Ein Todesakt und die Folgen

von Anonymus

"Warum hatte sie es getan?" musste er sich unwillkürlich fragen. "Es war Absicht", stand auf einem Zettel, der in ihrem Hotelzimmer gefunden wurde.
"Absicht", hallte es in ihm nach. Sich mit Absicht das Leben nehmen. Geben können wir es uns nicht. Wenn er es recht überlegte, passte diese letzte Absicht zu seinen verblassenden Erinnerungen an sie. "Die Menschen nehmen sich viel zu wichtig", hatte sie einmal den Einsatz eines Rettungshubschraubers kommentiert. Und was die Menschen sonst noch alles erfinden, um ihr lächerliches kleines Leben zu verlängern. Dabei gibt es schon sehr bald sechs Milliarden von ihnen. "Wozu noch weitere in die Welt setzen?" Damit war der Kinderwunsch erledigt. Aber warum leben denn alle so wild entschlossen vor sich hin? Sie folgen innerem Trieb. Sie erfinden einen Gott, um seine Schöpfung fortzusetzen. Sie sind ständig unterwegs.
Nirgends halten sie es länger aus. Wovor sind sie nur auf der Flucht? Wohin werden sie getrieben? Ist es die innere Leere? Sie halten sich über die Bewusstlosigkeit hinaus am Leben. Aber gab es vorher überhaupt Bewusstsein? Dieses dumpfe Dahinleben. Ist das menschlich? Vielleicht hatte sie diese Einsicht erlangt und sich als finalen Akt des Menschseins das Leben genommen. Wäre die Welt nicht viel schöner, wenn das vielen gelänge? Er stellte sich vor, wie es sei, wenn er in seinem Streben, die Welt zu verstehen, nicht mehr weiter käme. Die Frage nach dem Sinn hatte sie hinter sich gelassen. Aber war nicht der Sinn des Lebens letztlich das Leben selbst? Setzte diese Selbstbezüglichkeit nicht fort, was mit der Selbstreproduktion von Biomolekülen in der Ursuppe begann? Die Natur findet einen Weg. Er trat ans Fenster. Nach schrillem Quietschen hatte es laut gekracht. "Diese Narren", dachte er lächelnd, "geschieht ihnen recht in ihrem Verfolgungswahn." Irgendwann wird die ganze Erdoberfläche asphaltiert sein. Wohnen werden sie dann in ihren Autos oder in unterirdischen Bunkern. Ohne Ozonschicht gewinnen andere Lebensformen wieder die Oberhand. Wie eifrig sie alle an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Täten sie es doch nur mit Absicht!


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