Die Befreiung

von Matthias A. W. Ott

Eine Kurzgeschichte aus der Welt des Projekt Caniron

Lautlos glitten die Schiffe durch die bestirnte Leere. Die Triebwerke arbeiteten nicht mehr, seit die Flotte in die Umlaufbahn um den größten der Planeten des Systems eingeschwenkt war. Der Energieverbrauch an Bord war auf ein Mindestmaß heruntergeschraubt worden, so dass die gigantischen Fähren gegen die verwirbelte Wolkenoberfläche kaum auszumachen waren. Unwahrscheinlich, dass die Skorps sie jetzt entdecken würden.
Die ferne Sonne war die einzige nennenswerte Lichtquelle. So unerreichbar wirkte sie, dass einen unwillkürlich frösteln musste, wenn man sie betrachtete. Genau das tat Captain Haikun von der Brücke der NIFLHEIM aus. Er war ein gemütlicher Mann, der die Wärme liebte und ihn schmerzte der Gedanke, dass dieser Stern, von hier aus kaum größer als all die anderen, die letzte Hoffnung sein würde.
Ihn schmerzte auch, dass er die Rationen noch einmal hatte kürzen lassen müssen. Zwar waren die Vorräte an Wasser und Energie weitaus näher an der Erschöpfung, weswegen es hier auch klare Anweisungen betreffs der Rationalisierung gab, aber er war nicht so dumm, seinen Gegnern durch größeren Verbrauch von Lebensmitteln eine Angriffsfläche zu bieten.
Seine Gegner - darunter ordnete er auch die ein, die nicht ihn persönlich angriffen, sondern sein Schiff. Das heißt, eigentlich störte ihn die zweite Gruppe noch weit mehr als die erste. Von denen wusste man, was zu erwarten war. Jo Haikun? Schiffskommandeur? Meinetwegen. Aber dieses Schiff? Dieser Haikun?
Sie hätten lieber einen Militaristen an seiner Stelle gesehen. Jemand, der für Zucht und Ordnung sorgte. Als ob man neben Hochsicherheitstüren, Energiefeldbarrieren und ausgebildetem und bewaffnetem Sicherheitspersonal noch Zucht und Ordnung brauchen würde. Aber sie hätten das Kommando trotzdem lieber in der Hand von jemandem mit einem strengeren Ruf gewusst. Wie seine erste Offizierin, Cathly Morden zum Beispiel. Sie überwachte auch jetzt noch Schirme, wo es doch eigentlich gar nichts zu überwachen gab. Haikun seufzte leise.
Nein, die andern waren schlimmer. Diejenigen, die dieses Schiff nie hätten starten lassen. Die es als Köder für die Skorps hatten einsetzen wollen. Für welche die vielen Menschen-, Elfen- und auch Aroschinleben an Bord einen Dreck wert waren.
Abschaum, entschied Haikun. Er war, wie erwähnt, ein sehr gemütlicher Mann, der mit niemandem Streit suchte und dies war die einzige Klasse von Leuten, über die er so dachte.

Kurze Zeit später nahmen die Triebwerke aller Schiffe wieder den Betrieb auf, um die Flotte näher zur Sonne zu bringen. Und damit genau in den Asteroidengürtel, der an Bord erst im allerletzten Moment bemerkt wurde.

"Was zum...?" fluchte ein halbelfisch wirkender junger Mann, als er von seiner Pritsche auf den Boden geschleudert wurde.

Mehrere Lampen blinkten in allen Nuancen des roten Spektrums. Wahrscheinlich, dachte Haikun sarkastisch, ist auch infrarot irgendwo dabei. Das fortwährende Schnarren der Alarmsirene war ihm mehr als unangenehm. Trotzdem versuchte er, seiner Aufgabe gerecht zu werden und verlieh seiner Stimme einen energischen Ton, als er von seiner ersten Offizierin die Schadensmeldungen forderte.
"Bis jetzt fünf Treffer, Captain, Sir! Zwei davon haben die Schilde geschluckt, die anderen trafen Sektor 12B, den Aufzugsschacht A und..." Die routiniert klingende Stimme Mordens stockte, dann fuhr sie leiser fort: "...Tagesraum 3 ist leck. Wir müssen mit sieben Opfern rechnen."
Haikun spürte eine tiefe Trauer. Die Suche nach einem neuen Heimatplaneten währte nun lang genug, dass er mit jedem der Sicherheitsleute schon einmal ein paar Worte gewechselt hatte, viele von ihnen kannte er mit Namen und Gesichtern. Sieben von ihnen waren jetzt tot.

