Erstes Kapitel
Ein Fremder im Tal

von Oliver H. Herde

Fröstelnd lief Thyra den dämmerigen Waldweg hinab. Die drei kurzen Jahreszeiten waren wieder einmal in vertrauter Monotonie vergangen. Trotz der frühen Tageszeit trübte sich der Himmel mehr und mehr ein. Der erste Schnee würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und das ohnehin stets geruhsame Leben im Tal für bald ein halbes Jahr noch tiefer einschläfern.
Doch im Augenblick hatte die zierliche junge Priesterin mit der fülligen rotbraunen Haarpracht eine andere Sorge: Wenn sie sich jetzt nicht sehr eilte, in den Tempel zu gelangen, würde sie erneut zu spät zur Mittagsmesse erscheinen. Der Hohepriester war ohnedem seit langem nicht gut auf sie zu sprechen, und wer nicht an der Messe teilnahm, bekam hinterher auch nichts zu essen. Die alte Tempelglocke läutete bereits dunkel, als Thyra die Treppen des monumentalen Bauwerks hinaufhastete, wobei sie ihr knöchellanges, kupferfarbenes Priestergewand mit beiden Händen emporraffte.
»Du hast es aber eilig«, begrüßte sie der karminrot gekleidete Torwächter.
»Mach Platz, Gunnir, sonst komme ich zu spät!« erwiderte Thyra. Die aufdringliche Freundlichkeit dieses krötengesichtigen Mannes, der vom Alter her ihr Vater hätte sein können, war ihr schon lange unangenehm und regelrecht unheimlich.
Gunnir kam etwas näher und erklärte: »Sei doch einmal etwas gefälliger! Ich mag dich wirklich gerne.«
»Lasse mich durch, oder ich beschwere mich beim Hüter über dich!«
Die Drohung wirkte; der Wächter trat beiseite. Schnell huschte Thyra durch das reich verzierte Portal.


Nach Messe und Mittagessen wollte Thyra itzt wieder zu einem Streifzug durch das Tal aufbrechen, da wurde sie vom als 'Hüter' bezeichneten Hohepriester des Ordens angehalten. »Du bist heute wieder zu spät zum Gottesdienst gekommen, junge Schwester. Deine Nachlässigkeiten nehmen allmählich überhand. Ich will hoffen, dass sich die Prophezeiung nicht zum Bösen erfüllt. Bis mir eine geeignete Strafe für dich eingefallen ist, wirst du den Tempel nicht verlassen!« Herablassend hielt er ihr seinen Handrücken hin, den sie nach kurzem Zögern gemäß dem Ritus begleitet von einem Kniefall küsste. Dann schritt er von dannen, um dem Wächter am Tor eine entsprechende Weisung zu erteilen.
Unglücklich Kopf und Schultern herabhängen lassend, stieg Thyra eine lange düstere Wendeltreppe in einem der Ecktürme hinauf. Was war das doch für ein Leben! Alles im Tal war ihr zum Einschlafen gut vertraut. Der Tempel, das Dorf, der Sünderhügel, Wald, Wiesen, Äcker und der Fluss. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, es gäbe hinter den unbesteigbaren Bergen noch andere Täler mit unentdeckten Geheimnissen, mit fremden Tieren und Pflanzen... und vielleicht sogar jemanden, der sie verstehen könnte! Doch Gott Vees hatte nun einmal nur dieses eine Tal für die Menschen erschaffen. Und der Hüter wachte gestreng über die Einhaltung der Gesetze des Vees.
Als Thyra die Dachplattform des Turmes erklommen hatte, bot sich ihr ein weiter Ausblick über den Talkessel dar, der sich von Nord nach Süd über etwa dreitausend und von West nach Ost sechstausend Schritt erstreckte. Der Tempel stand auf einer Anhöhe an seinem östlichen Rande. Er bestand aus einem dreistöckigen Haupthaus und einem vorgelagerten Platz mit einem Brunnen samt Scheune, der von hohen Mauern und zwei runden Türmen eingefasst wurde. Auf einem dieser Türme stand Thyra nun. Auf dem Dach des Hauptgebäudes ragte etwa zwei Menschen hoch eine kupferne Kuppel empor. Außentüren und Fensterläden des Tempels waren ebenfalls aus Kupfer geschmiedet.
