Die Abenteuer der süßen Geroline

Siebenter Teil

Für Geroline stand fest: Dies war die ersehnte Chance. Eine bessere würde sich kaum noch bieten. Die Hausecke verbaute ihr zwar etwas die Sicht auf das Inferno, doch bot sie ihr andererseits auch Deckung. Von den herumrennenden Leuten achtete natürlich niemand auf Geroline. Die meisten wussten sicherlich nicht einmal, dass es sie überhaupt gab, und die brennende Halle lag jenseits der Landebahn, fernab von Gerolines schattigem Stellplatz.
Ja, sie kam sich fast ein wenig vor wie ein angebundenes Pferd. Beinahe schade, dass sie nicht bleiben konnte!
Gewiss, mit den vor dem Bauch befestigten Händen war nicht an den Haken in der Wand heranzukommen. Ebensowenig konnte sie sich wegen der gekürzten Leine zu den Händen hinabbeugen, um am Knebel oder Halsband zu hantieren. Sie schmunzelte. Das machte es etwas anstrengender, aber nicht unmöglich.
Langsam begann Geroline den Mund immer weiter aufzusperren und den Unterkiefer hinab und nach hinten zu verrenken. Der riesige Knebelball wollte nicht gleich hinter den Zahnreihen hervorkommen, dennoch wurde diese Hürde recht schnell genommen. Mit Hilfe der Zunge schob Geroline den Ball hinaus und rollte ihn über das Kinn, bis er ihr wie ein Schmuckstück um den Hals hing.
Nach dieser Anstrengung atmete Geroline erst einmal tief durch, denn für das nächste Kunststückchen würde sie weit mehr Ruhe und Konzentration benötigen. Ein letzter flüchtiger Blick zur Hausecke vergewisserte sie davon, vorerst nicht gestört zu werden.
Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit ganz dem Haken und dem Knoten daran. Nach hinreichender Prüfung nahm sie die Leine wenige Fingerbreit neben dem Knoten fest zwischen die Zähne und versuchte, sie so aufwärts zu ziehen, dass sie vom Haken rutschen würde. Leider war letzterer allzu sehr zur Wand hin gebogen und hing auch etwas arg hoch. Immer wieder stellte Geroline sich auf die Zehenspitzen. Aber alle Mühe fruchtete nicht.
Für einen Moment musste sie erst einmal wieder verschnaufen. Dann funkelte sie ihren Gegner ungebrochen an. 'Jetzt kriege ich dich', dachte sie und schob abwechselnd mit Lippen und Zunge den Knoten am Hakenbogen entlang. Eine Minute später war sie frei. Nun ja, frei zumindest, diese Stelle zu verlassen, denn gegen ihre Ketten würde sie so schnell nichts unternehmen können.
Bevor sie die CD zurückerobern konnte, musste sich Geroline als allererstes einmal tarnen. Dieser Anzug war ja kilometerweit unübersehbar! Sich auf einem Berg Kohlen suhlen, wäre jetzt genau das rechte gewesen. Geroline zweifelte jedoch daran, auf diesem Gelände so etwas zu finden.
Gewiss gab es andere Möglichkeiten. Sollte sie mal eben zur Hausecke schleichen und nach dem Stand der Dinge bei der Unglücksstelle schauen? Besser keine Zeit verlieren!
Dort am Maschendrahtzaun, welcher bald hinter diesem Gebäude das Gelände begrenzte, gab es einen schmalen, ungeteerten Streifen, wo sie ihr auffälliges Gewand immerhin ein wenig mit Erde beschmutzen konnte. So schnell als möglich hoppelte Geroline im Schutze der Wand auf den Zaun zu.
Der eilige Blick um die Ecke ergab die erwartete Menschenleere hier an der Grenze. Ob es wohl irgendwo ein Loch darin gab? Ganz bestimmt gelänge es ihr nicht, zum Haupttor hinauszuspazieren!
