Fünftes Kapitel
Weiberland

von Oliver H. Herde

Wie lange sie geschlafen hatte, hätte Thyra nicht zu beantworten vermocht. Aber sie fragte auch nicht danach, obgleich eine der Piratinnen bei ihr Krankenwache hielt. Etwas ganz anderes beschäftigte sie: »Wo... wo ist Darion?«
Die Frau blickte sie nur sorgenvoll und nachdenklich an. Dann erwiderte sie aufstehend: »Warte!« Eilig verschwand sie aus dem kleinen Raum hinaus.
In der Vermutung, sie würde den Elfen holen, schaute Thyra sich nun in Ruhe um. Sie lag in einem Kastenbett. Alle Wände waren aus Holz; in einer aber gab es etwas, das grünes Licht abzugeben schien. Es sah aus wie ein Bild mit vielen Kringeln. Ein Schrank, der Stuhl, ein Tischchen nahe des Bettes - nichts, das Thyras Neugier so hätte wecken können, wie das Leuchtbild.
Gerade wollte sie sich erheben, es eingehender zu beschauen, als die Türe wieder aufging und Geta hereintrat. »Du solltest noch nicht aufstehen!«
»Da... das da...«
»Was ist mit dem Fenster?«
»Fenster?«
»Ja, soll ich es öffnen?«
Thyra zögerte, bis sie verstand, dass das Grüne wohl so etwas wie ein Vorhang aus einem ihr unbekannten festen Material sein musste. »Ja, bitte!«
Die Frau schob es einen Rahmen entlang empor und verhinderte mit einem kleinen Riegelchen, dass es wieder zufiel. Erfrischende Luft drang herein, wenn sie auch kühl war. Schnell zog Thyra die Decke bis zum Halse, atmete aber begierig ein.
Dies wurde mit einem Schmunzeln beobachtet, bevor sich Geta nun ihrerseits an das Bett setzte. »Hast du Hunger?«
»Nein... Kommt Darion nicht?«
»Ist das der Elf? Vor dem brauchst du keine Furcht mehr zu haben; der ist sicher verwahrt.«
»Aber... ich habe doch gar keine Furcht vor ihm! Er hat mich doch...« Befreit? Gerettet? Beides traf es ja nicht so ganz. Konnte sie ihn nach so kurzer Zeit schon als Freund bezeichnen? Im Grunde hatte sie gar keine rechte Erfahrung mit Freundschaften.
»Was denn?« drängte Geta. »Gut behandelt, wie es die Männer in Awalun bisweilen auch mit ihren Tieren tun? Das hat nichts zu sagen! Du bist jetzt frei.«
»Ich komme nicht aus Awalun«, erklärte Thyra, wenn dies auch das einzige war, was sie einigermaßen sicher darüber sagen konnte.
»Wie aus Jalund siehst du nicht gerade aus...«
Wieder ein neues Wort! Doch wenn sich Thyra nicht verzetteln wollte, musste sie alles der Reihe nach klären. »Ich komme aus dem... aus einem Tal... in den Bergen. Die Leute dort wissen nichts von außerhalb.«
Geta musterte sie ein Weilchen misstrauisch. Dann schien sich ein siegessicheres Lächeln in ihrem Gesicht anzukündigen. »So, so... Und wer herrscht dort?«
»Vees natürlich!«
»Ein Mann?«
»Unser Gott.«
»Und er spricht direkt zu euch, dieser Gott, ja?«
»Nein, der Hohepriester spricht mit ihm und gibt es an die Leute weiter.«
»Dachte ich es doch! Ein männlicher Gott und ein männlicher Priester! Die Männer beherrschen euer Tal ebenso wie Awalun!«
Thyra stutzte, da sie Getas Schlüssen so schnell nicht recht zu folgen vermochte.
»Aber lass mal; in Weiberland wird das alles ganz anders! Heute Abend werden wir dort sein.« Gönnerhaft legte sie die Hand auf Thyras Decke.

Und tatsächlich: Des Abends durfte Thyra endlich aus der kleinen Kajüte, wenn man sie auch nicht gehen ließ, sondern auf einer Bahre trug.
