Viertes Kapitel
Begegnungen an Awaluns End

von Oliver H. Herde

»Was bedeutet 'Kaiser'?« fragte Thyra, während des Rittes am nächsten Vormittag. Sie hatte die gesamte nächtliche Rast über fest geschlafen und war auch nach dem kargen Frühstück sofort wieder eingenickt. Nun klapperte sie unentwegt mit den Zähnen, was Darion und Murmûr mit tiefer Besorgnis beobachteten. Sie zog die Decke, welche um ihre Schultern lag, enger zusammen und blickte den Elfen aus ihren großen Augen erwartungsvoll an.
»Vor vielen Menschenaltern war es der Titel des wichtigsten und mächtigsten Mannes im Reiche Awalun. Kaiserberg war seine Residenz und Hauptstadt. Längst sind das Reich zerfallen, und die Zeiten unsicher.« Darion sagte dies mit einer gewissen Bitterkeit, die Thyra noch neugieriger werden ließ, ihr aber gleichzeitig gebot, nicht weiter in einer Wunde zu stochern, deren Ausmaß und Grund sie nicht zu erahnen verstand.
Schweigend zogen sie weiter, während der Schnee unaufhörlich herabfiel auf eine waldige Landschaft, in der sich selten Tiere zeigten. Nur ein unheimliches Geheule begleitete sie an diesem und den folgenden Tagen. »Wölfe«, erklärte Darion auf ihre Frage hin. »Vielleicht bekommst du bald welche zu sehen. Aber angreifen werden sie uns nicht. Unsere Reisegruppe ist ihnen zu groß und zu gefährlich. Und nur in der größten Not würden sie das Fleisch von einem der sprechenden Völker anrühren. Es schmeckt ihnen nicht besonders.«

Die Zeit verstrich. Einmal fing Murmûr einen Vogel, den er ihnen zum Mahl bereitete.
Thyras Kräfte verließen sie mehr und mehr, und obwohl Murmûr und Darion ihr auch die übrigen Decken gaben, wollte ihr nicht recht warm werden. Die beiden sprachen in ihrer Anwesenheit nicht darüber, dennoch wusste sie, dass sie sich jene Krankheit namens Blutkeuche zugezogen haben musste, wie von dem Zwergen ja schon am ersten Tage vermutet. Bald konnte sie sich nicht mehr auf dem Pferd halten. So bauten ihr Darion und Murmûr ein flaches Gestell, welches das Tier ziehen und auf dem sie liegen konnte. Sie dämmerte müde vor sich hin, manchmal schlief sie für Stunden ein oder verpasste gar einen ganzen Tageswechsel, bis sie jegliches Zeitgefühl verlor.

So hätte sie auch nicht zu sagen vermocht, am wievielten Tag ihrer Reise sie von einem garstigen Schneegestöber heimgesucht wurden. Darion meinte, es sei an der Zeit, einen Windschutz zu bauen, um sich vor dem bevorstehenden Sturm zu verbergen.
Der Zwerg aber entgegnete: »Das Land hier ist felsig. Ich verwette meinen Geburtsstein, dass es in der Nähe geeignete Höhlen gibt.« Er wies einen steinigen Hang hinauf. »Dort oben zum Beispiel könnte es gut eine geben.«
»Da führt ja ein regelrechter Pfad entlang«, bemerkte der Elf.
»Vielleicht ein Wildwechsel?«
»Schon möglich. Der Schnee lässt nichts erkennen. Doch in dieser Gegend...« Er wirkte nicht gerade hoffnungsfroh ob seiner unausgesprochenen Vermutung.
»Ich weiß. Halten wir die Augen offen!« Dabei tippte Murmûr auf die zweischneidige Axt, die an seinem Sattel hing.
Ihre Worte beunruhigten Thyra. Wovor wohl mussten sie sich in Acht nehmen? Sie fühlte sich zu schwach, um danach zu fragen.