Kopfschüttelnd wunderte Thyra sich darüber, dass das graue Gebäude, in dem sie ihr Leben lang gewohnt hatte, mit so etwas wie Wehrgängen oder Schießscharten ausgestattet war. Vor welchem Angreifer konnte sich der Erbauer einst gefürchtet haben? Und warum wurde das Hauptportal ständig bewacht? Konnte es eine Macht geben, Vees zu trotzen?
Nahe dem Tempelhügel gab es einen kleineren zweiten, den Sünderhügel. Dort standen einige verwitterte Holzgestelle, an die man jene fesselte, welche ein schweres Verbrechen begangen hatten. So mussten sie auf ihr Ende warten, und danach sandte Vees selbst Vögel und Kerbtiere, sie zu zerfressen, bis nur noch ihre Gebeine übrig waren. Doch dies wurde selten notwendig.
Aus der Felswand zwischen den beiden Hügeln entsprang das Wasser des Lebens. Dieser schmale Fluss verlief in einer steinernen Rinne am Tempelhügel entlang und anschließend hinab, wo er sich sanft durch das Tal schlängelte. Das Wasser verschwand in einer unzugänglichen Höhle im Westen.
Im ganzen Tal gab es kaum vierhundert Personen, und fast alle waren sie Bauern, die nur für ihre Arbeit lebten. Das schlimmste aber war: Thyra hatte keine Familie und keinen einzigen wirklichen Freund.
Wehmütig blickte die junge Priesterin gen Himmel. Was scherten sie in diesem Moment die Menschen? Sie hatte einen Vertrauten in den Lüften! Thyra stieß einen schrillen Pfiff aus und nach kurzem Warten einen weiteren. Ein ferner Vogelschrei antwortete ihr nun. Kurz darauf erschien ein Punkt am verhangenen Himmel. Es war ein Adler, der geradewegs auf sie zu flog. Ein wenig unbeholfen vollführte er seine Landung auf einer Zinne neben Thyra, denn er besaß nur ein einziges, wenn auch besonders kräftiges Bein. Dies war jedoch nicht die Folge einer Verletzung, sondern ein grausamer Streich der Natur.
»Hier, mein lieber Einbein, ich habe wieder einen Leckerbissen für dich.« Sie holte ein bräunliches altes Tuch, dessen ursprüngliche Farbe kaum mehr zu erraten war, aus einer Tasche ihres Gewandes. Während des Mittagessens hatte sie ein Stück Fleisch und einen einfachen Keks heimlich darin eingewickelt. Das Fleisch gab sie dem Adler zum Verzehr, am Backwerk knabberte sie selbst.
Nach dieser kleinen Zwischenmahlzeit ließ sich der Vogel von der Priesterin streicheln. Doch auf einmal schien er durch etwas aufgeschreckt worden zu sein. Er breitete die Schwingen aus und hüpfte von der Zinne hinab in die Tiefe. Gleich darauf erhob er sich in höhere Luftschichten und entschwand in Richtung Geistersee Thyras verträumten Blicken.
»Dacht' ich mir, dass ich dich hier finden würde«, hörte sie die Stimme des Tempelwächters Gunnir auf einmal hinter sich sagen.
Verärgert fuhr sie herum. Sie fühlte sich von ihm verfolgt und reagierte dementsprechend unfreundlich: »Was willst du schon wieder?«
»Na, na! Ich möchte mich doch nur ein bisschen mit dir unterhalten.«
In diesem Augenblick wurden sie von aufgeregten Stimmen unterbrochen, die den Weg zum Tempel heraufkamen. Eine Gruppe von Talbewohnern hastete lamentierend durch das Tor. In ihrer Mitte führten sie eine gefesselte Gestalt. Dieser war ein Sack über Kopf und Rumpf gestülpt, so dass Thyra und Gunnir auf die Entfernung nicht einmal sicher feststellen konnten, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Jedenfalls schien das gefangene Geschöpf recht hochgewachsen und trug zwei Schlingen um den Hals, an denen man es auf den Innenhof des Tempels zerrte.