Sie hätte keine Worte gefunden, all die neuen Eindrücke zu beschreiben - schon allein, weil ihr die Wörter fehlten, sie bloß zu benennen. Um so schwächer fühlte sie sich.
Bereits von Deck aus erschlug sie fast der Anblick der befestigten Hafenanlage, welche sich in eine große Bucht schmiegte. Andere Schiffe lagen in der Nähe, und an Land zog sich eine Vielzahl verwinkelter Häuser und Gassen einen Hügel hinauf. Überall leuchteten Fackeln, Kerzen und gar Öllampen, als wenn die Bewohner das in der Dämmerung schwindende Licht auszugleichen suchten. Es war ein sehr bunter Ort - so viel konnte Thyra trotz Zwielichtes erkennen. Und ganz sicher war er um ein Vielfaches größer als das Dorf im Tal.
Über den Landungssteg brachte man Thyra auf die Hafenmauer und weiter in die Stadt hinein. Es waren nur eine Handvoll Frauen, Geta immer vornean.
Von überall sah sich Thyra neugierigen Blicken ausgesetzt. Frauenblicken. Die wenigen Männer auf den Straßen sahen allesamt heruntergekommen aus und trugen Halseisen und Kettenfesseln.
Wo steckte Darion? Würde man ihn zu einer dieser jammervollen Gestalten machen wollen? Jedenfalls scherten sie sich kaum um Getas Grüppchen.
Bald hatte man ein Gebäude erreicht, welches es an Raum leicht mit dem Veestempel im Tale aufzunehmen vermochte und ihn an Prunk weit übertraf. Wieder gab es diese grünen Fenster, die allein Thyra schon als unglaublicher Luxus schienen. Und die flackernden Lichter waren hier besonders zahlreich. Diese beleuchteten wiederum allerlei Verzierungen an der Außenmauer, Säulen und Relieffs.
Drinnen war alles üppig mit mit Kerzenständern, Teppichen, Vorhängen, Truhen, ja sogar Vasen und Bildern geschmückt. Die Wandteppiche kamen Thyra regelrecht dekadent vor.
Über Korridore und Treppen gelangte man in einen Saal. Hier warteten bereits einige stolz und wichtig dreinblickende Frauen. Ein paar von ihnen standen am Rande oder neben der Türe und trugen neben den am Orte offenkundig üblichen leichten Fechtwaffen an ihren Seiten noch Stangenwaffen, die sie als Wächterinnen auswiesen.
Die anderen waren in besonders aufwendige Tuche gehüllt - Hosen, Hemden, Westen, vielfach mit Rüschen, Perlen und Zierrändern besetzt. Dazu trugen sie Schmuckstücke, gering an ihrer Anzahl, doch dafür wohl um so größer und kostbarer.
Getas Blick traf den einer hochaufgerichteten Frau mit einem rot funkelnden Stein am rechten Nasenflügel sowie einem besonders ausladenden Ohrring auf der gegenüberliegenden Seite. Jene hob ihre Hand huldvoll ein wenig zum Willkommensgruße, wobei silberne und goldene Armreifen an ihrem Handgelenk aneinanderschlugen. »Hattest du eine erfolgreiche Fahrt, beste Geta?«
»Ja, wirklich!«
Beider Rechte klatschten aufeinander, und auch die Umstehenden machten einen zunehmend ausgelassenen Eindruck.
»Eine ganze Ladung Weins haben wir einem Handelsschiff abgenommen, und beim Landgang konnten wir einen Gefangenen machen und Pferde und Ausrüstung erbeuten.«
»Fein, fein«, erwiderte die andere, derweil sie schon neugierig auf Thyra hinunterblickte. »Ich bin sicher, du wirst einen angemessenen Anteil für mich finden. Doch wen haben wir denn hier?«
Geta erwiderte schneller als Thyra: »Wir konnten sie bei eben jener Gelegenheit befreien. Die Männer müssen ihr übel mitgespielt haben, so krank wie sie ist!«
»So? Aber nun bist du ja hier. Wie lautet dein Name, Kind?«
Das alles ging Thyra doch um einiges zu schnell! Befreit? Dessen war sie noch nicht recht überzeugt.. »Nein, ich... äh, Thyra, aber...«
»Schon gut«, beschwichtigte die Frau, »das kannst du mir alles erklären, wenn es dir besser geht. Ich bin übrigens Haretta, die Großkapitänin von Weiberland.«
Sie winkte eine etwas ältere Frau heran. »Raidrun, teile ihr ein Zimmer zu und kümmere dich um sie!«
»Was habt ihr mit uns vor?« fragte Thyra eilig, so lange noch Möglichkeit dazu bestand.