Weiter oben konnte man tatsächlich einen Höhleneingang durch die sich verdichtende Wand aus wirbelnden Schneeflocken erspähen. »Du hattest recht«, lobte der Elf seinen Gefährten.
»Kunststück! Nur bei Mezek-Zaram gibt es mehr Höhlen als in dieser Gegend hier.« Er zog die Streitaxt an sich und prüfte ihre Blätter.
»Lass das!« schimpfte Darion. »Wenn dort wirklich einer ist, wollen wir nicht als feindselig erscheinen, sondern es erst im Guten versuchen.«
»Schon gut, schon gut!«
Die beiden stiegen von ihren Pferden ab und führten sie zu Fuß zur Grotte. Da sie nach einigen Metern einen Bogen beschrieb, konnte man von draußen nicht erkennen, wie tief sie in den Berg hineinreichte. Murmûr wollte schon mit seinem Reittier hineingehen, da hielt Darion ihn zurück. »Ich rieche ein Feuer.«
»Was meinst du, wem es wohl gehört?« Die Frage klang rhetorisch, als gäbe es für den Zwerg kaum einen Zweifel. »Riechst du einen?«
»Ja«, erwiderte Darion nach kurzer Pause und holte aus seiner Satteltasche ein kleines rot-weißes Stäbchen, das wie Eis glitzerte. »Bei euch sagt man 'Gastgeschenke kündigen Freunde an', richtig?«
Murmûr schmunzelte. »Ja, richtig.«
Langsam schritt Darion voran, während Murmûr mit den Tieren und der kranken Thyra zurückblieb. An der Biegung stellte sich der Elf breitbeinig auf, stampfte mit der Spitze seines Schwertes auf den Boden und hielt es so mit beiden Händen am Griffknauf. Dann rief er weiter hinein: »Gorra-Tak!«
Erst schien nichts zu geschehen, doch dann schob sich etwas Großes, Dunkles aus dem Inneren des Berges hervor. Thyra erschrak furchtbar, als sie erkannte, dass jenes Wesen ihr nicht von einem Fiebertraum vorgegaukelt wurde. Schlagartig verschwanden die verschwommenen Schleier vor ihren Augen, und sie konnte den erkennen, der diese Höhle zumindest für die Dauer des Sturmes als sein Eigentum beanspruchte: Er war weit größer als Darion und Murmûr zusammen. Sein dichter, langer Bart und seine buschigen Augenbrauen mündeten in ein dunkelbraunes Fell, das seinen gesamten Körper zu überziehen schien. Man konnte kaum erkennen, wo es in die Kleidung überging, die ebenfalls aus Fellen bestand. In seinen mächtigen Pranken hielt er ein Beil bereit, so groß wie Thyra selbst. Voller Misstrauen musterte er den Elfen, der entschlossen und regungslos vor ihm stand.
Dieser wiederholte: »Gorra-Tak!« Langsam zog er mit der Linken das rot-weiße Stäbchen hervor und bot es dem behaarten Monstrum an.
Für eine kurze Weile blieben beide wie sie waren, und nur die Augen des Großen wanderten aufmerksam an Darion auf und ab, sowie gelegentlich ganz kurz zu dem Mitbringsel in dessen Fingern.
Dann endlich ließ er seine Waffe sinken, nahm das Stäbchen und lutschte daran.
Noch immer ernsten Blickes tippte der Elf sich auf die Brust. »Darion.«
»Marmuck«, stellte sich der andere vor, indem er sich dröhnend mit der Faust gegen seine Brust schlug. Die tiefe Stimme jagte Thyra einen eisigen Schauer über den Rücken. Es folgte etwas Gebrummtes, das wie eine Frage klang, auch wenn Thyra die Sprache des fremden Wesens nicht verstand.
»Schoróg«, antwortete Darion und wies nach draußen, wo der Sturm mehr und mehr tobte.
Marmuck knurrte nur unwillig.
»Wir führen eine Kranke mit uns«, versuchte Darion zu erklären.
