Nach kaum einer Stunde ließ Greta ihre Seitenscheibe herabfahren und holte unter dem Sitz ein Blaulicht hervor, welches sie während der Fahrt auf dem Wagendach platzierte. Derweil sich das Fenster wieder schloss, klebte Greta irgendeinen Zettel an die Windschutzscheibe vor Geroline, der wohl ebenfalls dafür gedacht war, sie als Polizistin oder so etwas auszuweisen.
Kurz darauf wurde der Urwald plötzlich lichter, und erste Häuser zeigten sich. Eine Siedlung, die sich bald als kleine Stadt entpuppte!
Vereinzelt schauten Leute neugierig auf den Beifahrersitz, aber niemand machte Anstalten, zu Hilfe zu eilen oder welche zu rufen. Selbst ein Polizist glotzte dem Auto nur untätig nach.
In einer stillen Seitengasse hielt Greta den Wagen an. Eine Handtasche aus dem Handschuhfach bergend, erklärte sie: "Ich werde dir erstmal was Vernünftiges zum Anziehen besorgen. Größe... 36?"
Geroline nickte.
"Gut. Lauf nicht weg, dann bist du bald wieder zuhause." Sanft strichen ihre Fingerkuppen über Gerolines Wange und auch den dortigen Knebelriemen. Dann stieg sie aus und verriegelte die Türen wieder. Mit einem fröhlichen Winken ließ sie ihre verzauberte Gefangene allein zurück.
Erst einige Augenblicke nachdem Greta ihr Sichtfeld verlassen hatte, kam Geroline wieder halbwegs zu Verstand und etwas in Bewegung. Mit den Händen an den Schnappverschluss des Gurtes zu kommen und diesen zu öffnen, würde kein Problem sein. Dann würde man weitersehen.
Doch gerade, als sie sich etwas nach links verdrehte, stand wie aus dem Nichts auf der Fahrerseite ein rundlicher Mann beim Wagen. Den kurzen Hosen und dem kurzärmeligen, schockierend bunten Polo-Hemd zufolge ein Tourist, der sich nun ein wenig vorbeugte und dümmlich grinsend mit den Fingern hereinwinkte, als sei er Oliver Hardy persönlich. Noch bevor sich Geroline jedoch Gedanken darüber machen konnte, was wohl in diesem Kerl vorging, schoss er mit der umgehängten Fotokamera ein Bild von ihr!
Damit nicht genug, nutzte er das Gerät auch noch auf eine ganz untouristische Weise, da es offenbar irgendwelche Signale von sich gab, welche nun die Zentralverriegelung öffneten! Unbeschwert stieg er ein, sich neben Geroline auf dem Fahrersitz niederlassend. In schlimmstem Kaugummi-Englisch stellte er sich als Gary aus Dallas vor, begleitet von völlig unpassenden Floskeln über ihre Frisur und das Wetter, welche Geroline eher auf einer Stehparty erwartet hätte. Nebenbei brach er mit einem Taschenmesser etwas aus der Verkleidung der Autoelektronik heraus und startete darunter irgendwie den Motor.
Endlich war Geroline nicht mehr von ihrer Überraschung gelähmt: Panisch schrie sie in den Knebel und versuchte, sich vom Anschnallgurt zu befreien. Doch Gary hielt ihre gefesselten Hände fest, riss den Umhängegurt seiner Kamera ab und führte die Enden zum einen um Gerolines Handfesseln, zum anderen hinüber zu dem Türgriff auf ihrer Seite. So stramm wie möglich zog er den Gurt dort fest, dass Geroline nach rechts verdreht sitzen musste und nicht mehr an den Anschnallschnapper herankam. Andererseits nutzte es ihr auch nichts, zur Tür zu greifen, solange sie gefesselt und angeschnallt blieb.
Da sie zu strampeln begann, nutzte der Nordamerikaner den verbliebenen Rest des Fotogurtes, ihr rechtes Bein oberhalb des Knies an den Türgriff zu fixieren. In dieser Haltung konnte sie wirklich nur noch eines tun: Mit dem linken Knie zu ihrem Gegner und der Gangschaltung hinüberstoßen, wenn auch wegen der Kette an den Fußgelenken nicht sehr weit.