Inzwischen schüttelte der Halbelf zum nun fünften Mal den Kopf und streckte ungläubig noch einmal die Hand durch die Türöffnung. Nichts. Keine Barriere. Die Tür war offen und es war kein Trick dabei. "Das gibt es doch nicht", murmelte er. In einer Ecke seiner Zelle erwachte gerade ein kleiner Ferranganer wieder zum Bewusstsein. Trotz seines beachtlich gepolsterten Leibes, der ihm die grobe Form einer Kugel verlieh, war er wesentlich härter aufgeschlagen als sein Zellenkamerad und war kurz außer Gefecht gewesen. Ihm hatte die erste Sorge des Halbelfen gegolten, bevor der sich der so seltsam geöffnete Tür zugewandt hatte.
Probehalber trat er einen Schritt vor. Keine Garbe aus einer Strahlenpistole, keine militärische Stimme, nur das ferne Schrillen einer Alarmsirene. "Hey", rief er halbaut, "wir sind frei!"
Der Ferranganer rappelte sich hoch und hinkte ebenfalls zur Tür. "Du meinst, wir sind in einem gut gesicherten Gang auf einem von Wachen geführten Schiff, die sicherlich gleich eine Abordnung hierhin schicken werden, können aber drei Schritte aus unserer Tür machen?"
Der Halbelf ignorierte den Sarkasmus seines Begleiters. Er hatte begriffen, dass dies seine einzige Chance bleiben mochte und beschlossen, sie so gut als möglich zu nutzen. "Nimm das Bettzeug!" Neben der Tür staken zwei Nummernkarten in einer dafür vorgesehen Vorrichtung. Der junge Mann riss sie heraus. Seine Gefangenenkleidung besaß keine Taschen, statt dessen klemmte er sie vorerst in den Gummizug seiner Hose.
Sein Zellengenosse begriff zwar den Plan nicht genau, beziehungsweise er bezweifelte überhaupt die Existenz eines solchen, aber er beschloss, den Anweisungen vorerst zu folgen. Aus den schmalen Betten, die in die Wände des kleinen Raumes übereinander eingelassen waren, zog er Decken und Kissen heraus und kehrte damit zurück auf den Gang. Sein Körperbau verbot es ihm, über seine flauschige Last hinwegzusehen und für einen unbeteiligten Beobachter musste es wirken, als hätte ein kleiner Berg Stoff plötzlich speckige, braune Beine bekommen.
Der Halbelf riss ihm das Bettzeug beinahe aus der Hand, lief einige Schritte zur nächsten leeren Zelle und warf es davor zu Boden. Grinsend legte er die Hände vor den Mund und rief, die verzerrten Lautsprecherdurchsagen der Bordsprechanlage imitierend: "Dies ist keine Übung! Bitte werfen sie ihr Bettzeug auf den Gang! Ich wiederhole: Dies ist keine Übung." Er hoffte, dass die Alarmsirene seinen Worten genug Dringlichkeit verlieh und er hoffte ebenfalls, dass die Türen der anderen Zellen ebenso unverschlossen waren wie seine eigene.

"Klingeln sie die nächste Schicht aus den Federn und schicken sie sie nach 12B. Sagen sie ihnen, dass sie Aufzug B benutzen müssen, deklarieren sie einen Notfall, aber erwählen sie noch nichts von den Opfern."
Haikun handelte beinahe mechanisch. Er hatte das Gefühl, einen Text abzuspulen, den er hundert mal gelesen hatte. Und vielleicht war das gar nicht so falsch, die Situation ähnelte tatsächlich denen, die sich in den fiktiven Romanen, die er sich gelegentlich in der Informationenträgerhandlung nahe seiner Wohnung gekauft hatte.
"Können Sie den Schaden schon genauer beschreiben?" Ohne die Antwort abzuwarten, wandte er sich an den Kommunikationsoffizier: "Funken Sie die WALHALLA an und sagen Sie Bescheid, das wir getroffen wurden. Fragen sie nach, wie es um die anderen Schiffe steht, aber sagen sie noch weiter nichts über den Schaden, bis sie selbst gefragt werden."
‚Kein Bedarf, jetzt auf die Nerven zu fallen. Bei denen wird ohnehin sonstwas los sein; ich werde Meldung erstatten, wenn sich die Aufregung gelegt hat.'
"Captain? Ich wäre dann soweit. Wenn sie hören möchten...?"
Mit einer Handbewegung forderte er Morden auf, zu berichten. "Der Aufzugsschacht wurde von der Automatik hermetisch abgeriegelt. Der Druck im Innern ist normal, allerdings scheint die Außenwand hohen Belastungen ausgesetzt zu sein. Wahrscheinlich eine Delle in der Verkleidung. Ein paar Leute mit Raumanzug und ausreichend Sicherung sollten das Problem eigentlich beheben können."
Er nickte. Zu der gleichen Entscheidung wäre er auch gekommen und er war kein Kommandant, der sich über einen gut gemeinten Rat eines Untergebenen geärgert hätte.
"Was im Zellentrakt genau passiert ist, kann ich von hier aus nicht feststellen, auf jeden Fall müssen wir mit einiger Verwirrung der Gefangenen rechnen, wenn sie nicht sogar durch einen Ausfall der Sperrwände befreit worden sein sollten. Da die Lautsprecheranlage für diesen Teil ausgefallen ist, lasse ich die Wachen die Waffen bereit halten, wenn sie einverstanden sind."