»'Uns'?«
»Ja, mir und Darion, dem Elfen...« Unwillkürlich wies sie auf die Türe, zu der man sie hereingetragen hatte.
Ernst funkelte Haretta Geta an. »Ist das wahr, du bringst einen dieser spitzohrigen Zauberer in unser Land!?«
Jene winkte ab. »Ich passe schon auf. Wollen doch mal sehen, ob wir so einen nicht auch abrichten können!«
Noch wirkte Haretta keineswegs überzeugt. Mit zusammengekniffenen Augen drohte sie: »Du wirst mir für alles einstehen, was er anstellt, sei gewarnt!«
»Ja doch! Ich werde ihn erst mal nicht ungeknebelt allein lassen. Aus der Zauber!« Sie lachte siegesgewiss.
Ein letzter warnender Blick Harettas blieb die einzige Antwort hierauf. Diese wandte sich dann wieder Thyra zu. Ihr Ton war nun etwas ernster und bestimmender als zuerst: »Wir sprechen morgen weiter. Iss, schlaf dich aus... Und gib ihr vernünftige Kleidung, Raidrun!«
»Natürlich.« Jene verbeugte sich leicht, dann wurde Thyra ihr folgend aus dem Saal gebracht.
Von den weiteren Gängen bekam die Kranke nicht mehr viel mit. Ihre Erschöpfung ließ ein nur spärliches Mahl zu - zwei, drei kleine Bissen einer Frucht - bevor sie in einem Bett einschlief, das ihr weit prunkvoller als das des Hüters erschien.

Thyra hatte bis nach dem Mittag geschlafen und war in jeder Hinsicht sehr gut von Raidrun versorgt worden. Das Gespräch mit Haretta wurde jedoch ausgesetzt, bis sich Thyra besser erholt haben würde.
Langsam gewöhnte sie sich daran, ständig völlig neue Dinge kennenzulernen. Allerdings bedeutete ihr alles hier einen Luxus, wie sie ihn sich nie zuvor vorzustellen vermocht hätte. Allein die Größe der Gemächer und deren kostbare Einrichtungen stellten ihr alles Gekannte in den Schatten.
Nach ein paar Tagen durfte sie endlich aufstehen. Vom Liegen schmerzte ihr längst der Rücken, und sie hatte sich zunehmend gelangweilt, obgleich ihr Raidrun durch Erzählungen die Zeit zu vertreiben suchte. Thyra wollte lieber selbst sehen, statt sich etwas vorstellen zu müssen.
Als Gewandung erhielt sie ein rüschiges Hemd und eine Weste, dazu eine Hose. Solche Beinkleider kannte sie vor Darions Auftauchen im Tal nur von den Bauern und Tempelwächtern dort, doch dieses hier war aus einem wundersam feinen, geschmeidigen Stoff gefertigt und mit seitlichen Schmuckstreifen versehen. Offenbar war es die übliche Tracht hier; zumindest die der Frauen, nicht Arbeits- und Kampfgewand wie im Tale.
Die Männer, welche Thyra von ihrem Fenster aus auf der Straße beobachten konnte, trugen irgendwelche Lumpen, deren alleinige Gemeinsamkeit die Armseligkeit blieb. Viele waren an Hand- oder Fußgelenken mit Ketten gefesselt. Jenem Metall fehlte der rötliche Schimmer - für Thyra das deutlichste Zeichen, dass Vees hier keine Macht hatte.
