Unsanft wuchtete man sie auf einen unebenen, doch wenigstens nicht allzu harten Untergrund. Etwas Schweres landete auf ihr, dass ihr geräuschvoll die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Weiteres folgte. Offenbar begrub man sie soeben unter anderen Teppichrollen. Türenknallen und ein aufgrollender Motor bestätigten ihre Befürchtungen, erneut als Frachtgut durch die Stadt gefahren zu werden.
War da nicht ein Raunen über ihr? Der Laster machte einfach zuviel Krach, um dessen sicher sein zu können. Verzweifelt und recht vergeblich versuchte sie, sich in eine etwas bequemere Position zu bringen. Da, eine Bewegung? Oder doch nicht? Es mochte am allgemeinen Gewackel liegen.
Aber Minuten später hätte Geroline mit Bestimmtheit behaupten können, dass über ihr noch jemand ihr Schicksal teilte und sich ähnlich ergebnislos regte. Möglicherweise war das Hauptziel der Entführer ja jemand anderes auf dem Empfang gewesen. In was war sie da bloß wieder hineingestolpert!?
In ihrer Hilflosigkeit blieb Geroline nicht viel anderes übrig, als zu lauschen. Allzu gut dämpften Karosserie und Teppiche die Geräuschkulisse draußen ab, um Details erkennen zu lassen. Der Verkehrslärm aber konnte sich mit jenem europäischer Großstädte durchaus messen. Gab es denn keine nützlicheren Informationen zu hören?
Kaum bewusst nahm sie einen aufheulenden Motor wahr, als auch schon eine mächtige Erschüterung die Teppiche durcheinanderwirbelte. Weitere folgten. Offenbar war der Wagen gerammt worden und schlingerte nun umher. Sogleich versuchte Geroline, das Gerüttel für sich zu nutzen und die Wickelung ihres Teppichs zusätzlich etwas zu lockern, indem sie sich abwechselnd krümmte und streckte. Das Fahrzeug überschlug sich, die Teppiche ergossen sich teilweise hinaus.
Zum Glück hatte ihre eigentlich unliebsame Polsterung alles gut abgefangen. Frische, kühle Nachtluft erreichte Gerolines Nase. Mochte ihre schwere Umhüllung auch allzu wenig nachgegeben haben, so lag jetzt doch offenkundig fast nichts mehr auf ihr. Geroline wusste genau, in welche Richtung sie sich drehen musste. Innerhalb von Sekunden hatte sie sich befreit.
Der Kleinlaster mit den Teppichen lag neben einer großen Straße auf der Seite, unweit davon ein verknautschter PKW. Unfall oder Absicht? Doch in beiden Fahrzeugen regte sich etwas; Geroline durfte nichts riskieren. Zudem entfernte sich soeben rasch jemand in den angrenzenden Park hinein. Nur ein Passant oder nicht doch eher das andere Opfer?
Sofort stürzte Geroline dem Fliehenden nach, das Klebeband über ihren Lippen für den Moment völlig vergessend. Schnell wurde es immer dunkler; die Bäume verschluckten fast alles Licht der immer ferneren Straße und selbst des Mondes.
Bald hatte sie den Verfolgten verloren. Langsam und fast blind tappste sie umher, bis die Bäume wieder etwas lichter wurden. Erst jetzt wurde ihr der Knebel wieder bewusst. Sie blieb stehen, ihn abzuziehen, da sprang sie jemand von hinten an, riss sie zu Boden und setzte sich auf ihren oberen Rücken. Geschickt presste er ihre Arme mit seinen Schenkeln an ihren Rumpf. Nackte, haarige Beine! "Wer sind Sie wirklich?" MacLeya! - Wenn das sein Name war.
Seine Frage verwunderte sie, aber es musste irgendein Trick sein. Unwissend tun konnte sie auch! "Runter von mir! Was soll das?" Zu allem Unglück kitzelte sie noch der an der Wange haftende Klebestreifen, was ihrem sicheren Auftreten etwas den Boden entzog.