Sie traten näher an Thyra heran, was dieser sehr unangenehm wurde. Fast kam sie sich wie ein Gegenstand vor. Auch verspürte sie große Angst vor dem grobschlächtigen Kerl. Doch dafür schien Marmuck wiederum ihr Anblick zu missfallen. »Mensch. Viel Lärm!«
»Aber sie ist doch krank! Viel zu schwach, um Krach zu schlagen! Und es ist auch nur für die Nacht - bis der Sturm vorüberzieht.« Darion probierte es für alle Fälle noch einmal in der grollenden Sprache des Fremden, von welcher er offenkundig nur einzelne Worte beherrschte. Anschließend ließ er ihm Zeit, eine Entscheidung zu treffen, nachdem er ihm wie beiläufig noch eines jener Stäbchen, die er 'Zuckerstangen' nannte, angeboten hatte.
Der schwarzbraun behaarte Muskelberg schien beim Lutschen der Süßigkeit für einen winzigen Augenblick zu lächeln, dann brummte er und verschwand wieder nach hinten in seine Höhle.
Murmûr war unsicher. »Heißt das jetzt ja oder nein?«
»Das heißt, wir sind eingeladen. Benehmt euch nicht daneben, sonst reißt er euch den Kopf ab! Einen Troll reizt man nicht!«
Hinter der Biegung schloss sich ein durch Felsvorsprünge zweigeteilter Höhlenraum an. Marmuck der Troll hatte sich in den hinteren Bereich zurückgezogen, wo ein kleines Lagerfeuerchen flackerte. Das 'Vorzimmer' hatte er stillschweigend seinen Gästen zugedacht.
Darion und Murmûr führten die Pferde hinein und befreiten sie von ihren Lasten.
Anschließend brachte Darion Thyra etwas kleines Gebäck, das er für Notzeiten aufbewahrt hatte. Sie lag an der wärmsten Stelle innerhalb ihres Höhlenabschnittes, nicht allzu fern zum Feuer des Wortkargen Trolls, und auch Murmûr entzündete eines für sie. Doch wollte ihr selbst mit Hilfe der Decken auch jetzt nicht recht warm werden. Ihre Angst vor Marmuck tat ein Übriges. »Glaubst du, dass er gefährlich ist?« flüsterte sie.
Darion versuchte, sie mit einem Schmunzeln zu beruhigen. »Das kommt ganz allein auf dich selbst an. Ein elfisches Sprichwort sagt: 'Der Troll, den du reizt, ist der Troll, der dich tötet.' Oder anders ausgedrückt: Beachte ihn nicht, dann beachtet er dich auch nicht!«
Das, freilich, gelang ihr nicht. Während sie ihr karges Mahl einnahm, das dennoch ihren jämmerlichen Essensdrang bei weitem zu übertreffen vermochte, beobachtete sie Marmuck sehr aufmerksam - aus ihren Augenwinkeln heraus.
Der bepelzte Kerl nagte an einem gebratenen Tier, das sie in dessen jetzigem Zustand nicht mehr zu erkennen vermochte. Als er fertig war, kam es Thyra für einen winzigen Moment so vor, als blickte er - noch immer hungrig - in ihre Richtung.
Dann holte er verstohlen eine kleine Schatulle aus seinem Fellwams. Es war ein Kästchen aus einem Material, das Thyra für Kupfer gehalten hätte, wäre es von rotem, statt von gelblichem Schimmer gewesen. Winzige, bunt funkelnde Steinchen waren darin eingefasst.
Wieder schien er kurz liebevoll zu lächeln, dann ließ er es hinter einem Stein verschwinden - wie Thyra vermutete, um es nicht im Schlaf zu zerstören. Ein argwöhnischer Blick auf die ungeladenen Besucher schloss das Geschehen ab. Er schien nicht gemerkt zu haben, dass Thyra ihn beobachtet hatte, und legte sich sichtlich beruhigt nieder.