»Was mag da passiert sein?« überlegte Thyra.
Gunnir zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht ein verrückter Übeltäter oder gar ein Gotteslästerer. Das macht keinen großen Unterschied. In jedem Falle wird er sicherlich bald auf dem Sünderhügel enden.«
Der Hüter trat auf den Hof heraus und hörte sich den Bericht der aufgebrachten Leute an. Seine vorläufige Entscheidung verkündete er so laut, dass auch Thyra und Gunnir sie hörten: Der Gefangene sollte in die hinterste der drei Kerkerzellen im Keller des Tempels gesperrt werden. Während man ihn hineinbrachte, bespritzte ihn der Hüter mit Weihwasser aus einem eilig von einem Messdiener gebrachten, kupfernen Schälchen.
Endlich eine Abwechslung! Sofort hastete Thyra die Treppe hinab und stürzte sich neugierig auf alle, die ihr etwas über den Gefangenen sagen konnten. Es sollte ein böser Dämon sein, den man am Geistersee aufgegriffen hatte. Ein zugleich männliches wie weibliches Ungeheuer mit den Ohren einer Katze, den schwarzen Augen einer Maus, dem ausgemergelten Körper eines Hungertoten und Haaren so lang und hell wie ausgetrocknetes Stroh. Das Wesen hätte ein farbloses Messer von der Länge eines Armes bei sich gehabt und noch einige andere geheimnisvolle Gegenstände von unzweifelhaft magischer Natur, wie zum Beispiel einen gebogenen Zweig, dessen Enden durch einen dünnen Faden miteinander verbunden waren.
Verwirrt begab sich Thyra in ihre Kammer. Es war ein enger, recht kärglich eingerichteter Raum mit einem wackeligen Bett, einem dreibeinigen Schemel und einer Holzkiste, in der Thyra ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Diese öffnete sie. Die kleine Truhe enthielt einen schmucklosen Kupferring, ein sehr bescheidenes Sortiment an Wäsche, ein stumpfes Messer, einen Holzbecher und einen flachen Holzteller. Thyra nahm den Ring heraus, dann ließ sie sich aufs Bett fallen.
Fragend sah sie den Ring an, als könne er ihr die Rätsel lösen, die sie beschäftigten. Ob das gefangene Wesen etwas mit der Weissagung zu tun hatte? Als Neugeborenes hatte man Thyra vor den Stufen der Tempelpforte abgelegt gefunden. Möglicherweise hatten ihre Eltern einfach Angst vor Thyras roten Haaren gehabt. Im Tal hatte jedermann schwärzliche und im Alter graue Haare. Doch niemand wusste seinerzeit von einer Entbindung.
Jedenfalls prophezeite der Hüter damals, dass die Haarfarbe Thyra als etwas Besonderes und Wichtiges auswies. So entschied er, sie solle als Priesterin aufgezogen und ausgebildet werden. Sie sei von Vees ausgesandt als Prüfung und vielleicht als Belohnung. Darum hatte man auch nie nach ihren Eltern geforscht. Der Kupferring war der einzige Hinweis, denn man hatte ihn an jenem schicksalhaften Tag bei ihr gefunden. Kupfer - das Element des Vees! Eiskalt lief es ihr den Rücken herunter bei dem Gedanken, dass sie vielleicht gar keine Eltern hatte, sondern Gottes leibhaftige Tochter sein mochte. Konnte ihr Leben Teil einer Prüfung sein, an deren Ende entweder der Tod oder das hohe Amt des Hüters, des obersten Priesters im Tal, stand? So ähnlich hatte es ihr zumindest einst der Hüter erklärt.
Plötzlich wurde Thyra von ihren Gedanken fortgerissen, als jemand an die Zellentür klopfte. Sie sprang auf, wobei sie den Ring auf einen Finger rutschen ließ, und öffnete hiernach mit einem ahnungsvoll unbehaglichen Gefühl.
Draußen wartete ein kleiner Tempeldiener, ein Junge von kaum zehn Jahren. Sein Gewand hatte nicht die rötlich-braune Färbung des Kupfers, wie sie den Priestern vorbehalten war. Es war karminrot, wie bei allen gewöhnlichen Tempelangestellten.
