Prolog aus

Des Forschers Geheimnisse

von Oliver H. Herde

Ein Raubrabe zog krächzend seine Bahn über der Eiswüste Ontaar. Sehr vereinzelt standen unten ein paar blattlose, knorrige alte Bäume, die sich durch Evolution optimal an ihre lebensfeindliche Umgebung angepasst hatten. Trotz der Einöde und der niedrigen Temperatur fand der hellblaue Vogel meist genug Futter zum Überleben. Zudem war heute ein herrliches Wetter: Mäßiger Wind, keine Wolken, kein Schneefall - für ihn ideale Flug- und Jagdbedingungen.
Schon hatte er seine Beute fixiert: Einen Schneepicker, einen Vogel, der mit seinem langen Schnabel in der dicken Schicht gefrorenen Wassers nach kleinen Tierchen suchte. Offenbar gerade nicht sehr hungrig stolzierte der Picker durch die Landschaft und kam in die Nähe einiger ungewöhnlich geformter Erhebungen. Der Rabe setzte zum Sturzflug an. Fast hatte er den zur Flucht ansetzenden Picker erreicht, da öffnete sich plötzlich einer der vermeintlichen Hügel.
Ein Lepore trat aus der styroporverkleideten Tür heraus. Trotz der Kälte war er recht leicht mit einer Hose und einem gestreiften Rollkragenwollhemd bekleidet. Aus den Sohlen der hellgrauen Fellstiefel, in denen seine Füße steckten, ragten zahlreiche Spitzen heraus, die sich in den stellenweise glatten Untergrund bohrten.
Ohne die beiden erschrockenen und in verschiedene Richtungen flüchtenden Vögel zu beachten, stapfte er ohrenwippend zu einem der anderen Gebäude hinüber. Es stand neben einem Radioteleskop, dessen Schüssel einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern hatte.
»Was mag jetzt wieder sein?« grummelte er nicht sehr neugierig. »Dass mich Sannar auch wegen jeder Kleinigkeit anrufen muss! Bestimmt hat er bloß wieder einen neuen Stern entdeckt!« Obwohl er nominell der Forschungsstation mit Sannar gemeinsam vorstand, vermochte Gevir noch nicht alles zu verstehen, was darin vorging. Das überforderte ihn manchmal doch ein wenig, so dankbar er Sannar im Grunde war, ihn bei allem beteiligen zu wollen. Er holte seine Ausweiskarte aus der Hosentasche und hielt sie dichter als nötig an einen Sensor neben der Eingangstür des Observatoriums. Die Tür öffnete sich seitwärts.
In diesem Moment kam ein spindeldürrer alter Mann vorbeigelaufen. »Guten Morgen, Gevir«, rief er ohne anzuhalten, offenbar bei bester Kondition.
»Hallo Sinon! Du kriegst wohl nie genug, was?«
Der Alte lachte nur und verschwand um die nächste Ecke.
Gevir lächelte fröhlich über den Sportsgeist des greisen Menschen. Bei den Leporen gehörte dergleichen traditionsgemäß zur Überlebenssicherung, während sich viele Menschen lieber auf ihren zivilisatorischen Errungenschaften ausruhten. Sich umwendend, verschwand Gevir im Haus.
Er lief geradeaus durch einen kurzen Gang mit einer Handvoll Türen zu beiden Seiten und trat dann in den großen Rechnersaal. In den hier stehenden Geräten - genauer: auf ihren Datenträgern - waren alle Informationen über das Wetter Canirons und über den von Ontaar aus sichtbaren Weltraum gespeichert. Zur Einrichtung gehörten diverse Monitore, Drucker und einige wenige astronomische Beobachtungsgeräte, die im Observatorium über dem Computerraum keinen Platz mehr gefunden hatten.
Nur ein Teil der Anlage stammte von den jetzt hier lebenden Asen - so genannt nach der fernen Insel Asgard. Doch selbst die Leporen, die Ureinwohner dieses Landes, wussten nicht, wer in grauer Vorzeit den Rumpf des Observatoriums und die Sendeschüssel errichtet haben mochte. Unter den Leporen hieß es, sie habe schon gestanden, bevor die ersten Leporen aus dem Süden herkamen. Da verwunderte es nicht, wenn selbst die Asen in den wenigen Jahren ihres Hierseins noch nicht alles hatten reparieren können.
