Wieder wurden sie Stunde um Stunde durchgeschüttelt. Phasenweise verstummte Gerolines leerer Magen, um sich dann um so erboster zurückzumelden. Enge, Dunkel, Hitze - all das verschwamm zu einem bösen Traum, bis irgendwann etwas Geroline aufschrecken ließ.
Erst wusste sie nicht recht, was sie beim Dösen gestört hatte. Man hörte doch gar nichts! Aber genau diese Geräuschlosigkeit war es: Sie fuhren nicht mehr.
Wieder wurden die oberen Fässer beiseitegeräumt und die Gefangenen aus den ihren gezogen. Nur eine halbverwehte Piste war zu sehen, die an einem Wadi, einem ausgetrockneten Fluss, vorbeiführte. Ob sie überhaupt noch in Ägypten waren? Ebensogut konnte es Libyen oder der Sudan sein. Oder sollte gar noch mehr Zeit vergangen sein?
Während der Laster davonbrauste, nahm die Bewacherin Geroline und William wieder an die Halsleinen. Von zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Beduinen begleitet, führte die Frau sie in den Trockenfluss hinab. Leider konnte Geroline ob ihres Durstes die bizarre Kulisse der Felsenschlucht nicht recht würdigen. Einträchtig stolperte sie neben William her und sorgte sich nicht mehr sonderlich um die Vertrautheit. Gedankenleer starrte sie auf den in einer engen Jeans steckenden Po der sie ziehenden Entführerin. Erst nach mehrmaligem straucheln über Unebenheiten oder die Lauffesseln konzentrierte sich Geroline auf die eigenen Füße. Der Marsch durch die von Abendrot beleuchteten Windungen der Schlucht zog sich in die Länge, doch mochte dies an Gerolines Erschöpfung liegen. Zwischendurch durften sich die Gefangenen noch einmal in der gleichen erniedrigenden Weise erleichtern wie schon zuvor, dann ging es weiter.
Endlich erreichten sie eine sich zu einer breiten Senke erweiternde Stelle. Hinter einer Handvoll Zelte und spärlichem Bewuchs offenbarte sich eine Wasserstelle mit Kamelen. Zu jenen trieb man nun die Gefangenen. Mit langen Seilen waren die Tiere an kurzen Holzpflöcken im Uferboden festgemacht, dass diese nicht entlaufen, jedoch sich recht frei bewegen konnten.
Bei einem noch unbenutzten Holz wurden Geroline und William die Fußfesseln abgenommen. Allerdings mussten sie dafür sogleich in vorbereitete Säcke steigen und darin hinhocken oder niederknien, damit man die Hüllen an ihren Hälsen unterhalb der Halsbänder zubinden konnte. Nun vermochten sie nicht mehr aufzustehen oder mit den Händen an die Fesseln des anderen zu gelangen. Zudem sollten die gepolsterten Säcke wohl vor der nächtlichen Winterkälte schützen. Zunächst aber drohten sie, Gerolines Überhitzung noch voranzutreiben.
Nun befestigte die Entführerin ihre Halsleinen auch noch am Pflock im Boden, dass Geroline und William ihre Köpfe kaum mehr einen Meter voneinander entfernen konnten. Und als wäre all dies nicht schon schlimm genug, schienen seine Augen Geroline zu allem Überfluss aufmunternd anzulächeln. Einige seiner Haare hatten sich stränenweise aus dem Haarband befreit und standen vorwitzig zu den Seiten ab.
'Nein, ich mag keine Männer!' dachte Geroline trotzig mit einem Funkeln im Blick. 'Und ich bin nicht süß!'
Seine Augen indes begannen zu lachen, als hätte er ihre Gedanken gehört. Dann wandten sie sich ab, um Geroline in Ruhe zu lassen.
Kurz darauf kam die Entführerin mit zwei Schüsseln. Die eine wurde zwischen den Gefangenen beim Pflock abgestellt und war mit einer Art Kornbrei gefüllt. Mit der anderen trat die Frau an die Wasserstelle, diese zu füllen. Anschließend wurde die Wasserschüssel bei der anderen plaziert. Endlich befreite die Frau Geroline und William wenigstens von ihren Knebeln und verschwand dann im nächstgelegenen Zelt.