»Ja?«
»Der Hüter wünscht dich zu sprechen.«

Eindringlich wurde Thyra vom Hüter gemustert. Er schien dabei tief in irgendwelche dunklen Gedanken versunken zu sein.
Neben dem allzu großen Tisch, an dem er saß, führte eine stabile, rot gestrichene Leiter zu einer Falltür in der Decke empor. Dort oben lag die Kupferkuppel, in welcher der Hüter mit Gott Vees zu sprechen pflegte. Thyras Blick wurde geradezu magnetisch von der geschlossenen Luke angezogen, obwohl sie sich alle Mühe gab, dem Hüter ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Denn außer ihm durfte niemand dort hinauf.
Endlich begann er zu sprechen: »Vees hat entschieden, welche Strafe du für deine Nachlässigkeit erhalten sollst. Du wirst dem Dämon Essen bringen, bis Vees mir mitteilt, was mit ihm zu geschehen hat! Doch sieh dich vor! Er wird zweifelsohne versuchen, dich zu verzaubern. Sprich nicht mit ihm! Sieh ihm nicht in die Augen! Wenn er verdächtige Bewegungen macht, verlasse sofort die Zelle! Und höre vor allem nicht auf das, was er sagt! Es werden nur schändliche, unglaubliche Lügen sein.«
»Warum bekommt er von uns überhaupt zu Essen, wenn er so gefährlich ist?«
»Vees soll darüber entscheiden, was mit dem Dämon zu geschehen hat. Wir dürfen dem nicht vorgreifen. Geh jetzt! Ich muss bald mit dem Meditieren beginnen!«
Als Thyra das Sanctum Sanctorium des Hüters verließ, wusste sie nicht recht, ob sie sich mehr freuen oder mehr fürchten sollte. Einerseits beunruhigten sie die vielen Warnungen des Hüters, andererseits konnte sie es vor lauter Neugier und Abenteuerlust kaum mehr erwarten, bis es Abend würde und sie den Dämon sehen durfte. Vor dem Anblick allein hatte sie nämlich keinerlei Furcht. Die Tiere und Pflanzen, aus denen er nach den Berichten der Priester und Bauern bestehen sollte, waren ihr nicht unsympathischer als die menschlichen Einwohner des Tals.
Den ganzen Nachmittag lief Thyra von innerer Unruhe geplagt in ihrer Kammer auf und ab oder starrte versonnen aus dem winzigen Fenster. Und je später es wurde, und je näher der Abend heranrückte, desto aufgeregter wurde sie.

Endlich war die Stunde gekommen. Ein Tempeldiener mit einem irdenen Krug voll Wasser und einem leeren flachen Holzteller holte Thyra ab und führte sie die Stiegen hinab in den Vorratskeller. Regale und Fässer füllten das düstere Gewölbe.
Der Diener zog ein Messer aus seinem Gewand und schnitt damit ein paar Scheiben von einem Brot aus einem der Regale ab. Dann ging er mit Thyra zu einer kupferbeschlagenen Tür in der hintersten Ecke des Raumes. Sie führte, so wusste Thyra, in jenen Bereich des Kellers, in dem sie noch nie zuvor gewesen war - zu den selten benutzten Kerkern.
Neben diesem Eingang hielt Gunnir, in kupfernem Harnisch und mit Lanze, Schild und Messer bewaffnet, Wache. Seinem fetten, sonst so rosigen Gesicht war deutlich anzusehen, dass ihm nicht ganz wohl in seiner Haut war. »Sei um Vees' Willen vorsichtig!« zischte er Thyra angsterfüllt zu, während er die Türe aufschloss.
Aber damit erzielte er bei ihr eine gänzlich unbeabsichtigte Wirkung. Thyra kam dieses Gezittere der gesamten Priesterschaft auf einmal ausgesprochen lächerlich vor. Die schreckenerregenden Beschreibungen des Dämonen klangen irgendwie überzogen. Thyras Angst war nun vollkommen verflogen, und nur die erwartungsvolle Neugier ergriff jetzt mit jedem Schritt mehr von ihr Besitz, den sie dem Tempeldiener durch den sich anschließenden schmalen Gang folgte.