"Irgendwas stimmt nicht, der Aufzug ist hermetisch abgeriegelt. Wir nehmen den Übernächsten."
"Warum nicht den Nächsten?" Der Ferranganer, der noch nicht einmal richtig losgelaufen war, schnaufte, als ob Wasserdampf sein Antrieb wäre.
"Wenn der hinter uns tatsächlich kaputt ist", von seinem Atemrhythmus wurde der Halbelf zu einer Pause gezwungen, "kommen sie garantiert über den nächsten. Wir nehmen den übernächsten."
Inzwischen hatten schon einige damit begonnen, Kissen und Decken in der Gangmitte aufzutürmen. Andere standen ohne echtes Interesse vor ihren Zellen. Es war offensichtlich, dass nur diese Beiden einen Fluchtversuch starten würden.
Der Halbelf nahm wenig Rücksicht auf die eher unsportliche Verfassung seines Kumpanen. Sein schlanker Körper wich im Weg Stehenden aus, setzte in großen Sprüngen über Deckenberge hinweg und doch atmete er weiterhin regelmäßig und konzentriert.
Offenbar hatte er den Ferranganer vollkommen richtig eingeschätzt, denn dieser nahm, als er bemerkte, dass seine Atemnot auf keinerlei Interesse stieß, sofort mehr Geschwindigkeit auf. Und obwohl ihm schon nach wenigen Augenblicken der Schweiß auf der Stirn stand, trommelten seine kurzen Beine in erstaunlicher Schnelligkeit über den Boden, so dass man beinahe meinen konnte, das Auge vermöge den Bewegungen nicht mehr zu folgen. Auch er wusste, dass er keine zweite Chance bekommen würde und wollte daher diese eine, so gering sie auch sein musste, so gut nutzen wie irgend möglich.
"Das Programm, von dem du mir erzählt hast?" Der Halbelf drehte nicht den Kopf, als er die Frage stellte.
"Ja?"
"Du kannst es von jedem Terminal anwählen, das an das Flottennetz angeschlossen ist?"
"Wenn es noch da ist."
Sie waren vor dem Aufzug angekommen. Zischend fuhr die Kabine durch den thermodynamischen Schacht. Fast lautlos glitt die Tür zur Seite. Der Halbelf, der im toten Winkel daneben Stellung bezogen hatte, streckte nach einer weiteren Sekunde der Stille vorsichtig den Kopf um die Ecke. Leer, wie erhofft.
"Okay, rein da!"

Beinahe im selben Augenblick fuhr einhundert Meter weiter vorne eine zweite Kabine hinab. Sieben Männer, bewaffnet mit auf Betäuben gestellten, äußerst schmerzhaften Ionen-Gewehren, verließen perfekt aufeinander abgestimmt und sichernd den Aufzug.
"Gute Logik", raunte ein Elf, "was läuft denn da vor sich?"
"Okay", brüllte der Ranghöchste, "genug Unordnung gestiftet! Räumt das Bettzeug wieder in eure Kabinen!"

Auch der nächste Gang war leer. "Auf welcher Ebene sind wir, sagst du?"
Der Ferranganer zuckte die Schultern. "Bis jetzt habe ich gar nichts gesagt und aus der Beschriftung des Aufzugs war auch nichts zu entnehmen. Da dort allerdings ein großes Schild ‚Kantine' hängt, schätze ich, es gibt hier was zu essen."
"Darum können wir uns später kümmern. Was wird hier noch untergebracht sein? Aufenthaltsräume vielleicht, etwa auch die Schlafräume der Besatzung?"
"Uhh, ich weiß nicht. Aber wenn wir ein Terminal finden, können wir sicherlich auch einen Plan des Schiffes abrufen. Wo lang?"
"Diese Tür!" entschied der Halbelf. Er drückte den Knopf und die Tür glitt zur Seite. Dahinter war es dunkel.

"Sir? Sehen sie sich das mal an!" Morden war vor ihrer Laufbahn beim Militär in einer Ausbildung zur Informatikerin gewesen und hatte als eine der Besten ihres Jahrganges gegolten. Sie hatte das Programmieren als Freizeitbeschäftigung beibehalten und einige recht ansehnliche Sachen zustandegebracht; und einige davon waren darauf ausgelegt, Unregelmäßigkeiten an Bord zu kontrollieren, die dem normalen Sicherheitssystem nicht bemerkenswert erschienen. "Aufzug C ist seit zwei Minuten blockiert."
Haikun verließ den Kommandostand und beugte sich über den Monitor ihres Terminals. "Kriegen wir ein Bild davon?"
"Es ist hier auf der Brückenebene, Sir! Da haben wir keine Überwachungskameras." Ohne ein Kommando abzuwarten, betätigte sie die Funkverbindungstaste zu dem Sicherheitsteam. "Hat einer von euch C benutzt?"
"Wir haben alle Extremitäten gefüllt damit zu tun, die Gefangenen zu eben solchen zu machen."
"Wie ich es hasse, wenn Elfen Funker werden."
Der Captain betrachtete sie aufmerksam. Aus dem letzten Satz hatte er beinahe ein Fünkchen Humor herausgehört. Sie war nach seiner Meinung deutlich zu jung für diesen Rang. Und zu hübsch. Selbst im Profil bemerkte er, wie abgespannt sie war.
"Sir, ich bitte um die Erlaubnis, auszutreten!"
Er wedelte mit einer Hand. "Ist in Ordnung. Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen. Und was immer Sie finden, werden Sie nicht all zu wütend."
Ohne auf seinen Kommentar einzugehen, verschwand die Ortanaci durch die Tür.
‚Schöne Frauen', entschied er, ‚gehören nicht zum Militär.'