Wie angekündigt, holte Raidrun sie ab und führte sie zu der obersten Kapitänin. So standen jene und Thyra bald in dem schon bekannten Saal, diesmal jedoch allein, nachdem Raidrun und eine Wache hinausgegangen waren.
»Nun, mein Kind, geht es dir also etwas besser«, wurde Thyra begrüßt. »Ich hörte, es hielt dich nicht im Bett. Solche Frauen brauchen wir!« Gönnerhaft lächelte sie und griff ihren Gast bei der Schulter.
Eigentlich hatte sich Thyra vorgenommen, geduldig abzuwarten und zuzuhören. Denn noch immer hatte sich ihr kein überschaubares Bild über diese Leute zusammengefügt. Dieser Absicht zum Trotze platzte sie heraus: »Was habt ihr mit mir vor?«
Zwar runzelte Haretta die Stirne, doch lächelte sie zugleich belustigt. »Nichts weiter«, säuselte sie wie beiläufig. »Du bist jetzt eine freie Frau, die keinen Mann mehr zu fürchten braucht. Sicherlich wirst du dich uns anschließen wollen, auf dass wir unser Geschlecht eines Tages gänzlich befreien. Aber es hat noch Zeit, bis du wieder ganz gesund bist. Dann kannst du Fechtstunden haben und was du sonst noch brauchst.«
Thyra blickte sie nur stumm mit immer mulmigeren Gefühlen an. Diese Frau hatte sie bereits fest in irgendeinen verrückten Plan einbezogen, den Thyra noch gar nicht recht zu erfassen wusste. Es sah nicht danach aus, als rechne die Großkapitänin überhaupt mit einer Ablehnung ihres diffusen Angebotes. Das würde noch böses Blut geben; aber bitte nicht schon heute! Erst musste Thyra mehr erfahren. Vielleicht würde eine neuerliche Flucht notwendig werden, möglicherweise mochte man sie auch noch zu anderem überzeugen.
»Mal sehen«, entglitt es ihr leise. Dann blickte sie hellwach auf und setzte eilig hinzu: »Was ist eigentlich mit Darion geschehen?«
Unwillig musterte Haretta ihren Gast von oben bis unten. Ihr war offenkundig, dass diese junge Frau im Kopfe noch nicht so weit war, wie man es hier gerne gesehen hätte. Einem Elfen mochten noch andere Mittel bereitstehen, denn blanke Gewalt. Falls jedoch ein Beherrschungszauber auf Thyra lag, so würde man schon Arznei dagegen finden!
»Nichts weiter.«
Diese Phrase kam Thyra allerdings sehr bekannt vor! Ihr durchdringender, rügender Blick ließ Haretta überrascht die Brauen heben.
Ein kleiner Kompromiss würde erweisen,dass man hier nichts zu verbergen hatte. »Er dient nun bei Geta; ich dachte, du wüsstest dies.«
»Ich will ihn sehen.«
»Natürlich - jederzeit. Und dann?« Befriedigt konnte Haretta feststellen, dass sich Thyra darüber wohl keineswegs schlüssig war. Dennoch seltsam und auch beunruhigend, wie wenig Bewusstsein dieses unreife Ding für seine bisherige Unterdrückung und endliche Befreiung aufbrachte!
»Dann...« Noch immer zögerte Thyra. Möglicherweise war es tatsächlich klüger, nichts zu überstürzen und sich zu überlegen, wie sie Darion gegenübertreten wollte. »Morgen?« fragte sie zaghaft.
Nach einer kurzen Pause entschied Haretta: »Von mir aus. Ich werde Geta benachrichtigen, dass du sie morgen nach dem Mittag besuchst.«
Wieder trat kurz Stille ein, bis Thyra sich leise bedankte.
»Schon gut, Kleines. Wir wollen hier alle nur dein Wohl.
Sag... Was für Handwerke hat man dich in deinem vorigen Leben ausüben lassen?« Sie erwartete nicht, dass sich Thyra mit Holzbearbeitung auskannte, obwohl es doch so sehr an Schiffszimmerfrauen mangelte. Köchinnen und Tuchmeisterinnen gab es reichlich.
»Ich bin... war Priesterin.«
Harettas Verblüffung ließ sich nicht übersehen.
