermittelt ließ er von seinen Verbänden ab, sprang auf und in den Sattel und jagte wieder ins unwirkliche Kampfgeschehen.
Wieder folgte Alrik und ließ die leise zu den Göttern singende Twina allein zurück.
Unbarmherzig haute sich Atreo durch das Gemetzel, den Hügel mit Raidris Körper fand er jedoch nicht wieder.
Irgendwann - ob Stunden oder Tage später, vermochte er nicht abzuschätzen - hatte er selbst so viele Verwundungen hinnehmen müssen, dass sein Lebenswille ihn endlich aus seiner verhängnisvollen Trance erweckte. Nun hieß es nur noch, zu entkommen, die tobende Schlacht zu verlassen.
So zielstrebig er aber nun zu Werke ging, schaffte er es doch nicht mehr. Die Feldlager der Kaiserlichen bereits vor Augen, schwanden ihm die Sinne, und er stürzte vom Rücken seines Rosses, welches sogleich in den Wirren verschwand.
Ohne Alrik wäre es nun wohl endgültig mit ihm vorbei gewesen. Dieser hingegen barg den Einhändigen und brachte ihn zur nahegelegenen Burg Mersingen, wo sich bald viele Rückkehrer aus der Dritten Dämonenschlacht versammeln sollten.


Atreos Haus

© OHHerde 1998