Das Licht der Neonröhren fiel über lose Kabelbündel, Greifarme, die im Nichts endeten, Regale voll mit Schrauben und Kontakten, herumliegendes Werkzeug und einige verschlossene Stahlschränke. Keine Spur von einem Computerterminal.
"Daneben," sagte der Halbelf. "Komm, lass uns verschwinden."
"Hey, Moment!" Der Kleine hatte unter einer Werkbank etwas entdeckt. Die etwa fußlange, elliptische Scheibe kannte er zu gut, es war der Reinigungsroboter, der auch die Zellen einmal wöchentlich durchgefegt hatte - dann allerdings mit blockierter Steuerung und elektrisch geladener Oberfläche, damit eine Umprogrammierung welcher Art auch immer, unmöglich blieb. Der Ferranganer drückte den Startknopf. Mit einem energischen Surren begann der Roboter, den Boden abzusaugen, allerdings drehte er sich dabei völlig orientierungslos um die eigene Achse, so dass seine Spur einer verhungerten Spirale glich.
"Den nehmen wir mit."
"Warum das, um aller Welten willen?"
"Weil ich ihn mag."

Es war eine Neonröhre, etwa anderthalb Meter lang und offensichtlich aus ihrer Halterung gerissen. Wie kam die in die Tür der Aufzugskabine? Im Innern war alles in Ordnung. Zwei Röhren, wie üblich, spendeten Licht und brannten tadellos. Auch in der direkten Umgegend fehlte in keinem Gang eine Röhre. Prüfend nahm Morden das Ding in die Hand. War es möglich, dass man...? Sie stellte sich in den Aufzug. Die Tür schloss in nicht einmal einer Sekunde. Wenn man die Röhre so stellte, dass sie langsam in eine Richtung umkippte? Und das unmittelbar, bevor die Tür sich schloss? War es möglich, dass die Röhre gegen die gerade geschlossene Tür fiel, um in der nächsten Ebene herauszukippen, wenn sie sich wieder öffnete? Konnte man den Moment so genau abpassen, dass es einem gelang, vorher noch herauszuspringen?
Ja, Morden glaubte, dass es möglich war. Wenn man sehr schnell und ziemlich geschickt sein sollte.
Jetzt bedauerte sie es doch, praktisch unbewaffnet zu sein. Zu ihrer Uniform gehörte zwar eine AA24-Standard in einer schmucken Gürteltasche, eine Waffe, die gerne als ‚Fliegengriller' verspottet wurde, obwohl sie auf geringere Entfernung durchaus tödliche Wirkung hatte, wenn man präzise schoss, aber als sie den Knopf für die dritte Ebene drückte, hätte sie sich mit einem größeren Kaliber sicherer gefühlt. Immerhin beruhigte sie sich mit einem Wissen, das man sie auch gerne nachts und aus tiefstem Schlaf gerissen hätte abfragen können: In 12B waren weder Gewalt- noch Schwerverbrecher untergebracht.

"Ich hab dir doch gesagt, wir hätten gleich in die Küche gehen sollen."
Das Terminal hier hatte die Konstrukteure auf Virgom in einen heftigen Streit gestürzt. Die Einen behaupteten, für die Rationalisierung der wertvollen Vorräte sei es unbedingt notwendig, unmittelbar von der Küche aus Bedarfsmengen an die Vorrats- und Kühlkammern zu ordern, damit mit den Lebensmitteln sorgsam umgegangen würde und niemand Unterschlagung oder Verschwendung betreiben könne.
Die Anderen hatten mehr Vertrauen in die Proviantmeister, in die Leistungen des menschlichen Gedächtnisses und in die Macht von Zettel und Stift. Die erste Gruppe setzte sich durch.
Der Halbelf wunderte sich ein wenig über sein Vorhandensein, war jedoch äußerst dankbar, obwohl er als überzeugter Atheist und Afatalist nicht genau wusste, wem eigentlich. Er schaltete alle überflüssigen Lichter aus, die die Aufmerksamkeit eines zufällig vorbeigehenden erregen mochten, während der Ferranganer das Terminal starten ließ und sich mit dem Bedienungspaneel vertraut machte.
"Also schön. Suchen wir mal nach einer Verbindung ins große Netz."
Der Nahrungsmittelcomputer war mit der Regelung der Energieversorgung gekoppelt, weil die Kühlräume an Bord einen nicht zu unterschätzenden Stromverbrauch darstellten und nie mehr davon betrieben werden durften als unbedingt nötig. Das Energienetz wiederum war wichtig genug, um unmittelbar mit einem zentralen Computer im Herzen der WALHALLA verbunden zu sein, an denen die Informationen der ganzen Flotte zusammenliefen. Natürlich waren die diversen Verbindungen noch mit kleinen Programmen versehen, die die Steuerung erleichtern sollten, weil sich sonst kaum jemand zurechtgefunden hätte. Der kleine Mann brauchte nur wenige Minuten, um das alles herauszufinden und Augenblicke später hatte er, wenn auch mit beschränkten Administrationsrechten, Zugriff auf das Rechnernetz der ganzen Flotte. Er machte sich sofort daran, einige Subroutinen zu suchen, von deren Existenz nur er etwas wusste.