»Ich musste die Gesetze des Vees lernen«, erklärte Thyra immer leiser werdend, als rede sie mit sich selbst, »die Zeremonien und Gebete.«
Was sollte man damit anfangen! Anscheinend taugte diese Neuerwerbung auch nur als gewöhnliche Besatzung.
»Ein bisschen nähen kann ich...«
Wer nicht! Aber auf hoher See unmittelbar nach der Schlacht richteten die Frauen ihre Gewänder ohnehin nur in besonders nötigen Fällen. Man hatte schließlich Ersatz dabei, und solche Reparaturen hatten Zeit bis daheim, wo sich die Männer darum kümerten. Priesterin! Was für ein Unsinn! Und von diesem Gott hatte Haretta noch nicht einmal gehört! Wahrscheinlich hatte Thyra den ganzen Tag nur über verstaubten Folianten gesessen.
»Moment mal!« Gerade ging der Kapitänin ein Licht auf, und entsprechend erhellte sich ihre grimmiger gewordene Mine. »Kannst du lesen und schreiben?«
»Ja, schon.«
»Immerhin! Vielleicht taugst du ja als Zahlmeisterin oder für das Logbuch - wenn du dich bewährt hast.«
Unwillkürlich musste Thyra lächeln, denn irgendwie freute sie sich doch, da soeben der Eindruck veflog, nutzlos zu sein.
»Am besten, du beginnst gleich morgen mit den Übungen!«
»Was für Übungen?«
»Na, die Fechtstunden, Kindchen!« Sie rollte theatralisch die Augen. »Aber keine Furcht! Ich werde Lorhild anweisen, es langsam anzugehen, falls du noch nicht ganz gesund bist. Und sie kennt sich mit Anfängerinnen aus. Alle Neuen fangen bei ihr an.«
Selbstzufrieden schlenderte Haretta vor der überrumpelten Thyra auf und ab. »Den Nachmittag hast du frei. Schau dir die Stadt an! Raidrun kann dich herumführen.«
Damit sah sie die Unterredung als beendet an, rief nach der Wache und schickte nach Raidrun.

Die ältliche Frau genoss es, Thyra mit immer neuen Dingen zu überraschen. Sie zeigte ihr den Hafen bei Tage, die Stege, Werkstätten, Lager und Spelunken.
Schwere oder schmutzige Arbeiten überließ man überall den männlichen Gefangenen. So wurden sie des Abends in einer Taverne auch von einem solchen bedient. Seine Linke war mit kurzer Kette am Tablett befestigt. Vermutlich mehr eine symbolische denn wirklich effektive Fesselung.
Thyra getraute sich nicht recht, offen nach dem Grund für diesen Männerhass zu fragen. Doch durch Randbemerkungen erfuhr sie immer mehr über das große Land im Westen, wo die Männer die Frauen knechteten. Hier auf Weiberland hatte man diese Rollen umgekehrt. Insgeheim sah Thyra nicht wirklich ein, was daran nun besser sein sollte, doch schwieg sie dazu.
Es sah so aus, als habe sie vorerst keine Wahl, denn hierzubleiben. Sie würde sich irgendwie damit abfinden und darauf einrichten müssen - wie schon im Tale auch. Allerdings gab es einen kleinen Unterschied: Damals - es erschien ihr wie in einem anderen Leben - hatte sie nichts anderes gekannt. Nun aber erfüllte sie eine Ahnung von der Sehnsucht nach Freiheit und Glück. Woher diese kam, erkannte sie nicht.

So anstrengend der folgende Vormittag auch war, so sehr beflügelte er Thyra zugleich. Die Bewegung tat ihr nach all den Tagen und vermutlich Wochen unendlich gut. Ja, es bereitete ihr gar Spaß, den Degen zu schwingen. Im Tal hätte sie sich als ehrwürdige Priesterin nie derart austoben dürfen.