Dennoch schlug ihr Herz wild vor Aufregung, und sie fürchtete, diese Nacht nicht schlafen zu können. Sie irrte sich.

Erst lautes Geschrei und das Hufgestampfe unruhiger Pferde ließen Thyra aus fiebrigem Schlaf hochschrecken.
Da wich soeben der Zwerg Murmûr, mit den Händen sein Beil umklammernd, vor der überragenden Riesenhaftigkeit eines aufgebrachten, brüllenden Trolls zurück. Offenbar war der Kleine in den Bereich des Großen eingedrungen.
Thyra fand kaum Gelegenheit, über das Warum nachzusinnen, da entdeckte sie durch die mächtigen Beine Marmucks hindurch jene wundervoll glitzernde Schatulle offen auf dem Boden liegen, als hätte sie jemand fallenlassen. Ihr Inhalt, den sie in dem Halbdunkel nicht recht zu erkennen vermochte, lag achtlos verstreut.
Marmucks donnergrollende Stimme zerrte Thyras Aufmerksamkeit zurück zum Geschehen: »Dieb! Ich dich lehre!« Mit seiner Pranke versetzte er dem kleinen Gegner einen kraftvollen Hieb, der diesen durch die Höhle gegen die jenseitige Wand schleuderte, wo er regungslos liegen blieb.
Der tobende Zornbrecht wollte zu ihm, um sein Werk zu vollenden, da sprang ihm Darion todesmutig in den Weg - unbewaffnet und mit ausgebreiteten Armen! »Halt ein! Er wollte deinen Schatz sicher nur bewundern.«
Eine tödliche Stille trat ein, in der Thyra nur das Knistern der Feuer und das laute Pochen ihres eigenen Herzes wahrnahm. Dann hörte sie ein verhaltenes Knurren - nicht von dem Troll, sondern aus dem Vorraum stammend. Dort stand ein vierbeiniges Tier, das die Zähne fletschte, als sei es zum Sprung bereit. Marmuck und Darion schienen es gar nicht zu bemerken - blickten einander nur ernst an.
Doch bald glaubte Thyra ein Lächeln auf des Trolles Gesicht zu erkennen. »Du sicher recht«, brummte er und klang dabei durchaus freundlich. Nach einem Seitenblick auf Murmûr richtete er sich zu voller Größe auf. »Aber« - seine Stimme erhob sich zu vollendeter Bedrohlichkeit - »wenn noch mal nur gucken, ich töte!« Damit machte er kehrt, sammelte seinen Schatz ein und zog sich wieder in seinen Bereich zurück.
»Verdammter Narr!« zischte Darion den Zwerg an, nachdem er ihn mit ein paar Spritzern aus der Wasserflasche wieder zu Bewusstsein gebracht hatte. »Du kannst von Glück sprechen, dass du das bei einem so jungen und so humorvollen Troll versucht hast!«
Murmûr prustete abfällig. »Humorvoll? Ich höre wohl nicht recht! Dabei wollte ich mir das Kästchen doch nur einmal ansehen...«
Darion grinste breit. »Das glaubt dir nicht einmal der Troll.« Dann wurde er wieder ernst: »Ich sage dir das nicht zum ersten Mal und vielleicht auch nicht zum letzten: Eines Tages wird dich deine Gier das Leben kosten.«
Unwillig und verschämt senkte Murmûr seine Augen.
In diesem Moment drang Thyras schwache Stimme an Darions Ohr. Sie rief ihn. Obwohl er seine hockende Haltung nicht aufgab, war er ein Zwinkern später bei ihr. »Ja?« fragte er ruhig.
Beinahe hätte sie in diesem Augenblick ihre Angst vergessen. Langsam hob sie die Hand und stammelte: »Da... dort draußen.«
Darion schaute hinaus in die Vorhöhle. »Ach, du meinst den Wolf. Er ist schon sehr lange hier. Nie würde er uns allein angreifen. Er sucht nur Schutz vor dem Sturm wie wir auch und ist froh, wenn wir ihn in Frieden lassen. Der Streit wird ihn beunruhigt haben.«
Schlotternd zog sich Thyra die beiden Decken wieder bis zum Halse empor.