Oben auf der Brücke leuchteten auf Mordens Schirm einige Ziffern auf. Sie wurden begleitet von einem hohen, singenden Alarmton. Der Captain sah es sich interessehalber an, aber da er das System nicht kannte, nachdem die erste Offizierin alle Terminals des Schiffes erfasst und jedem gewisse Zeiten zugewiesen hatte, in denen es bei einem Systemstart Alarm geben sollte, wurde er nicht daraus schlau.
Jedenfalls störte ihn das Geräusch; er beschloss, später Bescheid zu sagen und schaltete den Alarm ab.

Unten waren alle Gefangenen wieder in den zugehörigen Zellen und der Techniker schien mit seinen Versuchen, die elektronischen Schlösser zu reaktivieren, gut voranzukommen. Der Rest des Teams stand etwas ratlos vor zwei Decken, zwei Kissen und zwei Betttüchern, die übrig geblieben waren.
"Naja, ich zerbreche mir da jetzt nicht den Kopf. Wir erstatten Bericht und dann soll sich jemand anderes drum kümmern." Der Kommandierende war noch ziemlich müde. Außerdem hatte er das Gefühl, etwas wäre schief gelaufen, vor allem, weil man sie geweckt hatte, anstatt die wachhabende Mannschaft einzusetzen. Und er wollte zuerst erfahren, was das war, bevor er sich mit solchen Kopfnüssen auseinandersetzte.

"Da ist es. Nicht zu fassen. In vier Jahren hat niemand seine Existenz bemerkt."
Der Halbelf verließ seinen Posten an der Tür, wovon er nervös den Gang betrachtet hatte. Er beugte sich über die Schulter seines Kameraden, entdeckte in den endlosen Zahlenkolonnen jedoch keinen Sinn.
"Wirklich ein Geniestreich. Sie haben die Grundstrukturen des Netzes auf den Planeten kopiert und es ist derart gut versteckt, dass sie es ebenfalls auf das der Flotte übertragen haben."
Der Halbelf pfiff anerkennend durch die Zähne. Er verstand nicht viel von Computern, abgesehen von alltäglichen Anwendungen, aber er konnte sich in etwa vorstellen, wie schwierig es sein musste, die Programmierer der Regierung derart an der Nase herumzuführen.
"Was ist aus deinem Freund geworden?"
Das fröhliche Gesicht des Ferranganers blieb unergründlich, während seine Finger weiter durch das Programm navigierten. "Er ist gefallen."
"Oh. Tut mir leid."
"Halb so wild. Er war eher ein Geschäftspartner als ein Freund. So, ich bin soweit. Meine Identität!"
Das grau des Bildschirm wechselte plötzlich zu einer verständlichen Benutzeroberfläche in freundlichen Farben. "Der hat wirklich an alles gedacht. Also: Name." Er überlegte eine Sekunde. "Rollo. Ich wollte schon immer mal Rollo heißen. Nachname, hmmm. Kuinus. Wie klingt das? Rollo Kuinus. Ich denke, das ist okay. Du kannst mich jetzt Rollo nennen."
"Ist gut, Rollo." Der Halbelf schmunzelte über den Ausbruch kindlicher Verspieltheit, der bei dem frischgebackenen Rollo zum Ausdruck kam.
"Weiter. Rasse: Ferranganer, das kann bleiben, Alter und Größe auch... Ah, da ist es: Status: Häftling; nein, das machen wir weg und den Zusatz bei der Kennnummer, den entfernen wir auch. Schau mal, mein Strafregister: Hehlerei, mehrfacher Betrug, arglistige Täuschung - was für ein schönes Wort - die Rundfunkgebühren habe ich nicht bezahlt und... hey!" Wütend hieb er auf die Löschen-Taste. "Fahrlässige leichte Körperverletzung! Die haben das doch tatsächlich rechtskräftig gemacht. Nein, das kann nicht stehen bleiben. Ich schreib mir dafür mehrfache Geschwindigkeitsüberschreitung dazu, das hat eh jeder Zweite im Register stehen. Und ein kleines Bankguthaben wäre auch nicht schlecht... nicht viel, wir wollen ja die neue Wirtschaft nicht überlasten, nur genug für einen Neuanfang, Startkapital sozusagen..." Er tippte noch einige Zeilen, veränderte einen seiner früheren Wohnorte und speicherte seine neue Identität dann ab.
Der Halbelf kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht nur, dass sein Begleiter doch einiges mehr auf dem Kerbholz zu haben schien, als man auf den ersten Blick vermutete und dass die reine Existenz eines solchen Programmes eigentlich digitale Information gewordene Unmöglichkeit war, er wunderte sich auch über die Menge der gespeicherten Einzelaspekte.
"So, jetzt bist du dran. Welche Nummer hattest du, 46 oder 44?" Der Halbelf sah auf den Karten im Hosenbund nach. "44."
"Okay, darüber finde ich dich am schnellsten. Ah, da bist du schon. Lass mal sehen..."
"Warte! Nicht, dass ich dir nicht trauen würde oder so... aber es wäre mir doch lieber, wenn du meine Daten nicht sehen würdest."
Zögerlich erhob sich Rollo von seinem Stuhl. "Nein, kein Problem - aber verstehen muss ich das nicht, oder?"
"Nicht wirklich." Elegant glitt er hinter den Monitor.