Nach einigen Metern kamen sie an einer Öffnung zu einer Folterkammer vorbei, dann an den kupferbeschlagenen Holztüren der ersten beiden Verliese, und schließlich gelangten sie an das Ende des Ganges. Hier taten zwei weitere Tempelwachen vor der hintersten Kerkertür ihren Dienst, jenseits welcher der geheimnisvolle Dämon gefangengehalten wurde. In Thyras Augen erschien sie jetzt wie eine Pforte in eine fremde, unheimliche Welt.
Während der Diener ihr Wasserkrug und Brotteller aushändigte, wiederholte er noch einmal all die Warnungen, die sie zuvor schon vom Hüter erhalten hatte. Allerdings fand er wenig Gehör bei der erregten jungen Priesterin, die ihre Aufmerksamkeit ungeteilt auf das Schloss richtete, in dem einer der beiden Wächter einen großen Schlüssel herumdrehte. Einmal - zweimal - dreimal.
Quietschend und knarrend wurde die schwere Tür aufgezogen. Ein gähnendes Dunkel tat sich vor ihnen auf. Um eine Hand für eine Fackel freizubekommen, stellte Thyra den Teller auf den Krug. Dann trat sie klopfenden Herzens in die Zelle hinein, und die Tür wurde hinter ihr zugeworfen. Einmal, zweimal, dreimal hörte sie den Schlüssel im Schlosse.
Wie angewurzelt stand sie da und betrachtete fasziniert den ausgestreckt am Boden liegenden Gefangenen, dessen Hand- und Fußgelenke mit Kupferringen an den Boden gekettet waren, und der mit einem Tuch zwischen den Zähnen geknebelt war.
Hatten die Priester und Dorfbewohner wirklich so maßlos mit ihren Beschreibungen des Dämons übertrieben, oder hatte er sein Äußeres verändert, um Thyra zu täuschen? In jedem Fall besaß er im Augenblick eine recht menschenähnliche Gestalt. Zwar trug er seine fremdartig hellen Haare schulterlang, dennoch hatte er eindeutig männliche Gesichtszüge. Allerdings waren seine Augen erstaunlich dunkel. Und wie seltsam seine Kleidung aussah! Seine eng anliegende schwarze Hose verhüllte auch seine Füße. Oder war es gar seine Haut? Sie glänzte so eigenartig. Nein, das konnte nicht sein! Hände und Gesicht sahen recht gewöhnlich aus. Aber diese Ohren, die nach oben hin spitz zuliefen, sprachen sehr deutlich dagegen, dass dies ein Mensch war. Den Oberkörper des Dämons kleidete eine Art langärmeliges, ebenfalls in schwarz gehaltenes Hemd aus anscheinend dickem und warmem Stoff, welches auch die Hälfte seiner Oberschenkel bedeckte.
Auf einmal wurde Thyra des kecken Blickes gewahr, mit dem er sie anstarrte. Etwas schien ihn zu amüsieren.
Sie kniete sich neben ihn hin, stellte Wasser und Brot ab und nahm dem Wesen den Knebel ab, um ihre Aufgabe zu erledigen. Sofort grinste es sie aufs Unverschämteste an. Es war Thyra ein Rätsel, wie es in seiner Lage so gut gelaunt sein konnte.
»Da erstarrte sie zum Steinmal, und der arme Darion musste jämmerlich verdursten!«
Thyra zuckte erschrocken zusammen. Die unerwartete und schnippische Bemerkung des Gefangenen hatte sie gänzlich überrumpelt. Mit trotzigem Gesicht nahm sie das Brot, brach ein Stück ab und hielt es ihm an die Lippen.
»Du solltest ruhig immer genau darauf achten, was jemand sagt! Ich bekomme davon keinen Krümel herunter, wenn ich vorher nicht einen Schluck zu trinken erhalten habe.«
'Wie überheblich!' dachte Thyra, während sie ihm den Krug reichte.