Statt sich aber auf Speis und Trank zu stürzen, bewegten die Gefangenen erst einmal ihre Kiefer hin und her, um sie gleichsam auszuprobieren. Dabei schauten sie einander prüfend an. Gewiss waren beide ausgehungert und völlig ausgetrocknet, aber da stand nur je ein Napf Wassers und einer kargen Mahlzeit. Neben der Vorsicht, nicht mit den Köpfen zusammenzustoßen, hielt Geroline auch die Vorstellung zurück, mit William hautnah über derselben Schüssel zu hängen, wie zwei Schweine über einem Trog. Nicht, dass sie im Spiel mit Greta nicht auch schon aus einem Napf hatte fressen müssen, aber William... hatte schon deutlich sichtbare Bartstoppeln. Es gruselte sie einfach, mit einem Mann so intim zu werden.
Als hätte er schon wieder all ihre Gedanken gelesen, fragte er galant: "Möchten Sie zuerst?"
Plötzlich brüllte ein in der Nähe stehender Beduine auf William ein. Offenbar wollte er Gespräche verbieten, doch da wurde er von der Entführerin ins Zelt gerufen.
Als Geroline den Schreck überwunden hatte, erinnerte sie sich wieder an die Schüsseln. "Danke", murmelte sie und schlürfte zunächst vom Wasser, bevor sie die Lippen in der körnigen Masse vergrub.
"Darf ich auch schon?..."
"Jaja." Diese Höflichkeit ihr gegenüber war ja kaum zu ertragen! Aber Geroline brachte es auch nicht übers Herz, sie auszunutzen. Beinah hasste sie William dafür, dass sie ihn nicht hassen konnte. Aller Widerwille und alle Scham konnten sie aber letztlich nicht davon abhalten, mit William gemeinsam gründlich beide Schüsseln zu leeren.
Halbwegs gesättigt hockten sie nun einander gegenüber und schauten sich in die verschmierten Gesichter. Mit einer sympathischen Frau hätte Geroline sich vorstellen können, einander abzulecken. Das stoppelige Antlitz vor ihr bot allerdings eher Anlass, nach der Ursache ihrer fern liegenden Traumvorstellung zu suchen. Zum, Glück schlug auch William nichts dergleichen vor, sondern säuberte sich wie Geroline weitmöglichst selbst mit der Zunge. Den gröbsten Rest konnten sie mit Hilfe der Schultern an den Säcken abwischen.
Während sie danach schweigend beienandersaßen, kamen Geroline einige ihrer Fragen wieder in den Sinn, von denen sie wenigstens eine wohl leicht beantwortet bekommen konnte: "Sprechen Sie eigentlich arabisch?"
"Das ist ja unerlässlich, schon aus beruflichen Gründen."
Irgend etwas kam Geroline an dieser Antwort ausweichend vor. Vielleicht auch niur, weil er nicht wie erwartet erwähnte, es sei ebenfalls eine der neun Weltsprachen.
Wie um dieses Misstrauen zu zerstreuen und davon abzulenken, fügte William noch an: "Ich will Sie ja nicht beunruhigen, aber vorhin fiel die Vokabel für 'Sklave', und tatsächlich soll es in der Gegend noch illegalen Sklavenhandel geben."
"Na toll!" Geroline starrte grummelig auf den Pflock mit den Halsleinen hinab. Das waren ja heitere Aussichten! Hätte sie diesen miesen Agentendienst doch bloß wieder abgegeben! Aber die Pyramiden waren einfach zu verlockend gewesen. Es war wohl kaum zu erwarten, dass eine nette lesbische Herrin sie kaufte. In ihrer hilflosen Verzweiflung rettete sich Geroline dennoch in derlei Phantasien hinein.
Beinahe wie zur Bestätigung kam die Entführerin zu den Gefangenen, ihnen die Münder mit frischen feuchten Tüchern auszustopfen und mit neuem Klebeband zu versiegeln. Dies stellte gleichsam eine Ankündigung der Nachtruhe dar, war doch der letzte Schimmer der Sonne inzwischen verschwunden, und auch die Lichter im Lager wurden nun gelöscht.
So mussten Geroline und William also im Freien und doch chancenlos und unerbittlich gefesselt und angeleint zwischen Kamelen verbringen. Den überwältigenden Sternenhimmel vermochte Geroline kaum zu genießen. Nur zu gern hätte sie sich hilfesuchend an ihren Leidensgefährten gekuschelt, aber diese Blöße wollte sie sich dann doch nicht geben.