Darüber konnte sie auch später nachdenken. Mit leisem Kettenrasseln huschte Geroline zum Sandstreifen hinüber. Dort warf sie sich sogleich zu Boden und rollte umher. Dank des feuchten Klimas haftete bald mehr am Anzug, als Geroline zu hoffen gewagt hätte.
Da hörte sie zwei entfernte Schüsse und gleich darauf einen nahenden Motor. Flach am Boden liegen bleibend, hob sie nur leicht den Kopf und konnte so beobachten, wie ein Geländewagen mit hoher Geschwindigkeit auf den Zaun zujagte. Augenblicke später krachte er hinein. Funken sprühten. Ein Glück, dass Geroline den Zaun nicht berührt hatte!
Der Wagen ließ sich nicht aufhalten und fuhr einfach hindurch, ein riesiges Loch hinterlassend, wobei links und rechts die Zaunteile erst Torflügeln ähnlich auseinanderstoben und sich dann ob der Wucht verdrehten. Wieder knallten Schüsse vom Landefeld her. Drei Männer und V-70 rannten vorüber und dem Jeep hinterher. Dieser verschwand soeben im Grün des nahen Dschungels. Bald darauf hatte der Wald auch die Verfolger verschluckt.
Aufgeregt sprangen Gerolines Augen hin und her. Anscheinend kam erst einmal niemand mehr. Jetzt oder nie! Den Fesseln zum Trotz rappelte sich Geroline gewandt auf und eilte mit unglaublich schnellen Trippelschrittchen wie eine geübte Geischa zu dem entstandenen Durchgang. Dort musste sie darauf achten, sich nicht an den Trümmern zu verfangen. Ein paar Sprünge später hatte sie diese Hindernisse überwunden und schlug sich ebenfalls ins Dickicht.
Bald kamen noch zwei Autos, die sich an der Suche beteiligten. An einer Suche nicht nach ihr! Und noch einen Vorteil konnte Geroline für sich verbuchen: Die zu Fuß Suchenden hatten Taschenlampen dabei, dass Geroline sie sehr leicht orten und sich ihnen fernhalten konnte. Diese Flucht war ein Kinderspiel! Zumindest solange Geroline nicht vermisst wurde. Mit etwas Glück mochte es bis dahin noch Stunden dauern.
Lediglich in der Finsternis voranzukommen, die mit der wachsenden Entfernung zum Flugplatz zunahm, stellte ein kleines Problem dar. Sehr auf ihre Schritte bedacht, um nicht wegen der Fußfesseln über irgendwelche Wurzeln oder dergleichen zu fallen, bemerkte Geroline zu spät, wie die herumbaumelnde Leine im dichten Gesträuch hängen blieb. Der unvermutete Widerstand riss sie rücklings von den Beinen, und sie fiel flach auf den Rücken.
Oh, tat das weh! Die arme Wirbelsäule! Der arme Hals! Überhaupt alles! Arme Geroline!
Unglücklich, schmerzerfüllt und völlig erschöpft blieb sie liegen, sich etwas zu erholen. Es mochte sowieso klug sein, abzuwarten, bis sich die Jagd etwas entfernt hatte.
Hunger.
Durst!
Wenn sie nur noch einmal ihrem Chef gegenübertreten könnte - um ihn mal ordentlich zu würgen!

Fünf oder zehn Minuten später raffte sich Geroline mühsam wieder auf und trottete weiter. Die Leine hielt sie diesmal fest. Sie hatte kein spezielles Ziel, wusste sie doch nicht einmal, wo auf der Welt sie überhaupt gelandet war! Gut, der Urwald und die Halbaffen vom Flugplatz sprachen sehr für Mittel- oder Südamerika. Mehr Anhaltspunkte gab es nicht. Oder hatte sie irgendwo eine Flagge gesehen? Sie vermochte sich dessen zumindest nicht zu erinnern. Also einfach nur immer weiter vom Flugplatz fort!
Irgendwann konnte sie aber beim besten Willen nicht mehr voran und legte sich nieder. Wenigstens war der Boden einigermaßen weich. Das hatte auch ihren blanken Füßen wohlgetan. Von fremdartigem Gezirpe begleitet, sank sie rasch in tiefen Schlaf.

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