Auf der zweiten Ebene hatte sie Glück. Unmittelbar vor der Kabine hing ein loses Kabel aus der Decke und der brennenden Neonröhre fehlte das übliche Pendant. Morden atmete tief durch, um ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen. Also schön.
Ein rascher Blick den Korridor hinauf. Nichts. Vorschriftsmäßig warf sie sich um die Ecke und nahm auch dieses Gangteil bis zur nächsten Biegung in Augenschein.
Eine Bewegung unmittelbar neben ihr ließ ihr beinahe das Herz stehenbleiben, aber es war nur die Tür des Aufzuges, die sich wieder schloss. ‚Nimm dich ein bisschen zusammen, Cathly!' sagte sie sich. Wenn sie wenigstens ein Funkgerät mitgenommen hätte. Aber das war doch lachhaft! Das hier würde sie auch allein schaffen. In der Tat, hinter ihr lagen weitaus gefährlichere Missionen, scheinbar auswegslose Situationen und schreckliche Gefechte. Doch das konnte ihre Angst nicht dämpfen. "Sterben kann man immer und überall," hatte ihr Vater stets gesagt, der im zweiten Skorpkrieg gedient hatte. Und sie fand sich entschieden zu jung und hoffnungsvoll, um zu sterben.
Sie schob das Kinn vor und verkantete ihre Zahnreihen. Das hatte sie schon als kleines Kind gemacht, wenn sie ihrer Mutter glauben schenkte, und zwar immer dann, wenn sie etwas haben wollte, das sich im Besitz von jemand anderem befand. Lautlos schlich sie den Gang hinab.

"Für wie alt hältst du mich?"
Rollo zog die Stirn kraus. "Siebzehn oder achtzehn, was weiß ich. Was soll die Frage."
"Och, nur so. Ich bin soweit."
"Dann lass mich wieder ran, damit wir uns ein gutes Versteck suchen können."
Wieder tauschten sie die Plätze. "Welchen Namen hast du denn gewählt?" während er nach einem Plan des Schiffes suchte, wollte Rollo seine Neugier befriedigen. Der Halbelf lächelte. "Cai", erwiderte der Halbelf lächelnd und sein Blick schien in ziellosen Fernen Zeit und Raum zu durchdringen.

Inzwischen waren die Zellen wieder verschlossen. Die Mannschaft fuhr direkt zur Brücke. Der Captain informierte sie über die Verluste und manch einer der Sicherheitsleute weinte um seine Kameraden. Nach einer Schweigeminute machten sich der Techniker des Trupps und der Wissenschaftsoffizier auf, um Raumanzüge aus dem Lager zu holen. Schäden am Schiff mussten schnellstmöglich behoben werden, so lauteten die verbindlichen Anweisungen der Flottenleitung.

"Du willst... WAS?"
"Hierhin." Der Halbelf deutete auf den Schirm. "Ich hatte ja nicht darauf zu hoffen gewagt, aber sie haben das Arsenal mit unseren Sachen tatsächlich an Bord untergebracht. Und da muss ich hin und noch ein paar Sachen holen."
"Ein paar Sachen?" Rollo war beinahe außer sich. "Wir können doch nicht einfach da hochmarschieren und..." Er erkannte, dass er Cai kaum beeindrucken konnte und brach ab.
"Wieso nicht? Wir sind auch bis hierher marschiert." Plötzlich zuckte sein Kopf nach oben. "Sst!"
"Hast du was gehört?"

Sie hatte etwas gehört. Hinter der nächsten Ecke musste er sein. Direkt vor der Küche.
"Okay, das Spiel ist aus!" Ihre Stimme hatte einen entschiedenen Ton. "Leg dich auf den Boden und nimm die Hände über den Kopf. Wir sind bewaffnet, Widerstand ist zwecklos!"
Keine Antwort.
Sie wollte ihre Anweisung wiederholen, als plötzlich ein leises, bedrohliches Summen ertönte. Wie ein Dreigeschütz, das hochfährt. Wie auch immer der Kerl an ein Dreigeschütz gekommen sein mochte, die Ladungen würden die kühle Wand, an der sie lehnte, einfach zerfetzen und ihren Körper wahrscheinlich pulverisieren. Und in einer Sekunde wäre es schussbereit. Ihr blieb keine Alternative, sie rollte sich um die Ecke und schickte zwei Laserblitze in die Richtung des Summens und der Bewegung, die sie wahrnahm.
"Du brauchst wirklich etwas Schlaf, Cathly", murmelte sie. "Jetzt eliminierst du schon Putzroboter."

"Zwei zuviel, sagen Sie?" Was konnte das heißen? Bettzeug kam doch nicht aus heiterem Himmel. Ob gestern beim Auswechseln jemandem ein Fehler unterlaufen war? Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
"Ist jemand verschwunden?"
"Wir haben alle Zellen kontrolliert. Alle, die als besetzt markiert sind, waren auch gefüllt."
Haikun beschlich ein sehr unangenehmes Gefühl, als er an die junge Frau dachte, die gerade irgendwo in den Tiefen des Schiffes unterwegs war.
"Zwei Ihrer Männer sollen sich ein elektronisches Klemmbrett nehmen und die Zahlen und Namen von jedem Gefangenen übertragen. Damit gehen sie runter und überprüfen jeden einzeln. Sie sollen auch noch einmal nachsehen, ob irgendeiner kein Bettzeug hat. Außerdem bewaffnen und wachsam bleiben. Der Rest sucht nach Offizierin Morden."

