Die Abenteuer der süßen Geroline

Achter Teil

Es war ein eigenartiges grünes Zwielicht, welches Geroline begrüße, als sie die Augen wieder öffnete. Die Sonnenstrahlen wurden von einem dichten Blätterdach aufgehalten und gestreut.
Die Leine und den herunterhängenden Knebel hätte Geroline nun mit ein paar Verrenkungen bestimmt abnehmen können. Erstere war ja nur mit einem Karabinerhaken befestigt, und die Schnalle vom Knebel hätte sie lediglich erst auf die Vorderseite des Halses zu drehen brauchen. Biegsam genug war Geroline ja. Vermutlich wäre sie sogar das Halsband auf dieselbe Weise losgeworden. Aber es hätte ihr doch irgendwie ein wenig leid getan, diese Dinge fortzuwerfen. Außerdem wollte sie lieber keine Spuren hinterlassen, die nicht einmal ein kräftiger Urwaldregen hätte verwischen können.
Geroline setzte ihren ungewissen Weg fort, bis sie an einen schlammigen schmalen Flusslauf kam. Trinken konnte man davon nicht, und diese 'Stämme' im Wasser sahen allzu sehr nach Krokodilsrücken aus. Auch ungefesselt wäre es zu riskant gewesen, sich dem Ufer zu nähern. Aber sie konnte der Fließrichtung folgen und hoffen, auf eine Siedlung oder die Küste zu treffen.