Lorhild erwies sich tatsächlich als gute Lehrerin, die nicht zu viel auf einmal forderte. Eher im Gegenteil musste sie ihre neue Schülerin immer wieder bremsen, auf dass jene sich nicht übernahm und auch mehr auf Geschick denn auf Kraft achtete. »Nicht so ungestüm«, riet sie. »Wie willst du einen Mann treffen, wenn du den Stich so lange ankündigst? Das ist kein Schwert, womit du weit ausholen müsstest.«
Es fiel auf, wie betont immer von männlichen Gegnern die Rede war.

Regelrecht erfrischt verließ Thyra ihre Lehrerin nach ein paar Stunden. Beinahe hätte sie über ihren Rausch und Appetit Darion vergessen.
Doch als er wieder in ihren Sinn trat, fieberte sie dem Treffen ungeahnt entgegen und fürchtete es zugleich. Wie mochte es ihm gehen, wie er inzwischen aussehen? Würde er den ausgelaugten Kreaturen ähneln, die man auf den Straßen antraf? Was wollte sie überhaupt mit ihm bereden? War er nicht vielleicht doch der Dämon, der Schurke und Lügner?
Die groben Abweichungen zwischen dem, was man ihr hier und was im Tal über ihn erzählt hatte, ließen beide Bilder unglaubwürdiger erscheinen. Und hätte sie sich nicht von einem so bösen Wesen abgestoßen fühlen müssen? Oder war gerade dies die eigentliche unheilvolle Kraft in ihm? Täuschung?
Und der Zwerg?
Wie auch immer, eines war gewiss: Sie würde niemals Ruhe finden, wenn sie auf all dies keine Antworten erhielt.

»Soll ich mit hineinkommen?« fragte Raidrun, als Thyra noch immer gedankenversunken vor der Pforte zu Getas Haus stand.
Wie aus tiefem Schlafe aufgeschreckt, blickte sie jene an. »Was? Nein!« Über sich selbst verwundert, setzte sie sanfter hinzu: »Nein, ich muss das allein tun. Verstehst du mich?«
»Ein wenig vielleicht«, nickte die Alte. »Sei achtsam!«
Mit diesem letzten Rat ging sie und wandte sich auch nicht mehr um, als Thyra ihr noch ein eiliges »Danke« nachrief.
Es dauerte noch ein kleines Weilchen, bis sich Thyra endlich getraute, zu pochen.
Geta selbst öffnete. Offenkundig wusste sie nicht, was sie von diesem Besuch halten und wie sie dazu dreinschauen sollte. Ein kurzer prüfender Blick wechselte unwillkürlich zu einem unsicheren Lächeln, welches in einem fragenden Antlitz verendete. »Ähm... Er wartet im Hof...«
Nach einem Moment beiderseitigen Zögerns führte sie Thyra wortlos durch die Eingangshalle auf einen kleinen rundum vom Gebäude umgebenen, schmucklosen Platz.
In einer hinteren Ecke ragte ein Pfahl kaum einen Schritt hoch aus dem Boden. Ein Metallring klammerte sich daran und von diesem ab führte eine Kette zum ledernen Band um Darions Hals.
Jener kniete dort, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden auf seinen Unterschenkeln sitzend. Doch erhob er sich in einer fließenden Bewegung anscheinend ohne Schwierigkeit, als er die beiden Frauen nahen sah.
Er trug einen einfachen langen Rock, dazu eine passende Tunika. Das seltsame Geschirr um seinen Kopf erregte jedoch weit mehr Thyras Aufmerksamkeit. Lederne Bänder hielten einen Ball in seinem Munde fest und verliefen über die Wangen nach hinten, beziehungsweise die Nasenflügel entlang hinauf zusammen und ebenfalls auf die Rückseite des Kopfes, wo sie einander trafen. Ein aufwendiger Knebel.
»Wie...« Thyra drehte sich verunsichert Geta zu. »Wie soll ich denn mit ihm sprechen?«
Geta zuckte ungerührt die Achseln. »Du wolltest ihn sehen; du siehst ihn. Den Knebel abzunehmen, wäre noch zu gefährlich. Noch ist er nicht fertig erzogen. Mimik und Gebärden werden dir einstweilen genügen müssen.«
Thyra fragte sich, was für Zeichen ihr Dorian denn in diesem Zustande geben könnte. Immerhin ein Nicken oder Kopfschütteln wohl. Sie seufzte, dann fragte sie: »Darf ich mit ihm allein sein?«
Dieser Gedanke schmeckte Geta ganz unübersehbar nicht. »Na gut«, erwiderte sie dennoch in drohendem Ton, »aber gib acht, dass er nicht hext, und wehe, du bindest ihm die Hände los!« Anschließend rauschte sie davon und verschwand durch eine der Türen.
