Verfassungsgebende Versammlung (2.10.20)

Als ich mich dem Bundeskanzleramt nähere, wundere ich mich, noch keine Demonstranten zu sehen. Tatsächlich sind wir zunächst lediglich ettliche Hundert. Zum einen mag es an diesmal vergleichsweise schwacher Bekanntmachung und dem frühen Freitag Nachmittag liegen, an dem sich gewiss noch nicht jeder freimachen kann, zumal direkt vor einem gesetzlichen Feiertag, an dem man nicht einkaufen darf. Zum anderen wurde die gesamte Wiese am Platz der Republik abgesperrt - es ist also überhaupt kein rechter Raum für noch mehr Menschen bereitgestellt.
Es zeigt sich rasch, welche Absicht dahintersteckt: Immer wieder wird von der kopfstarken und bedrohlich hochgerüsteten Polizei gefordert, man solle die vorgeschriebenen Abstände einhalten - so eingezäunt, eine unmöglich zu erfüllende Aufgabe.
Als die Polizei zunehmend das Gelände umstellt, ziehe ich mich mit einer meiner Mittänzerinnen vorsichtshalber zurück. Kurz darauf - pünktlich um 17 Uhr - wird alles umstellt, die Versammlung für aufgelöst erklärt und werden die schmalen Endstücke des Streifens ebenfalls abgesperrt.
Vermutlich sind heute einfach zu wenig Anwälte anwesend, um dieses grenzwertige Vorgehen abzuwehren.
Immerhin lässt man noch jene hinaus, die gehen wollen. Genau darauf ist man ja aus.
Trotz aller Drohgebärden scheint es diesmal wenigstens keine Ausschreitungen der Polizei zu geben. Erstere genügen jedoch, dass sich die Menge langsam zerstreut. Damit sind nicht nur alle ausstehenden Reden unterbunden, sondern auch der für später geplante gemeinsame Zug zum Rosa-Luxemburg-Platz und der dortige Gesang.
Zu dritt beschließen wir, allein dorthin zu pilgern. Unterwegs kreuzen immer wieder andere Demonstrationsteilnehmer mit derselben Absicht. Nirgends gibt es Anzeichen, dass die Polizei in dieser Gegend überhaupt für heute mit einem Demonstrationzug gerechnet hätte.
Am Zielort hingegen möchte man vermeinen, die Polizei wolle die Demonstranten mit ihrer Anwesenheit gewissermaßen ersetzen. Wahllos werden Menschen vom ohnehin ansonsten recht leeren Platz verwiesen mit der Angabe, die "Querdenken"-Demonstration sei verboten. Man ist sich folglich nicht einmal darüber im Klaren, dass die Kundgebung von Nicht ohne uns organisiert war.
Von einer einzelnen Dame hören wir das Gerücht, dass man sich nun am "Hauptstadtstudio" der ARD sammele. Da ich keine Kraft mehr habe, auch diese Strecke mein Rad bloß zu schieben, müssen wir uns trennen.

Als ich vor dem Studiogebäude angelange, findet sich dort lediglich ein versprengtes Grüppchen einiger zehn Menschen, nach zeitgenössischer Musik tanzend oder sich unterhaltend. Leider dauert es nicht lange, bis die ersten Polizeiwagen auftauchen. Körperlich könnte ich noch ein wenig durchhalten, nervlich geht nichts mehr, weshalb ich für den heutigen Abend aufgebe.

Darstellung der Ereignisse durch die Veranstalter in Demokratischer Widerstand Nr. 22 auf den Seiten 4 und 5.


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    Oliver H. Herde

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