"Sie sind niemals eine Journalistin. Sie haben keine Freude am Fotographieren."
Geroline stutzte über diese Erkenntnis und den daraus vom Schotten gezogenen Schluss. "Können wir das nicht an einem angenehmeren Ort bereden?" schlug sie kurzatmig und allzu kleinlaut vor.
Zu ihrer Überraschung stimmte er zu: "Sie haben recht. Allerdings werden Sie eine kleine Sicherheitsmaßnahme gewiss verzeihen..."
Welch vollendete Ausdrucksweise! Und völlig akzentfrei! Für einen Moment vergaß Geroline gar die ihr unangenehmen Beine. "Äh - was?" Zweifellos wurde das Vergessen durch Entfernung derselben sehr begünstigt. Doch im nächsten Moment wurde Geroline bewusst, dass MacLeya ihr gerade die Handgelenke hinten zusammenband. "Nein, nicht schon wieder! Also doch!"
"Also doch was?"
"Sie waren im Laster!"
"Ich nahm an, Sie wüssten das nur zu gut." Nebenbei half er ihr auf die Füße.
Geroline versuchte es mit bissigem Sarkasmus: "Mir hat ein Teppich die Sicht versperrt!"
"Wem nicht!"
"SIE haben mich doch darin eingewickelt!"
"Ich? Sie!? Mir scheint, wir reden aneinander vorbei. Zur Sortierung unserer Gedanken wird es von Vorteil sein, wenn nur einer redet." Damit streifte er das herabhängende Klebeband wieder über Gerolines Lippen.
Völlig perplex starrte Geroline ihn aus großen Augen an. Er aber lächelte auf einmal recht unpassend friedlich. Wie bestellt schien das sanfte Mondlicht durch eine freie Stelle im Blätterdach auf sie beide herab. Wie von MacLeya bestellt, wohlgemerkt! Geroline empfand es als unglücklich, hätte sie sich doch lieber im Dunkel verkrochen.
"Sie sind süß, wissen Sie das?"
Ein zorniges Koboldsfunkeln eroberte Gerolines Gesichtchen. Oh ja, das wusste sie! Und sie mochte es gar nicht, um so weniger den Hinweis darauf!
"Besonders, wenn Sie wütend sind."
Schuft!
"Wirklich entzückend. Aber bevor wir übereinander herfallen, sollten wir an unsere Situation denken."
Die Doppeldeutigkeit seiner Worte wurde Geroline sehr wohl bewusst. Während sie noch einen Tritt zwischen seine Beine erwog - der Anblick des Rocks irritierte sie dabei - ergriff er bereits ihren Arm und geleitete sie weiter in jene Richtung, welche sie in etwa vor seinem Überfall eingeschlagen hatte. Nicht zurück zur Unfallstelle? Wie sonderbar! Und wie sanft er ihren Oberarm umfasst hielt! Fast eher stützend als führend.
Derweil er noch schwieg, prüfte sie heimlich ihre Handfesselung. Sehr fachmännisch angelegt, ohne zu drücken oder einzuschneiden, hielt sie die Gelenke doch sicher überkreuz aneinander fest. Irgendwie schade, dass dieser höfliche Bilderbuchbrite keine Frau war.
"Wissen Sie", begann MacLeya, "es gibt einen einfachen Grund, Ihnen zu glauben: diesen kleidsamen Klebestreifen in Ihrem Antlitz. Da Sie also wohl tatsächlich auch Gefangene auf dem Teppichlaster waren, wirft dies die Frage nach dem Warum auf und somit erneut jene bezüglich Ihrer Identität. Bevor ich Ihnen aber erneut Gelegenheit zu einer Antwort gebe, versichere ich Ihnen, es ging mir ebenso. Man lockte mich auf dem Empfang in den Keller. Dort wurde ich überwältigt, wie Sie geknebelt und in einen Teppich eingerollt. Sicherlich wollte man ein Lösegeld erpressen."