Einige Zeit später kam sie an eine Steinbrücke. Oben musste es eine Straße geben! Freudig kletterte Geroline die Böschung hinauf, als ihr plötzlich eine Frau gegenüberstand. Und was für eine!
Sie war hochgewachsen und sportlich gebaut. Ihre helle Haut und die kurzgeschnittenen blonden Haare boten einen bemerkenswerten Kontrast zu dem enganliegenden schwarzen Sommerkleidchen, dessen Saum ihr kaum die halben Oberschenkel hinabreichte. Wie konnte sie in so einem Fummel eine so große Kraft und Selbstsicherheit ausstrahlen!? Und wie konnte sie sich auf ihren Absätzen halten? Diese waren zwar offenbar nicht übermäßig hoch, aber das Gelände doch ausgesprochen unwegsam.
Die Frau lächelte freundlich und strahlte dabei doch eine ungeheure Dominanz aus. Oder war Geroline einfach nur so überrascht? Jedenfalls starrte sie tief beeindruckt zu dieser Traumfrau hinauf und brachte kein Wort hervor.
Auch jene musterte ihr Gegenüber sehr ausführlich von Kopf bis Fuß. Auf dem Knebel oder möglicherweise dem Halsband ruhte ihr Blick sogar etwas länger. Dann fiel das zugleich überlegen und sanft wirkende Lächeln plötzlich von ihr ab, und erst jetzt kam es Geroline im Nachhinein seltsam unpassend vor.
Ob sie überfallen worden sei, fragte die Frau teilnahmsvoll auf spanisch. Geroline nickte und gab holperig zu verstehen, ihr Spanisch sei leider nicht besonders gut, und sie sei in Deutschland entführt und hierher verschleppt worden. Das stimmte ja sogar.
"Oh, dann können wir gerne deutsch sprechen", gab die Frau zurück. "Ich habe in Stockholm Sprachen studiert. Ja, wie furchtbar! Ein Glück, dass ich gerade eine Fahrpause eingelegt und die Vögel beobachtet habe!" Sie hob kurz die Hand mit dem Feldstecher, welcher Geroline bis eben gar nicht aufgefallen war. "Oben steht mein Wagen. Ich kann dich in die nächste Stadt bringen.
Lass mich dir das abnehmen...!" Damit ergriff sie die Leine, welche Geroline ihr in ihrer Überraschung auch widerstandslos überließ. Völlig verzaubert ließ sie sich daran hinaufführen. Wenn das ein Traum war, wollte sie niemals aufwachen!
"Ich bin übrigens Greta und mache hier Urlaub. Und du?"
"Äh. Geroline..." Ihr fehlten noch völlig die Worte.
Still lächelnd zog Greta ihren Fahrgast zum Auto. Ein Volvo, in diesem Land! Apropos... "Wo sind wir eigentlich?"
"Die Stadt ist nicht weit."
"Ich meine, in welchem Land?"
"Das weißt du gar nicht!? Warte, ich nehme dir diesen interessanten Schmuck ab." Damit trat sie hinter Geroline und öffnete die Schnalle des Knebels. "Und die Leine natürlich."
Natürlich.
Interessant? Wie meinte sie das? Geroline wurde es heiß und kalt. Ob diese Greta sich wohlmöglich für Fesselspiele begeistern könnte? Aber selbst wenn - warum sollte sie an Geroline etwas finden? Völlig in Gedanken versunken, bemerkte Geroline nicht einmal, dass Greta nicht auch das Halsband entfernt hatte, und ließ sich zur Beifahrertür schieben. Diese wurde ihr geöffnet.
"Leider habe ich kein Werkzeug dabei, um dich auch von den Ketten zu befreien", erklärte Greta und drückte Geroline sanft aber bestimmt auf die Schulter, dass diese einstieg. "Schön anschnallen!" Damit zog Greta den Dreipunktgurt über Gerolines Körper und Arme und ließ ihn einrasten. Die Tür schlug zu.
Gleich darauf warf Greta Knebel und Leine nicht etwa fort, sondern in den Kofferraum. Dann stieg auch sie ein. "So, es kann losgehen..." Sie schloss die Zentralverriegelung und erklärte auf Gerolines erschrockenes Zucken und ihren mulmig-fragenden Blick hin: "Man weiß nie bei den Männern hier... Ist sicherer."
Unwillkürlich musste Geroline dabei an den Chef von V-70 denken - und daran, wie er die CD in den Rechner schob. Die hatte sie völlig vergessen! "Ich... Ich muss nochmal zurück..."
Greta startete den Motor. "Wieso? Wohin denn?"
"Man hat mir was gestohlen..."
"Sei vernünftig! Gerade bist du denen entkommen. Willst du gefesselt zurücklaufen und dich wieder einfangen lassen?" Dem konnte Geroline nichts entgegensetzen. Greta schmunzelte nachsichtig und hatte offenbar vor, sich jetzt ganz auf die Straße zu konzentrieren. "Mach dir keine Sorgen!"
Das sagte sich so leicht! Minutenlang grübelte Geroline, wie sie die CD wohl zurückbekäme. Da sie dabei jedoch nicht recht weiterwusste, beobachtete sie ihre beeindruckende Fahrerin. Wie klein sie sich gegen diese vorkam! Und was sie für eine Ausstrahlung hatte! Dieses zufriedene Lächeln...!
Es gab Leute, die meinten, Geroline würde alles zu negativ und pessimistisch sehen und sich nicht entspannen können. In den Armen dieser Frau würde sie es vielleicht schaffen. Aber irgend etwas stimmte nicht an diesem Lächeln. Greta schien regelrecht aufgekratzt! Wie eine Katze mit Vögelchen im Mund. Konnte sie zu denen gehören!? Sie sah nicht so aus, aber was wusste Geroline schon über Greta! Hier stimmte etwas nicht.
Misstrauisch geworden, fragte sie: "Du bringst deinen Wagen aus Schweden in den Urlaub mit?"
"Das ist ein Leihwagen."
Ganz gewiss war Geroline keine Kennerin von Autos! Aber zumindest kannte sie die verbreiteten Firmen. Ein Volvo als Leihwagen? In Lateinamerika? In diesem gepflegten Zustand!?
Da stießen Gerolines Blicke auf eine winzige Signatur in der oberen Ecke der Windschutzscheibe. Spezielles Sicherheitsglas, so weit verstand sie die Inschrift. "Du lügst mich an!"
"Hey, ich bringe dich gerade auf den Weg nach Hause!"
"Halt an! Du verschweigst mir etwas!" Geroline versuchte, an den Verschluss des Anschnallgurtes zu kommen. "Anhalten, anhalten, anhalten!"
Urplötzlich hielt der Wagen. Wortlos, doch sichtlich verärgert öffnete Greta das Handschuhfach und zauberte ein Gebilde aus wirren Lederriemen daraus hervor. Auch ein Ball war daran befestigt - ein richtiges Knebelgeschirr! Unter anderen Umständen wäre Geroline begeistert gewesen, aber so... "Nein, nein!"
"Doch, doch." Greta blieb beunruhigend ruhig. Mit flinken Fingern faltete sie das Geschirr auseinander und wollte es Geroline über den Kopf streifen. Doch die schüttelte sich allzu wild. "Wenn du nicht brav bist, verpacke ich dich noch zusätzlich mit Seilen. Also stillhalten und Mund auf; ich will dir nicht wehtun."
Einen Moment lang zögerte Geroline verblüfft, dann aber ließ sie sich von dem auffordernden, jedoch nicht unfreundlichen Blick Gretas überreden und gehorchte.
Tatsächlich legte ihr Greta den Knebel ebenso sanft wie unnachgiebig an. Fest und gerade noch angenehm eng saßen die Riemen, dass Geroline kaum mehr den Kiefer rühren konnte. Ohne freie Hände war bei diesem Knebel wirklich nichts mehr auszurichten.
Nachdem Greta ihr großäugiges verstummtes Opfer befriedigt lächelnd begutachtet hatte, startete sie erneut den Motor, und sie fuhren die Straße durch den dunklen Dschungel weiter.

Fortsetzung
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