Nach kurzem Überlegen griff jener zum Handschuhfach und fand dort tatsächlich ein Seil vor, mit welchem er Gerolines Beine nun von den Knien abwärts bis zu den Füßen eng zusammenschnürte.
Irgendeine schwer verständliche Belehrung ließ sie sich bereits etwas beruhigen, als er sie abschließend auf englisch 'Süße' oder wohl eher gar 'Süßchen' nannte. Sogleich war ihr Kampfgeist wieder vom Zorne geweckt. Zwar vermochte sie keine hilfreiche Regung mehr auszuführen, dafür funkelte sie ihren neuesten Entführer böse an.
Leider ließ dieser sich dadurch so wenig aus der Ruhe bringen wie sonst jemand draußen und steuerte den Wagen aus der Gasse hinaus durch den Ort. Voller Verzweiflung schaute Geroline nach Greta aus. Die wäre ihr allemal lieber gewesen als dieser Ekelbrocken! Aber die Schwedin war nirgends zu entdecken.
Wieder wurde Geroline durch die Straßen kutschiert, bis sie zu dem kleinen Hafen des Ortes kamen. An einigen der größeren Schiffe wehten blau-weiß-blaue Fahnen. Genaueres konnte Geroline nicht erkennen, trotzdem grenzte dies die Frage nach dem Land schon sehr ein.
Allerdings hatte sie nun andere Probleme! Gary fuhr bis an einen Landungssteg heran. Unvermittelt fragte er, wo die CD sei. Geroline schaute ihn nur überrumpelt an, dann schüttelte sie den Kopf und zuckte die Achseln.
Er wusste wohl nicht recht, ob er ihr diese Unwissenheit glauben sollte. Nach kurzem Überlegen schaute er noch einmal gründlich ins Handschuhfach, wurde jedoch nicht fündig. Sonst lag nichts offen im Wagen herum.
Nachdem Gary noch einmal Geroline abschätzend gemustert hatte, die ihm nur mit einer Unschuldsmine begegnen konnte, befreite er sie von allen Fesseln und Gurten mit Ausnahme der Manschetten und Ketten, des Knebels und des Halsbandes. Dann stieg er aus und zerrte Geroline am Oberarm den Steg entlang, wobei sie heftigen Widerstand leistete. Vergeblich; selbst das erhoffte Aufsehen blieb gewissermaßen vollständig aus, da nur wenige das Geschehen beobachteten - und dies tatenlos.
Über eine kleine Landungsbrücke gelangten Entführer und Entführte auf eine kleine Yacht, wo bereits ein anderer Mann wartete, der wie ein Matrose wirkte. Geroline wurde ein sehr kurzer Strick am Halsband befestigt. Das andere Ende kam an einen Metallgriff an der Reling, dass sie dort halb kniend und halb sitzend verharren musste.
Die beiden Männer liefen zum Auto zurück und durchsuchten es.
Fieberhaft überlegte Geroline, was sie tun könnte. Vielleicht würde sie ihr Halsband wieder zu befreien wissen, doch was dann? Von den Einheimischen war wohl keine Hilfe zu erwarten, und die beiden Kerle mochten jeden Moment zurück sein, wenn sie nichts fanden. Oder sollte...? Eine vage Ahnung beschlich Geroline so langsam - zu langsam, um zu einem klaren Gedanken zu werden, da die Amerikaner bereits zurückkamen.
Tatsächlich hatte der Dicke eine CD dabei - IHRE CD! Also war es wirklich Greta gewesen, die auf dem Flugplatz das Chaos veranstaltet hatte! Mehr noch als verblüfft war Geroline beeindruckt. Was für eine Frau!
Aber ob sie sich überhaupt je wiedersehen würden? Momentan sah es wahrhaft nicht danach aus! Die Männer lösten die Vertäuung und bereiteten das Schiff zum Ablegen vor. Schon Minuten später brausten sie ungehindert zur Hafenausfahrt hinaus.
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