»Entspanne dich, kleine Thyra! Ab jetzt werden Murmûr und ich während der Nacht bei dir schlafen, um dich zu wärmen.«

Als Thyra am nächsten Morgen von Murmûrs und Darions Packgeräuschen geweckt wurde, war der Wolf offenbar schon lange verschwunden. Erst glaubte sie noch, das unheimliche Brausen und Pfeifen des Sturmes hören zu können, doch dann bemerkte sie, wie sie sich täuschte. Draußen sang ein Vogel unermüdlich sein Lied, und das freundliche Tageslicht drang tief genug in die Vorhöhle ein, dass Thyra es von ihrem Lager aus sehen konnte. Der Troll saß noch immer in seinem Höhlenabschnitt und beobachtete ernst den Abzug seiner Gäste.
Nachdem Darion Thyra auf ihre Bahre geholfen hatte, bedankte er sich bei Marmuck auf trollisch und mit einer weiteren Zuckerstange. Erst zögerte der Troll und sah Darion prüfend an, aber dann nahm er sie doch an.
Und schließlich führten Elf und Zwerg ihre Pferde hinaus. Thyra konnte es sich nicht recht erklären, aber bei ihrem letzten Blick auf Marmuck empfand sie keine Furcht mehr vor ihm, sondern eher so etwas wie Mitgefühl.

Wieder ging es tagelang durch verschneite Wäldchen und Schluchten, über Hügel und an erhabenen Bergen vorbei. Dann erreichten sie einen Fluss, den Darion und Murmûr als 'Awaluns End' bezeichneten. An ihm hielten sie sich eine Weile gen Mittag und bergab, bis sich der überwältigten Thyra etwas hinter einer Anhöhe offenbarte, das sie sich nie hätte vorstellen können, wäre es ihr auch noch so eingehend und ausführlich beschrieben worden: Soweit das Auge reichte, erstreckte sich dort ein gewaltiger See, der weit in der Ferne hinter einem verschwommenen Dunstschleier verschwand.
»Dies ist das Binnenmeer«, erklärte Darion. »Ab morgen geht es wieder nach Westen. Wir haben fast die Hälfte unseres Weges nach Kaiserberg geschafft.«
»Vielleicht sollten wir uns doch besser nach Osthaff wenden«, hielt Murmûr mit einem Seitenblick auf die kranke Thyra dagegen. »Es liegt ein wenig näher und im Süden; Kaiserberg aber ist hoch gelegen und die Straße von Osten her schon lange zwischen den Felsen verschwunden. Wir wären schneller am Haff und könnten dem Winter ein Stück vorauslaufen.«
»So geschwind sind wir nicht. Aber vielleicht behältst du dennoch recht. Ich halte Kaiserberg immer noch für geeigneter. Dort kennt man uns. 'Setze auf neues Land nur gesunde Füße' heißt es bei uns. Warten wir ab, ob sich ihr Zustand verschlechtert. Dann gen Osthaff.«
Über einen verschlungenen und vielerorts zugewucherten Trampelpfad, der durch Hohlwege wie manches Gestrüpp führte, gelangten sie nach einer Weile an eine sichtlich uralte Steinbrücke. Darion erklärte Thyra das Besondere an diesem Bauwerk, welches ganz offenbar nur äußerst selten noch benutzt wurde: »Wenn wir sie überschreiten, sind wir in Awalun. Einst - vor Jahrhunderten - war es das große, mächtige Reich weiser Kaiser. Jetzt ist es zerfallen in viele kleine Länder, deren Fürsten sich gegenseitig anfeinden - eifersüchtig auf die Habe der Nachbarn.«
Sie ritten hinüber, ohne dass die Brücke - wie ihr Aussehen es versprochen hatte - unter ihnen zusammengebrochen wäre.