War also doch MacLeya der andere Gefangene, den Geroline gespürt hatte? Eigentlich schien alles dafür zu sprechen, aber irgendwie wollte sie ihm noch nicht recht vertauen. Irgend etwas verheimlichte er noch. Die Geschichte klang einfach zu glatt. Geroline traute ihm zu, dass er sich zwecks Täuschung einfach oben auf die Teppiche gelegt hatte, um ihr Vertrauen zu erschleichen. Aber wofür?
"So, nun will ich aber wissen, was Sie in den Keller getrieben hat", forderte MacLeya nach einer Pause und befreite Geroline vorsichtig von ihrer Knebelung - nur davon, aber immerhin. Ihr fiel auch auf, dass er den Streifen in der Hand behielt. natürlich konnte dies auch einem naturfreundlichen Ordnungssinn geschuldet sein, doch Gerolines Verdacht ging in eine weniger hoffnungsfrohe andere Richtung.
"Nun?"
Das Nachhaken riss sie aus den Gedanken und stürzte sie neuerlich in Verlegenheit. Was nun? Jene Lüge hatte immer die besten Chancen, welche der Wahrheit am nächsten lag. "Ich habe eine verdächtige Peron hinuntergehen sehen."
MacLeya schmunzelte süffisant. Vermutlich glaubte er, selbst gemeint zu sein. "Und da Sie nebenbei zur Sicherheit des Hauses angestellt sind und über Kampferfahrung verfügen, haben Sie selbst nachgesehen", spottete er.
"Verarschen kann ich mich selbst. Machen Sie mich endlich los, MacLeya!"
"Nennen Sie mich ruhig William. Wir sitzen ja in einem Boot, wie es scheint."
"Sie sollen mich endlich befreien!" schrie sie und blieb stehen. "Woher hatten Sie eigentlich das Seil?"
In einer höchst britisch anmutenden Geste wies ihr gegenüber auf seine typisch schottische Güteltasche aus weißem Fell.
Geroline schnappte nach Luft. Ein Fesselliebhaber, der sein Spielzeug zu einem offiziellen Empfang mitnimmt und von seinen Entführern nicht abgenommen bekommt? Beinahe hätte sie ihm eröffnet, wie wenig sie ihm immer noch traute. Zum Glück konnte sie sich beherrschen!
MacLeya trat hinter sie, doch anstatt sich um die Handfessel zu kümmern, umklammerte er Gerolines Hals mit einer Armbeuge und drückte ihr wieder den Klebestreifen über den Mund. "Wirklich niedlich, Ihr Zorn", fachte er diesen noch an, "aber wir sollten jetzt leise sein, da wir uns den Grabanlagen nähern."
Ein Friedhof? Doch schon im nächsten Moment ging Geroline auf, dass nur die Pyramiden von Giseh gemeint sein konnten. Ihr Herz vollführte einen Hüpfer, und ganz kurz vergaß sie gar ihre Fesseln und den Ärger auf den Schotten.
Tatsächlich brachen von vorne zunehmend Lichter durch die Bäume. Schon meldete sich wieder Gerolines Argwohn. Wenn MacLeya wirklich ein entführter und entkommener Wirtschaftsmensch war, warum wollte er sich dann vor Touristen verstecken und befreite sie noch immer nicht?
Bald darauf standen sie in den Schatten des Parkrandes und blickten auf eine archaisch und zugleich futuristisch wirkende Szenerie: Geradezu stand die gewaltige Cheops-Pyramide mit der abgeflachten Spitze, angestrahlt von Scheinwerfern. Angesichts ihrer Ausmaße wirkte der eigentlich große Eingang fast winzig. Er lag direkt zu Geroline und MacLeya nach Norden gerichtet und schien sich wie ein hungriger Schlund zu öffnen - oder wie als Einladung zu einem Besuch seiner ewigen Nacht.
Rechts hinter der Pyramide Chufus lag die des Chafre oder griechisch Chephren mit ihrer hütchenartig erhaltenen Spitze. Wie viel hatte Geroline schon von alledem gelesen! Und nun stand sie hier - gefesselt und geknebelt.