Nachdem sich Thyra dessen vergewissert hatte, wandte sie sich wieder Darion zu. Ihr nachdenklicher Ausdruck, ihre Unsicherheit zerbrachen unter dem Mitleid. Der Elf aber schien zu lächeln und ihr aufmunternd zuzuzwinkern. Stutzend trat sie näher. Er hingegen regte sich nicht weiter. Irgendwie erahnte er wohl ihre Neugier, wie das Knebelgeschirr befestigt sei, denn er ließ sie ihn umrunden, ohne ihr nachzublicken.
Ein Schlösschen sicherte die Riemen ebenso wie dies vorne am Halse ein anderes mit Halsband und Kette tat. Darum also hatte Geta sie nur wegen der Hände verwarnt. Mehr würde Thyra ohnehin nicht befreien können. Und wollte sie das überhaupt?
Er wirkte gar nicht verzweifelt, nicht einmal bedrückt. Mit den Sklaven auf den Straßen hatte er trotz der strengen Bande nichts gemein.
Für einen Wimpernschlag kam ihr Darions freundliche Ausstrahlung falsch vor. Dies verflog hingegen sogleich wieder. Thyra verwunderte sich über die eigenen Gefühle mindestens so sehr wie über diese bizarre Situation an sich.
Als sie endlich die Fassung wiedergewonnen hatte, vermochte sie auch die erste, vielleicht naheliegendste, vielleicht unsinnnigste Frage zu formulieren: »Wie... Wie geht es dir?«
Darion lachte leise.
»Ähm, ich meine...« Sie schalt sich selbst eine dumme Ziege. Wie sollte es ihm schon gehen! Und mit ja oder nein konnte er darauf gewiss nicht antworten.
Da bemerkte sie, dass er so eigenartig mit dem Haupte zuckte, als wolle er sie näher zu sich winken. Zögerlich trat sie einen Schritt vor. Er aber rollte die Augen, da sie ihm nicht recht traute und außer Reichweite blieb.
Dann jedoch lächelte er sanft, dass sie es trotz Knebels erkennen konnte. Welch ein warmer Blick! Musste es ihr nicht eigentlich Sorge bereiten, wenn sie sich nun wünschte, diesen Ausdruck stundenlang betrachten zu können?
Ganz sacht warf er den Kopf zurück wie zu einem neuen, lockenden Wink. Zugleich forderte die Bewegung munter zur Beherztheit auf.
Angst und Hoffnung stritten in Thyra miteinander in hartem Gefecht, derweil ihr Verstand ratlos nahebei stand.
Dann endlich näherte sie sich doch dem Elfen, der auch jetzt noch reglos wartete. Erst, als sie auf Armeslänge vor ihm verharrte, kam er ihr entgegen - langsam nur, mit nur einem Schritt, und doch wich sie furchtsam zurück. Nun schaute er ehrlich bekümmert und fast ein wenig bittend.
Sie schluckte. Was sollte ihr denn passieren? Er war doch gefesselt! Bestimmt würde er ihr nichts tun, da er dann erst recht nicht freikäme. Und wenn er sie verzauberte, würde er doch nicht aus dem Hause hinausgelangen. Geta hatte ihr die Möglichkeiten genommen, ihm - willentlich oder unfreiwillig - zu helfen. Kurz schloss sie die Lider, dann trat sie wacker direkt vor ihn.
Auch er drückte nun für einen Moment wie dankend die Augen zu, dann legte er seine Stirne an die ihre. Thyra erzitterte leicht, hielt aber doch stand und zwang sich, Darion wenigstens den Trost dieser Berührung zu gönnen. Unwillkürlich schloss sie wiederum die Augen, als wolle sie sich auch selbst ganz auf das Spüren konzentrieren.