»Dort stand einmal ein Wachhäuschen«, meinte Darion und wies die Blicke seiner Begleiter auf die kläglichen Überreste einer einstigen Mauerecke. In ihrem Winkel bauten sie ihr Lager für die Nacht auf, da die Steine gemeinsam mit einigen Büschen und Bäumen ein halbwegs windgeschütztes Plätzchen umgaben.
Sternenklar brach die Nacht herein. Das letzte, was Thyra vor dem Einschlafen sah, waren die Umrisse Darions vor der bauchigen Mondscheibe, wie er von einem Steinhaufen auf das Meer hinabschaute.

Am nächsten Morgen stand ebendort Murmûr in beinahe derselben Haltung, den Blick hinunter auf die nahe Küste geheftet.
War es nur ein Zufall, oder hielten die beiden etwa Wache? Zwar hätte Thyra nicht beschwören wollen, dass sie dies bislang noch zu keiner Nacht getan hatten, dennoch kam es ihr auf eigenartige Weise ungewohnt und beunruhigend vor.
»Ist... Ist alles in Ordnung?« fragte sie Darion, der soeben einen Schritt entfernt über dem Feuerchen das Frühstück bereitete.
Jener blickte sie warm lächelnd an. »Ja, es ist gleich fertig.«
Sie zog die Brauen zusammen. »Nein, ich meine... Droht Gefahr?«
Als hätte er erst nun begriffen, warf der Elf sein Haupt ein wenig zurück. »Achso. Nein, habe keine Furcht! Wir sind nun lediglich im alten Reich und werden vielleicht bald wieder auf Menschen stoßen.«
Er beendete sein Rühren, beugte sich über den kleinen Topf und schnupperte. Zufrieden nahm er ihn vom Feuer und stellte ihn neben Thyra.
»Werden sie uns helfen?«
»Jeder Mensch ist anders als der andere.«
Nachdenklich betrachtete Thyra die dampfende Suppe.

Später am Tage - sie lag wieder im Halbschlafe dahindämmernd auf der wackelnden Trage - raunte Darion dem Zwergen etwas zu. Etwas stimmte nicht! Sogleich brachte sie all die Aufmerksamkeit beisammen, welche das Fieber nur zuließ.
Für die anderen beiden galt dies auch, wie sie feststellte: Sie musterten eindringlich das Buschwerk zu beiden Seiten. Murmûr hatte die Linke auf das kleine Handbeil im Gurte gelegt. Darion hingegen reckte die Nase leicht empor, während seine spitzen Ohrmuscheln unruhig zuckten.
Seine nächsten Worte verstand Thyra allzu deutlich, obgleich er sie doch so gefasst sprach: »Lass sie stecken; es sind zu viele.«
Wie von selbst hielten die Pferde an, dann erhob der Elf gelassen seine Stimme: »Zeigt euch nur; wir werden nicht kämpfen.«
»So, so, Herr Neunmalklug!« Eine Frau trat zwischen zwei Sträuchern hervor, eine leicht geschwungene Klinge blank gezogen. Ihre Kleidung wirkte irgendwie wild zusammengeworfen, war sie doch so bunt und aus so unterschiedlichen Stoffen und selbst die Mütze und Weste aus verschiedenem Fell. Anscheinend war sie recht kräftig, auf jeden Fall aber noch etwas hochgewachsener als die größte Frau im Tal.
Andere schauten nun hinter Hecken und Bäumen hervor, und für alle schien dasselbe zu gelten.
Die Anführerin kam großspurig näher. »Komm mal runter von deinem hohen Ross!« Dabei winkte sie dem Elfen auffordernd zu, um zu verdeutlichen, dass sie es nicht allein im übertragenen Sinne meinte.
Dem Befehle folgend, schwang sich Darion elegant vom Rücken des Reittieres direkt vor die Prahlerin hinunter, die im ersten Moment etwas erschrocken einen halben Schritt zurückwich. Doch er blickte sie nur offen an, als hätte er statt ihrer eine Waffe in der Hand und eine schützende Horde hinter sich.