"Siehst du? Spätestens daran scheitern wir. Du hast die erforderliche Magnetkarte nicht und die sind hinter uns her."
"Sst. Seit dem Trupp unten ist doch alles gut gegangen."
"Jetzt lass uns verschwinden!"
Der Halbelf antwortete nicht mehr. Die Tür zu dem kleinen Arsenal war nicht nur verschlossen, es brauchte auch eine Magnetkarte, um hindurchzukommen. Er schaute sich um. Der Gang sah aus wie alle anderen auch, ein Schild war neben der Tür in die Wand eingelassen, gegenüber vom Leser der Codecarte. Oben bildete die Tür ein Sims. Cai brauchte sich noch nicht einmal auf die Zehenspitzen zu stellen, sondern nur den Arm auszustrecken. Kein Staub blieb an seinen Fingern haften, die Putzroboter hatten auch hier ganze Arbeit geleistet, aber als er die Hand zurückzog, hatte er die Magnetkarte in der Hand. "Ich sag dir mal was: Sie verstecken das Ding sogar unter der Fußmatte, wenn sie gar keine haben."
Er zog sie durch und das rote Licht erlosch; statt dessen ging ein blaues an. Ein Knopfdruck und die Tür glitt zur Seite.

Morden hatte die gesamte Küche und die Kantine sorgfältig durchsucht, war aber auf keine Spur mehr gestoßen. Trotzdem war sie sich sicher, dass jemand hier gewesen war. Es war nur ein Gefühl, ein Elf hätte vielleicht gesagt: ‚Ein anderer Geruch in der Luft', aber sie war nur von einer guten zur wirklich guten Soldatin geworden, weil sie wusste, wann sie ihren Gefühlen trauen konnte und wann nicht.
Zurück in den Fluren hätte sie beinahe noch einmal auf einen Mann der eigenen Mannschaft geschossen, als dieser urplötzlich am Ende des Flures auftauchte. Sie sammelte die Abordnung und befahl, diese Ebene noch einmal systematisch zu durchkämmen.
Dann überlegte sie, ob es vielleicht das Gescheiteste wäre, zu ihrem Terminal zurückzukehren, wo inzwischen vielleicht andere Unregelmäßigkeiten angezeigt würden. Dann aber entschloss sie sich zu logischem Vorgehen. Wenn sie ein Gefangener wäre, der unentdeckt weiterreisen wollte, wohin würde sie dann gehen? Sie überlegte. Die leeren Kühlräume vielleicht. Die wurden überhaupt nicht mehr benutzt und nicht einmal mehr von elektronischem Personal frequentiert. Also ließ sie sich ein Funkgerät geben, meldete sich auf der Brücke und bat Captain Haikun, ihr Feierabend zu gewähren. Er wusste besser als irgend jemand, dass sie seit zwanzig Stunden auf den Beinen war, und gab daher blaues Licht.

"Deshalb warst du so scharf darauf, hierher zu kommen!"
Cai grinste selbstgefällig. Er war dabei, in eine Uniform zu schlüpfen, die der einiger Sicherheitsleute aufs Haar glich, mit den beiden weißen Sternen und dem leeren Kreis eines Spezialisten. Rollo ging ein Licht auf: "Darum haben sie dich eingesteckt! Du hast in der Armee irgendwas Krummes gedreht."
Dem Halbelfen schien daran gelegen, die Aussage zu entkräften, obwohl kein hörbarer Vorwurf darin lag. "Ich hatte meine Gründe. Aber ich bin nicht hauptsächlich wegen der Uniform hier." Er entnahm dem unförmigen Sack ein längliches Bündel und wog es in der Hand. Offensichtlich enthielt es etwas, das ihm sehr viel bedeutete, seine blauen Augen schienen förmlich zu strahlen. "Ah ja, und das hier will ich auch auf keinen Fall missen." Mit diesen Worten fischte er eine kleine Laserwaffe aus den Tiefen des Behältnisses, die der Mordens bis aufs Haar glich.
Rollo schaute etwas abschätzig. "Eine 24? Das ist so gut wie nichts."
Cai lachte leise: "Oh, dieses Baby hier habe ich ein wenig modifiziert. Es lässt sich nicht die Welt rausholen, aber etwas mehr als üblich leistet es schon. Deshalb darf ich auch das Zweitmagazin nicht vergessen; wer weiß, ob ich so etwas noch einmal hinkriege." Er steckte es sich in den Gürtel. "Meine Geldkarte lasse ich lieber drinnen. Mit der mache ich mich nur auffällig und nach der Landung werden neue ausgegeben, habe ich gehört. Und der Rest ist soweit wertlos. Oh nein, warte!" Etwas zerkratzt, aber ansonsten unbeschadet führte er eine schwarze Sonnenbrille ins Lampenlicht, die so stromlienenförmig war, dass sie sein Gesicht völlig maskenhaft wirken ließ. Zu allem Überfluss waren die Gläser von außen absolut blickdicht. "Hast du nichts?"
Rollo zuckte die Schultern. "Sie haben mich nachts festgenommen und zu Hause. Kam ziemlich überraschend."
Der Halbelf nickte und warf den Sack plötzlich quer durch den riesigen Raum. Noch bevor er den Boden wieder berührt hatte, lag die Waffe in seiner Hand und zwei zielgenaue Laserblitze fraßen sich durch das Gewebe und setzten es in Brand. Innerhalb von Augenblicken war nur noch ein kleiner, unidentifizierbarer Ascheklumpen übrig.
"Ich dachte schon, du drehst völlig durch. Aber du hast nicht nur an der Feuerkraft geschraubt, sondern auch an der Wirkung!"
"Eigentlich ist es auf Skorppanzer spezialisiert. Der erste Treffer bringt das abgestorbene Gewebe dazu, sich selbst auf großer Fläche aufzulösen, dem zweiten bietet sich kein Widerstand mehr."
"Trickreich. Und du hast das selbst gemacht?"
"Unter der Anleitung eines Veteranen, ja. Jedenfalls ist das hier jetzt ein Fall für die Putzroboter und spätestens übermorgen ist der Gefangene 44 für immer Geschichte."
"Schön. Und wo verstecken wir uns jetzt?"
"In den alten Kühlräumen - da guckt bestimmt niemand nach."