Nachdem er getrunken hatte, meinte er: »Danke... Sag mal, was habt ihr eigentlich mit mir vor?«
Statt einer Antwort bekam er einen ersten Brotkrumen in den Mund geschoben. Beim Kauen feixte er Thyra an. »Ich kannte einst einen stummen Piraten, der hieß Nir. Vielleicht sollte ich dich Nira nennen...«
Thyra versuchte, gleichgültig zu schauen, und zerteilte weiter das Brot.
»Mein Name ist Darion Albvolk, und ich reise mit einem Freund durch die Welt. Ihr lebt hier ganz schön abgeschieden. Es kommt selten mal einer aus Awalun bis an den Totenfluss. Ich dachte mir gleich, dass...« Er hielt inne, weil Thyra ihn vollauf entgeistert anstarrte. »Sag bloß, du warst noch nie außerhalb des Tals!«
Dieser geschwätzige Kerl brachte Thyra vollkommen durcheinander. Er benutzte so fremde Wörter wie 'Awalun' und 'Piraten', und er sprach von Freunden. Hat ein Dämon Freunde? Wie konnte ein durchweg böses Geschöpf derart fröhlich und freundlich sein!? Ob er sie schon bezaubert hatte, ihr alles nur vorgaukelte und sie zunehmend in seine Gewalt brachte? Hoffentlich hatte er bald aufgegessen!
Sie gab ihm das nächste Stück Brot, da wandte er seinen Kopf ab. »Nein, danke. Ich habe keinen Appetit.« Er wurde leiser, als spräche er zu sich selbst. »Ich hätte mich nicht einfach abseilen dürfen, ohne Murmûr Bescheid zu geben. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass in diesem Tal nur ein paar Priester und ein Haufen verrückter Bauern leben. Statt dessen liege ich nun hier und hole mir kalte Füße. Sehr unfreundlich, mir meine Stiefel wegzunehmen! Und so unnötig!«
Die Priesterin hatte die ganze Zeit aufmerksam den Ausführungen des eigenartigen Kauzes gelauscht, aber auch darauf geachtet, desinteressiert zu wirken. Ob dieser angespannten Konzentration und Thyras innerer Nervosität, die sie ebenfalls zu verbergen suchte, entglitt ihr mit einem Mal der noch halb gefüllte Wasserkrug. Er prallte auf den Brustkorb des Gefesselten, und sein Inhalt ergoss sich über dessen Gesicht. Sichtlich betroffen beugte sich Thyra hastig über ihn, um ihn mit ihrem weiten Priestergewand abzutrocknen.
»So eilig hatte ich es mit dem Trinken nicht, kleine Nira«, bemerkte der vermeintliche Dämon.
Sofort verschwand die Besorgnis um den Gefangenen aus Thyras Antlitz und wurde durch einen argwöhnischen Ausdruck ersetzt. Der Vorwitz dieses Wesens sprengte den Rahmen jedes natürlichen, fand sie.
»Ach, mach doch noch einmal das erschrockene Gesicht von eben!« bat er.
Thyra wich erschüttert zurück.
»Ja! Genau so!« jubelte der Dämon. »So kommen deine hübschen dunklen Augen besonders gut zur Geltung.«
Eilig sammelte sie Brot, Teller und Krug auf, wobei sie jeglichen Blickkontakt vermied. Dann stürzte sie zur Tür, klopfte erregt mit der Faust und rief nach dem Wächter.
»Schade, dass du schon gehst. Bring mir doch bitte beim nächsten Mal Weizenbrot mit, falls ihr hier so etwas habt!«
Die Worte klangen wie Spott in Thyras Ohren. Endlich hörte sie das ersehnte Geräusch des Aufschließens. Einmal - zweimal - dreimal. Sowie sich die Tür einen Spalt geöffnet hatte, schlüpfte sie hinaus und sauste an den verdutzten Wächtern und dem Tempeldiener vorbei und den Gang entlang, an dessen Ende sie Gunnir fast umrannte, so unmöglich dies bei ihrem Gewichtsunterschied auch erschien.