Nach einem unsicheren Räuspern hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen: »Entwaffnet sie!«
Einige der immer zahlreicher erscheinenden Frauen näherten sich nun, Murmûr aber zog seine Streitaxt aus einer Schlaufe am Sattel, um sie drohend über dem Kopfe zu schwingen. Da klatschte Dorian dem Pferde des Zwergen auf den Hintern, dass es aufgescheucht davonstob und die Frauen beiseitesprangen. Der kleine Kerl konnte nicht einmal abspringen oder sich auch nur hinabfallen lassen, da er seine Füße zur Sicherheit vor einem Sturz immer in den Steigbügeln festzubinden pflegte. Zudem hatte er durch die große Axt, die er auf keinen Fall verlieren wollte, bestenfalls eine Hand frei, mit der er die wirbelnden Zügel doch nicht erlangte. »Das büßt du, Spitzohr!« fluchte er noch im Verschwinden.
Der Elf aber rief ihm freundlich, fast lachend nach: »Wir sehen uns in Krozenk!« So wusste er doch wenigstens seinen Freund in Sicherheit.
Die Anfüherin der Frauen aber schimpfte: »Das Zwerglein soll recht behalten! Fesselt und knebelt ihn sorgfältig!«
Unsicher, ob der inzwischen als Elf erkannte vielleicht einen Zauber sprechen würde, eilten sich die Näherstehenden, den Befehl auszuführen. Jener aber wehrte sich in keiner Weise, als man ihm die Handgelenke auf dem Rücken kreuzte und sie mit einem Seil in allen Richtungen mehrmals fest umwand und zugleich ein Tuch in seinen Mund gestopft wurde. Letzteres sicherte man mit einem zweiten. Derweil schlang man auch noch ein Seil in Höhe seiner Ellenbogen um Rumpf und Arme, bis er dadurch eine leicht gebeugte Haltung annehmen musste.
Dennoch glichen Kopf und Hüfte aus, was einen unterwürfigen Eindruck hätte ergeben können. Fast wirkte Darion, als legte eine Dienerschaft dem Herrn ein Präsentationsgewand an. Thyra - zu nicht mehr fähig, als zur Beobachtung - vermochte kaum zu fassen, wie ruhig er blieb.
Schließlich verband man auch noch seine Fußgelenke mit einem kurzen Seil, dass ihm für einen Schritt kaum vier Handbreit verblieben.
Zwei der Frauen packten ihn an den Oberarmen und schoben ihn auf die Anführerin zu. Schon wollte diese siegerhafte Prahlereien von sich geben, als sie den ungebrochenen Geist in seinen Augen erkannte. »Auf die Knie vor deiner Herrin, Sklave!«
Es überraschte sie sichtlich, dass Darion nach nur einem sehr kurzen Zögern, während welchem er sie gemustert hatte, gehorchte. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet, und es nahm ihr den einfachsten Vorwand, ihn mit einer Handgreiflichkeit zu bestrafen. »Senke deinen unverschämten Blick!« fügte sie eilig hinzu, doch um so schneller folgte Darion auch dieses Mal.
Nicht recht schlüssig, ob ihr der Gehorsam zusagte oder den Spaß verdarb, entschloss sie sich, es erst einmal dabei zu belassen. Statt dessen knüpfte sie eine Schlinge in einen Strick, welche sie dem Elfen um den Hals legte. »Nehmt alles mit! Für diese Fahrt haben wir genug Beute gemacht.« Damit zerrte sie Darion an der Halsleine hinter sich her, während sich die anderen um Thyra und die Pferde mitsamt der Ausrüstung kümmerten.