»Nun, Sannar, was gibt es?« fragte Gevir einen Menschen, der gerade gemeinsam mit einer Aroschin, einem Elfen und einer jungen Menschenfrau erregt auf einen Monitor starrte.
»Wir empfangen eine außerasische Botschaft, da bin ich mir sicher«, erwiderte der Gefragte.
»Ach was«, winkte Gevir ab. Gewiss stellten sich viele von Sannars Behauptungen trotz ihres für Leporen schwer nachzuvollziehenden Charakters als wahr heraus, aber nun übertrieb er wirklich!
»Doch, doch. Hör dir das an! Ruhe verdammt!« rief er seinen brabbelnden Kollegen zu. Gevir horchte angestrengt, doch kam zunächst lediglich leises Rauschen aus dem Lautsprecher des Rechners. Dann, auf einmal, erklang ein kurzes Signal, nach einer kleinen Pause zwei weitere, dann drei, dann fünf, sieben, elf, dreizehn.
»Die Primzahlen, wenn ich nicht irre«, stellte Gevir erstaunt fest.
Die Zahlenfolge wiederholte sich zweimal, danach setzte ein Wirrwarr von Tönen ein, mit unterschiedlichen Längen und Abständen.
»Das gibt’s nicht! Scheint, du hast recht. Die Primzahlen sollen uns sagen: ›Hier sind wir!‹ Und dahinter folgt die eigentliche Botschaft. Aber wir müssen uns vergewissern. Von wo kommen die Radiosignale?«
»Aus Richtung Zentrum der Milchstraße, aber wir können die Entfernung schwerlich genauer abschätzen, wenn die Signale nicht länger anhalten.« Sannar hatte ganz weiche Knie vor Aufregung. Zittrig griff er nach einem Stuhl.
»Wir müssen natürlich antworten«, meinte Gevir ernst, obgleich er sich solche Entfernungen nicht wirklich gut vorstellen konnte.
»Natürlich«, entgegnete Sannar. »Wir sind dabei, das einzuleiten. Wir senden zuerst die Primzahlen, damit sie wissen, dass jemand antwortet. Danach unsere vorbereitete Botschaft.«
Die Spannung war jetzt auf einem Höhepunkt. Während man das Piepsen des eigenen Senders mitanhörte, erwartete jeder unwillkürlich, die Fremden müssten schon in wenigen Augenblicken antworten, obwohl natürlich jeder wusste, dass es Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern konnte, bis die Signale die astronomische Entfernung zurückgelegt haben würden.
Einige spannungsgeladene Minuten verstrichen, während das versammelte Kollegium den Atem anhielt. Zehnmal hintereinander wurden erst die Primzahlen, dann die verschlüsselte Botschaft zu den unsichtbaren Gesprächspartnern gefunkt. Dann herrschte eine bedrückende Stille. Alle waren wieder klar im Kopf, hofften nicht mehr unterschwellig auf ein sofortiges Gespräch mit irgendeinem hochentwickelten fremden Sternenvolk, von dem man gewiss viel lernen könnte.
»So, wir können jetzt nichts weiter tun, als die Botschaft der anderen zum Entschlüsseln nach Asgard zu schicken«, sagte Sannar schließlich. »Und natürlich senden wir in nächster Zeit noch einige Male.«
Gevir stand auf, seufzte, klopfte Sannar anerkennend auf die Schulter und schickte sich an, den Raum wieder zu verlassen. Über die Bedeutung dieses Ereignisses musste er erst einmal meditieren.
Plötzlich jedoch hörte man wieder ein Piepsen.
»Schon wieder Primzahlen«, rief die Aroschin von einem Kontrollpult. »Aber diesmal kommen sie von Komsat1.«
Sofort waren alle wieder aufmerksam. »Vom Satelliten?« rief Sannar völlig verblüfft. »Wie ist das möglich?«
»Der Satellit fängt die Signale nur auf«, erklärte die Aroschin. »Gesendet werden sie im Süden des Kontinents.«
»Aber da gibt es doch niemanden«, wandte Sannar ein. »Unsere Aufklärer haben neben Asgard keine Zivilisation mit technischer Entwicklung auf diesem Planeten entdeckt. Es ist mir ein Rätsel.«

Des Forschers Geheimnisse ist als E-Buch erschienen.


Kurzgeschichten / Projekt Caniron

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