»Und jetzt?« fragte der eine Kerkermeister den anderen. »Sie hat die Fackel drinnen gelassen.«
»Das ist mir gleich. Ich werde die Zelle jedenfalls nicht betreten.«
»Aber der Knebel«, bemerkte der Diener. »Sie hat vergessen, den Knebel wieder anzulegen. Wenn wir es nicht tun, könnte das eine große Gefahr für das Tal bedeuten.«
Die beiden Wachmänner sahen sich ratlos und furchterfüllt an, also schlug der Diener vor: »Zu dritt mag es uns gelingen. Ich werde ihn knebeln und anschließend die Fackel an mich nehmen, während ihr ihn mit euren Speeren in Schach haltet.« Mit einer auf den Betrachter geradezu lächerlich wirkenden Vorsicht wurde der Plan in die Tat umgesetzt.

Den Rest des Abends konnte Thyra keinen klaren Gedanken mehr fassen. Am ganzen Körper zitternd, starrte sie aus ihrem kleinen Fenster hinaus, wo es zu schneien begann. Des Nachts wälzte sie sich schlaflos oder von Alpträumen geschüttelt im Bett umher. Es waren Träume, an die sie sich nur sehr undeutlich erinnern konnte, wenn sie erwachte. Das beunruhigte sie nur um so mehr, und obwohl es in ihrer Kammer wie überall im Tempel ob der Jahreszeit denkbar kalt war, schwitzte sie am gesamten Körper.
Immer wieder überlegte sie, ob sie sich am Morgen weigern sollte, dem Dämonen erneut das Essen zu bringen. Doch der einzige, der ihr diese Gnade hätte erweisen und die Strafe aufheben können, war der Hüter selbst, der schon seit dem späten Nachmittag in der Kupferkuppel auf dem Tempeldach betete, um in geistigen Kontakt mit Vees treten zu können.

»Das ist aber lieb von dir, dass du an das Weizenbrot gedacht hast, kleine Nira«, begrüßte sie der Dämon freundlich, als sie ihn am nächsten Morgen von seinem Knebel befreite.
Ungläubig starrte sie auf das Holzbrett neben sich. Darauf lag tatsächlich ein Hirsebrot! Das war ihr noch gar nicht aufgefallen. War es ein reiner Zufall oder hatte sie absichtlich ein helles Brot angeschnitten, aus irgendeinem ihr unbewussten Grund? Aus lauter Verwirrung lächelte sie, ohne es zu merken.
»Wenn du lächelst, wirkt dieser Kerker nur noch halb so trist.«
Thyra wurde noch misstrauischer. Zweifellos dienten die Komplimente einzig dazu, sie zu umgarnen und in seinen Bann zu ziehen.
»Das hatte ich ernst gemeint«, bekräftigte der Dämon.
Sie erschrak. Er konnte in ihrem Gesicht ja lesen, wie in einem Buch! Sie musste unbedingt vorsichtiger sein! Entschlossen kniete sie sich neben ihn, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
»Möchtest du, dass ich dir ein wenig von draußen erzähle, Nira? Von außerhalb des Tals?«
Thyra war sich nicht sicher. Natürlich zwickte sie die Neugier. Aber würde auch nur ein einziges wahres Wort über seine Lippen kommen?
»Womit fange ich nur an?« überlegte der Gefangene schmatzend und kauend. »Dieses Tal ist eingegraben in ein Bergmassiv, das man in alter Zeit die Weltendeberge nannte. Euer Flüsschen durchquert das Gestein und kommt jenseits der Gipfel wieder ans Tageslicht. In der Außenwelt nennt man es den Totenfluss, weil immer wieder Leichen in bootsähnlichen Särgen auf ihm dem Binnenmeer entgegentreiben, das auch neuerdings - also seit ein paar Jahrzehnten - Weibersee geheißen wird. Aber natürlich sind dies eure Verstorbenen, nicht wahr, kleine Nira?«
Kein Wort oder Zeichen gab sie ihm zur Antwort. Sie starrte ihn nur fragend an.
»Oh, ich vergaß. Du weißt wahrscheinlich gar nicht um die Bedeutung mancher Worte, die ich benutze. Ein Meer ist eine Ansammlung von Wasser, viele tausend mal so viel Wasser, wie es in dem kleinen See im Wald gibt. Weit mehr Wasser, als in dieses Tal hineinpassen würde. Und mit einem Boot kann man es befahren, so weit fort vom Ufer, bis man in keiner Richtung mehr Land sieht.
