Neue Abenteuer der süßen Geroline

Zweiter Teil

Im prachtvoll ausgestatteten Empfangssaal wimmelte es nicht nur von Menschen, sondern auch Nationalitäten. All diese abzulichten, würde sicherlich aufwendig, aber das kleinste Problem bleiben. Dagegen die Namen aufzuschnappen und auch noch richtig zuzuordnen, erschien nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Dabei war es doch schlimm genug, wie deplatziert und unwillkommen sich Geroline als vorgebliche Journalistin unter all den Botschaftern und Wirtschaftsgrößen vorkam. Vermutlich war es auch ein Fehler gewesen, anstatt in einem Abendkleid in einem Anzug aufzutauchen. Sie fiel auf, wie es sich eine Geheimagentin eigentlich nicht leisten durfte. Aber man stufte sie wohl als harmlos exzentrisch ein und beachtete sie nicht weiter. Eine Weile lauschte sie dezent Gesprächen in ihr halbwegs verständlichen Sprachen und schoss einige Bilder.
Da trat ein nicht nur in diesem Umfeld aus teuren westlichen Anzügen und orientalischen Kaftanen sehr ungewöhnlicher Mann an sie heran: Zuerst stach der Kilt mit der grün-schwarzen Karomusterung ins Auge, welcher geradezu gewalttätig auf die Herkunft seines Trägers deutete. "So allein, junge Dame?"
Verdattert ließ Geroline ihren Blick an dem Kerl auf und ab gleiten. Jacke, Spitzenhalstuch und Fell-Gürteltasche ergänzten das Bild zu etwas, das Geroline überraschend positiv berührte - immerhin war das ja bloß ein Mann! Gewiss, die Kniestrümpfe wirkten doch etwas seltsam auf sie, wenngleich erstaunlich schlanke Beine darin steckten. Überhaupt handelte es sich bei diesem Herrn um eine recht zierliche Gestalt, die dennoch Sportlichkeit verriet.
Irritiert schaute Geroline in ein feixendes glattes Antlitz unter langen rotbraunen Haaren, welche hinten mit einer kleinen schwarzen Schleife zum Pferdeschwanz gebunden waren. "Woher wissen Sie, dass ich Deutsche bin?"
"Reine Beobachtungsgabe." Kurz schlug er den Blick nieder und lächelte still, als habe man ihm geschmeichelt und ihn damit in Verlegenheit gebracht. "Verzeihen Sie die plumpe Ansprache; meine Kenntnisse Ihrer Sprache sind noch allzu bescheiden."
Dies erschien Geroline glatt gelogen - so akzentfrei und gewandt, wie ihm die Worte von den Lippen gingen.
"Gestatten Sie mir, mich vorzustellen: William MacLeya..."
Er zögerte lange genug mit einer Fortsetzung, dass Geroline sich mit ihrer Unterbrechung nicht zu dreist vorkommen musste: "Woher können sie so gut Deutsch?"
"Oh, es ist immerhin eine der neun Weltsprachen!"
Langsam bekam Geroline doch das Gefühl, hinter diesem freundlichen Munde verberge sich noch etwas anderes. Höflich und ihrer Rolle gemäß fragte sie ihn noch ein wenig aus und schoss dazu Bilder. Angeblich war er in der Energiebranche tätig. Durch seine charmant stichelnde Art wusste er Geroline von ihren lästigen Aufgaben abzulenken. Innerhalb einer Viertelstunde kamen sie über allgemeine Filmthemen zu weit Intimerem: Schon hatte sie ihm ganz beiläufig ihre sexuelle Ausrichtung mitgeteilt und von ihm über sein Interesse an Fesselungen, insbesondere in der Rolle als Opfer erfahren.
"So langsam muss ich mich mal wieder um meinen Auftrag hier kümmern", zog sie die Notbremse. Solche Vertrautheit zu einem Mann? Das war unheimlich!
"Natürlich; ich auch", stimmte William MacLeya überraschend bereitwillig ein.

Geroline knippste also weiter, bis sie auf ein bekanntes Gesicht stieß: Einer ihrer gestrigen Entführer - der Finstergesichtige, wie sie ihn inzwischen bei sich nannte - musste irgendwie entkommen oder aus irgendwelchen Gründen freigelassen worden sein. Jedenfalls drückte er sich am Rande der Gesellschaft entlang und verschwand eilig in einen Korridor hinein.
Geroline zögerte nicht lang und setzte ihm so unauffällig wie möglich nach. Gerade noch konnte sie sehen, wie sich abseits des Saales eine Metalltüre schloss. Dort angelangt stellte sie fest, dass jene unverschlossen war. Kurz vergewisserte Geroline sich, unbeobachtet zu sein, dann schlüpfte sie hindurch. Eine Treppe führte hinab in den Keller. Zum Glück wurde alles elektrisch erleuchtet. Sollte man sie jedoch hier unten entdecken, würde sie sich etwas Besseres zur Ausrede einfallen lassen müssen als die altbekannte Suche nach den Toiletten.
An einer T-Kreuzung verharrte sie kurz lauschend. Irgendwie schienen aus beiden Richtungen Schritte vernehmlich. Da Grübeleien keinen Nutzen versprachen, sauste Geroline einfach rechts entlang.
Nach der nächsten Ecke sah sie den Schotten um die übernächste biegen. Der sonderbare Kerl hatte also doch etwas zu verbergen!
Möglichst geräuschlos wollte sie aufholen, da zerrte man sie bald darauf ins Halbdunkel eines offenstehenden Kellerverschlages.
"Loslassen, MacLeya! Was fällt Ihnen...!?" Ein geknülltes Tuch zwischen den Zähnen verhinderte weiteres Gezeter und wurde mit Klebeband gesichert.
Viel sehen konnte Geroline auch nicht, während sie sich wacker mit Händen und Füßen verteidigte. Allerdings waren ihre Gegner ganz sicher zu zweit. Sie stolperte rücklings über eine Teppichrolle. Wenige Augenblicke später hatten sie die beiden Männer so eng in einen weiteren Teppich eingewickelt, dass sie sich trotz Ermangelung einer echten Fesselung kaum mehr rühren konnte. Alles Gestrampel und Gewinde half nichts, da man sie in ihrer muffeligen Verpackung sogleich emporwuchtete und die Kellergewölbe entlang trug.
Gedämpfte arabische Wortfetzen drangen zu ihr durch. Unwillkürlich fragte sich Geroline, ob diese Sprache nicht wohl auch zu den neun Weltsprachen zählen müsse.
Hoffentlich landete sie nicht wieder auf einem Lastwagen!

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