Wenn es eine Olympiade militärischer Disziplinen gegeben hätte, Cathly Morden hätte bestimmt nicht schlecht abgeschnitten. Im Zehnkampf wäre sie vielleicht nur Mittelfeld gewesen, aber einige Dinge konnte sie ganz ausgezeichnet und im Wache halten wäre ihr die Goldmedaille sicher gewesen. Jedenfalls gab es nirgends unter ihren Bekannten jemanden, dem es so wenig ausmachte, stundenlang völlig unbeweglich zu sitzen, ohne einzuschlafen oder in der Aufmerksamkeit nachzulassen. Auch hatte sie noch die Gabe, immer eine Sitzposition zu finden, in der ihr die Beine nicht einschliefen.
Diesmal hatte sie sich immerhin ein Zeitlimit gesetzt, nachdem sie die Kühlräume durchsucht hatte: Wenn die nächste halbe Stunde nichts geschah, dann war der entflohene Gefangene irgendwoanders untergekommen, schon geschnappt worden - oder es gab keinen entflohenen Gefangenen. Und sie gönnte sich den Gedanken an zwanzig Minuten unter der warmen Kabinendusche - ihrem persönlichen Energiekonto nach, das die von der Flottenführung zugestandene Menge wiedergab, hätte sie auch 24 Stunden warm duschen können - während sie hinter einer Kiste an die Wand gelehnt saß, die AA24 wieder in der Tasche und ein Betäubungsgewehr quer über den Knien.
Es war unmöglich, Schritte zu hören, die von außen kamen, die Wände waren beinahe einen halben Meter dick und bestens isoliert, aber das leise Klirren verriet ihr, dass jemand von außen den Riegelmechanismus betätigte. ‚Erst zwei Schritte in den Raum lassen', entschied sie, ‚dann ist der Fluchtweg zu lang.' Voll kribbelnder Erregung packte sie das Gewehr neu und begab sich in sprungbereite Position.
Die dicke Tür wurde langsam geöffnet. Einen Moment Stille. Ein dumpfes Geräusch. Sie wollte schon aufspringen, da schrie plötzlich jemand: "Okay, keine Mätzchen. Hände auf den Boden und nicht bewegen!"
Vorsichtig erhob sie sich und sicherte mit dem Gewehr über die Kiste. Ein kleiner, dicker Ferranganer mit ausgenommen verblüfftem Gesichtsausdruck kniete auf dem Boden, hinter ihm einer von der Sicherheitstruppe, die Pistole in der Hand und auf seinen Kopf gerichtet.
Ein wenig bedauerte sie schon, den Fang nicht selbst gemacht zu haben. "Gute Arbeit, Soldat. Und gut kombiniert."
"Danke, Leutnant. Soll ich ihn in seine Zelle sperren?"
"Ja, machen sie das."
"Ein ganz schöner Idiot, zu glauben, dass er damit durchkommt."
"Soldat, Sie reden mit einem Vorgesetzten!" Aber sie lächelte dabei. Er ließ sie vorbei und sie machte sich - endlich - auf den Weg in ihre Kabine.
Rasch streifte sie ihre Uniform ab und ließ sie auf dem Boden liegen. Während das warme Wasser ihren Körper hinunter rann, fragte sie sich, ob ihr jemals dieser Halbelf unter den Sicherheitskräften aufgefallen war.

"Das war knapp."
"Hmm."
"Einen Moment habe ich gedacht, du wärst durchgeknallt, und einen zweiten, du wärst wirklich von der Sicherheit oder sowas. Du hast ganz schön schnell reagiert."
"Man lernt so einiges."
"Woher hast du das eigentlich gewusst?"
Hier liegt Staub auf dem Boden und durch den musste sie durch. Ich hab die Spur gesehen und mir meinen Teil gedacht. Jetzt bleib du hier, ich schau mal nach ein paar Vorräten und dann machen wir es uns gemütlich."


Kurzgeschichten / Projekt Caniron

© Matthias A.W. Ott 2004 / OHHElf und Adler Verlag