Du brauchst deswegen aber keine Angst zu haben. Es gibt auch sehr viel Land mit großen Wäldern oder weiten Grasflächen, für deren Durchquerung man zu Fuß Tage und Wochen braucht. Und Städte mit mehr als zehntausend Bewohnern. Und Tiere, die du vermutlich noch nie gesehen hast. Vögel mit roten und blauen Federn. Und Bären, die wie riesige, dicke Hunde aussehen, aber auch auf den Hinterbeinen stehen können wie ein Mensch.«
Thyra wurde auf einmal dessen gewahr, dass Brot und Wasser bereits aufgebraucht waren. Fasziniert hatte sie seinen Erzählungen gelauscht, ohne sich wirklich alles davon vorstellen zu können, doch jetzt musste sie gehen - und das war sicher gut so, denn sie war nahe daran gewesen, dem Gefangenen zumindest zu glauben, dass er selbst gesehen haben mochte, was er beschrieb. Sie erhob sich und ging zur Tür.
»Bis heute Abend, kleine Nira«, verabschiedete sich der Angekettete.
Verärgert drehte sie sich um. Nira, Nira! Das ging ihr langsam gegen den Strich, zumal der Name dem ihren ähnelte und doch anders war. »Ich heiße nicht Nira«, sagte sie nachdrücklich. »Mein Name ist Thyra.«
»Du kannst ja reden!« Offensichtlich war der Gefangene hocherfreut über seinen geglückten Plan, sie dazu zu bewegen.
Sie lächelte zaghaft zurück, da erinnerte sie sich wieder, warum sie hier war, legte ihm fest den Knebel an und rief den Wächter.
»Was ist mit der Fackel?« fragte der, als sie sie wieder drinnen zu vergessen drohte. Thyra überlegte einen winzigen Moment, dann meinte sie mit ernster Stimme: »Die bleibt in der Zelle! Sie schwächt den Dämon, weil er ein Geschöpf der Dunkelheit ist.« Wie ein Kind, das jemandem einen Streich gespielt hat, verschwand sie aus dem Keller.

Jetzt hätte Thyra jemanden gebraucht, mit dem sie über das Erlebte reden konnte. Doch genau genommen hatte sie so jemanden nie gehabt. Und der Hüter, dem sie eigentlich alles hätte berichten müssen, was der Gefangene ihr erzählt hatte und dass sie ihm ihren Namen verraten hatte, saß oben in der Kuppel - unerreichbar für jedermann, der nur den leisesten Respekt vor seiner Unterredung mit Gott Vees hatte.
Kaum bewusst, sondern mehr aus Gewohnheit stieg sie die Stufen des Nordturmes empor und stieß, oben angekommen, einen Pfiff aus, wie sie es schon so oft in den letzten etwa achtzehn Monaten getan hatte. Denn dieses Alter mochte der Adler Einbein nun haben.
Bald darauf tauchte er auch über der verschneiten südlichen Steilwand des Tals auf. Er umrundete einmal den Turm und setzte sich anschließend wie gewöhnlich neben Thyra auf eine Zinne. Und wieder fütterte sie ihn mit kleinen Bestandteilen ihrer vorausgegangenen Mahlzeit.
Sie seufzte. »Oh, mein lieber Einbein! Du hast es gut, du bist wirklich frei! Wenn ich doch auch fliegen könnte, dann wüsste ich, was wirklich hinter den Bergen ist.« Versonnen strich sie dem Vogel einige Schneeflocken aus dem Kopfgefieder, der sie gewähren ließ. Kaum bewusst beugte sie sich vor und schaute ihm tief in die Augen, als könne sie so all dies sehen, was er noch vorhin selbst erblickt hatte. »Was liegt hinter den Bergen?« Ihre Stimme klang eindringlich und flehend. »Was liegt dahinter?«

Zweites Kapitel


Kurzgeschichten / Bibliographie Oliver H. Herde

© 1991-2002 Oliver H. Herde Elf und Adler Verlag