"Nun können wir reden."
Seine Stimme! Vertraut und fremd zugleich! Überrumpelt und voller Angst schreckte sie zurück und löste sich so von ihm.
Er schaute sie nur an in einer ganz eigenartigen Mischung aus Tadel, Verständnis und geduldiger, doch unnachgiebiger Aufforderung.
Reden? Wie immer ihm dies eben gelungen war, es richtete sich nicht gegen sie. »Also gut«, erklärte sie und lehnte ihre Stin wieder an seine.
"Ich danke dir."
Seine Augen vereinten sich zu einem einzelnen, etwas verschwommenen. Mühsam sah sie über diese neue unerklärliche Unheimlichkeit hinweg. Etwas anderes beschäftigte sie auch noch, da er so unerwartet schwieg: Thyra wusste nicht recht, was sie tun sollte.
"Denke zu mir oder sprich - ganz wie du magst. Beides erreicht mich, so lange wir uns berühren."
"Was..." »Was soll ich denn sagen?«
"Zum Beispiel, wie es dir geht."
Konnte ein einzelnes Auge ohne Mund lächeln? Zumindest schien es Thyra danach.
»Ich... Es geht. Sie behandeln mich gut...«
"Möchtest du hierbleiben?"
»Ich weiß nicht. Sie sind etwas seltsam.«
"So wie ich?"
"Nein, anders." Nun musste Thyra selbst lächeln. Sie merkte gar nicht, wie sie in die Gedankensprache wechselte.
Erst nach einer Pause setzte er, allerdings nicht etwa mit der erwarteten Frage, fort: "Dann warte ich, bis du es weißt."
"Aber... Ist es denn nicht schrecklich hier für dich?"
"Es geht. Wie du bemerkt hast, wissen diese Frauen wenig über Elfen. Und dies nicht nur, was unsere besonderen Kräfte angeht. Ihre Demütigungen treffen mich nicht."
"Was tun sie dir an? Schlagen sie dich?"
"Nein, nein", konnte Darion beruhigen. "Diese Geta scheint mich unversehrt haben zu wollen. Ihre lüsternen Blicke sind recht eindeutig. Ich meine vielmehr zum Beispiel den Rock. Bei uns tragen auch Männer einen, wenn es für den Anlass nicht gerade unpraktisch ist. Und genauso entscheiden sich die Frauen frei."
"Bei uns auch." Etwas verdutzt gewahrte sie, wie sie sich noch immer aus irgendeinem Grunde dem Tal zugehörig fühlte.
"Ja, ich erinnere mich - obgleich ich ja nicht wirklich viel zu Gesicht bekam. Jedenfalls ist es in Awalun anders. Dort..."
Sein verschwommenes Auge schloss sich, als lausche er, dann riss er es auf und starrte sie eindringlich an. "Gib mir Bescheid, wenn du gehen willst oder dich anders entscheidest! Ich warte solange. Pass..." Unvermittelt wurde er an der Halskette fortgezerrt.
»Was soll das?« blaffte Geta. »Bist du irr, ihm so nahe zu kommen!?«
Erschrocken blickte Thyra zu ihr auf. »Ich... Wir haben nur...«
Ja, was hatten sie? In jedem Falle durfte sie der Kapitänin nicht die ohnehin schwer beschreibliche Wahrheit sagen, wenn sie Darion vertraute. Dessen war sie sich nun wieder etwas sicherer, ohne recht den Grund zu finden. Etwa doch Hexerei? Wenn nicht, mochte sie mehr, sehr viel mehr zerstören, als durch eine verspätete Warnung an die Piratinnen. Vielleicht. Nein, ganz sicher!
Auf einmal gefasst wirkend, wollte sie ihre Kutte raffen. In Ermangelung einer solchen legte sie die Hände keck an den breiten Ledergurt ihrer Hose. »Ich danke dir«, sagte sie trocken und wandte sich zum Gehen.

Wird fortgesetzt...


Kurzgeschichten / Bibliographie Oliver H. Herde

© 1991-2002 Oliver H. Herde Elf und Adler Verlag