Aller Schwäche und aller Erschrockenheit über die plötzliche Wendung ihrer Reise zum Trotze begann Thyra nunmehr dagegen aufzubegehren: »Was wollt ihr von uns? Warum tut ihr Darion das an?«
»Keine Angst, Kleine«, erwiderte eine der Frauen in ihrer Nähe, »du bist jetzt in Sicherheit.«
Thyra stutzte, dann fragte sie zögerlich: »Wovor?«
»Na... vor den Männern! Was hatten die überhaupt vor mit dir?«
»Sie wollten...« Wie Thyra erkennen musste, war das gar nicht so leicht zu erklären, da sie selbst nicht viel davon verstanden hatte. Was wusste sie schon von der Welt? Und was von Darion und Murmur?
»Aha«, stellte die Frau trocken fest. Allerdings blieb sie die Erklärung schuldig, in welchem Bezug denn eigentlich.
»Was meinst du?«
»Na, die haben dir das offensichtlich nicht mal gesagt, sie Mistkerle!«
»Doch, doch! Sie wollen mich irgendwo hinbringen, wo ich gesund werden kann.«
»Das übernehmen wir jetzt, Kleine!«
»Aber...«
»Nein, ruhe dich aus! Das kannst du später alles Geta erzählen.« Damit wies sie auf die mit ihrem Gefangenen vorausstolzierende Anführerin.

Gewiss ein paar Stunden waren sie unterwegs; jedenfalls erschien Thyra die Strecke deutlich weiter als eine Umrundung des Tales. Besonders schnell kamen sie jedoch auch nicht voran. Man wollte sie wohl nicht zu sehr durchschütteln und musste Darions Schrittweite ebenso wie dem unwegsamen Gelände entsprechen. Dem Elfen aber wenigstens die Fußfesseln abzunehmen, kam anscheinend keiner der wehrhaften Frauen in den Sinn.
Über felsiges Gelände mit abnehmendem Bewuchs ging es Thyras Eindruck nach eher ab- als aufwärts. Schließlich gelangten sie an das Ufer des gewaltigen Sees. Noch immer konnte Thyra kaum fassen, was sie sah. So viel Wasser - endlos! Und doch hatte Darion ihr erklärt, es gäbe auf der anderen Seite ebenfalls Land - es sei nur zu weit entfernt, um noch gesehen zu werden. Es behagte der ohnedem schon genug Kranken gar nicht, wie schnell die Welt um sie herum immer weiter wuchs, ohne dass ihre ungeübte Vorstellungskraft damit schritthalten konnte.
Sogar das feinsandige Ufer war um ein Vielfaches breiter als das des Geistersees im Tal. Die Aufregung über diese neuen Dinge ließ sie viele Fragen stellen, die ihr die immer mitleidiger dreinblickenden Frauen bereitwillig beantworteten. So lernte Thyra wiederum neue Wörter wie 'Strand' und 'Küste' kennen. Auch musste man ihr beruhigend erklären, dass die Boote, auf die sie bald stießen, nicht der Bestattung Verstorbener dienten, sondern dem Fortkommen Lebender auf dem Wasser. Nur langsam wurde ihr klar, das sie ja selbst in ihrer Not einen Sarg ganz ähnlich verwendet hatte.
Als Thyra dann das schwimmende Haus mit den beiden Baumstämmen auf dem Dach entdeckte, an denen man riesige Tücher aufgehängt hatte, verschlug es ihr die Sprache, und alle weiteren Fragen waberten klanglos aus ihrem weit geöffneten Munde. Zu viele namenlose Eindrücke prasselten auf sie ein, schon während man sie in den rundlichen Särgen zu dem 'Schiff' hinüberbrachte: Die ihr so hoch vorkommenden Wellen, die Paddel und Ruderbänke, die Bordwände des Schiffes mit ihren Luken weiter oben, den Fenstern von Vorder- und Achtertrutz, die Masten mit ihren knarzenden Wanten und Segeln und die noch mehr Frauen an Deck.
Thyra verlor das Bewusstsein.

Fünftes Kapitel


Kurzgeschichten / Bibliographie Oliver H. Herde

© 1991-2002 Oliver H. Herde Elf und Adler Verlag