Irgendwie ist es so unruhig im Zimmer. Ulrich verschwindet im Bad. Hat sein Wecker geklingelt? Hab ihn gar nicht gehört. Oh, mein Rücken! Verflixte Sprungfedern! Immerhin bin ich nur noch drei Mal aufgewacht - allerdings dauerten diese Phasen länger als letzte Nacht.
7:31
An den vermeintlichen Frühstückstischen sitzt noch niemand. Doch als ich mich umwende, erkenne ich, dass man für uns eine gesonderte Räumlichkeit auf der anderen Seite der Eingangshalle reserviert hat. Diesmal liege ich mit meinem Erscheinen zeitlich im Mittelfeld.
Zum Wachwerden schenke ich mir aus einem der beiden großen und zu dieser Tageszeit noch ungemein schweren Glaskrüge von einer undefinierbaren kalten, roten Flüssigkeit ein. Trotz des hohen Wasseranteils kann man sie wohl noch im weitesten Sinne als Saft benennen.
Ich plaziere mich mitten an der Längsseite eines freien Tisches und bin innerhalb kürzester Zeit von Exkursionsteilnehmerinnen insbesondere des eigenen Busses umringt. Offenbar habe ich mein Charisma bislang unterschätzt.
Die morgendliche Begrüßung läuft von meiner Seite her wie zuvor sehr freundlich, aber wortlos ab. Auch während der Tischgespräche ändert sich nichts an meiner Schweigsamkeit - von kurzfristigen Unterbrechungen abgesehen, in denen ich auf an mich gestellte Fragen reagiere, die man nicht pantomimisch beantworten kann. Im Gegensatz zu meiner verschlafenen Zunge sind meine Ohren hellwach. So lausche ich dem fröhlichen Geplapper und überrasche mit meiner unvermuteten Aufmerksamkeit, als Steffi Kerstin fragt, ob in dem geöffneten Päckchen noch Erdbeermarmelade sei, Kerstin verneint, und ich ihr daraufhin kommentarlos ein neues aus der anderen Richtung zuschiebe. Gleiches wiederholt sich noch mit der Milch.
Zwischendurch lege ich mir schon mal von den eingeschweißten Backwaren zurecht, was ich nachher als Proviant mitgehen zu lassen gedenke.
Später setzt sich Dahlheim ans Tischende und ich frage ihn, ob er uns denn auch bald Gelegenheit gäbe, einzukaufen und Geld zu wechseln.
»Warum haben Sie mir das denn nicht früher gesagt?« erwidert er. »Die plündern Sie aus!«
Das trifft mich hart. Michaela meinte doch, es sei billiger, in Italien zu wechseln! Von dieser Schreckensmeldung bin ich so schwer angeschlagen, dass ich gar nicht merke, dass Dahlheim überhaupt nicht auf meine Frage geantwortet hat.
8:21
Endlich haben sich alle auf dem Piazza dei Cavalli eingefunden - abgesehen von den Busfahrern, die unsere Truppentransporter irgendwo am anderen Ende des Städtchens abstellen sollen, damit wir im Anschluss an unsere städtische Vormittagstour gleich weiterfahren können. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir mehr Proviant mitgenommen.
Das Programm beginnt mit Christoph und seinem Referat zu irgendeiner Familiengeschichte. Wahnsinnig spannend, wie er seine zwölf Seiten einfach herunterliest!
Jemand unterbricht und bittet um einen kleinen Standortwechsel, da es hier so laut sei. Schon richtige Beurteilung des Straßenverkehrs. Ein zentraler Verkehrsknotenpunkt im Herzen Berlins ist aber auch nicht viel leiser. Und das betrifft schließlich den gesamten Platz, so dass unsere strategische Bewegung nur für sehr geringfügige Erleichterung sorgt - und für sehr kurzfristige.
An dem pompösen Rathaus beginnt nun nämlich ausgerechnet in unserer neuen Nähe jemand, ein chemisches Reinigungsmittel zu versprühen. Dabei stört mich nicht einmal am meisten das zischende Geräusch, dass sich gegen den Straßenlärm sehr wohl zu behaupten weiß, sondern die giftigen Dämpfe, die von dort ungeniert zu uns herüberwehen. Unverzüglich bemühe ich mich, innerhalb der Gruppe einen möglichst weit vom Putzteufel entfernten Platz einzunehmen. Leider wird dies durch rauchende Mitglieder derselben verkompliziert. Das Kriterium, der Akustik wegen möglichst nahe bei Christoph zu bleiben, muss jedenfalls aufgegeben werden. Angesichts des atemberaubenden Wendepunktes von Seite 5 bis 9 (oder was auch immer) kein sonderlicher Verlust.
Bald darauf beginnt es gar zu nieseln, was weitere Unruhe unter den Anwesenden verbreitet. Doch auch dies wird ja irgendwann mal vorübergehen, ebenso wie - man mag es nicht glauben - Christophs auf ungeahnte Weise nervenzerfetzende Vorlesung. Mit Fug und Recht darf behauptet werden, der Vortrag habe keine Tiefen gekannt. Für solche sind bekanntlich sich davon abhebende Höhen vonnöten.
9:34
Wir nähern uns dem örtlichen Dom, der näher am Hotel liegt, als der Palazzo, was doch milde Verwunderung in mir auslöst.
Ich werde auf jene Statue aufmerksam gemacht, die das Zentrum des Domplatzes einnimmt. Sie habe einen elektrischen Heiligenschein. Ist mir gestern abend gar nicht aufgefallen. Und wenigstens tagsüber ist er zum Glück abgeschaltet. Dank des weiter vor sich hintröpfelnden Regens beschließen unsere drei Reiseleiter, sich nicht allzu lange mit der Domfassade aufzuhalten und hineinzugehen.
10:28
Also, man kann ja auch alles übertreiben! Aber zu meiner Freude weichen wir einem Gottesdienst. Zu meinem Entsetzen hingegen ist der Regen vorüber und Miller nimmt die Fassade doch noch verbal auseinander.
10:59
Nachdem wir uns wieder vom Hotel entfernt haben - seltsame Route - stehen wir - man höre und staune - schon wieder in einer Kirche. Korrekter ausgedrückt: Wir sitzen. Das immerhin ist mir eine willkommene Abwechslung. Miller redet irgendwas von einem in ein Sechseck übergehendes Achteck, das es am Oberlicht zu entdecken gäbe. Keine Ahnung, was dabei so bewundernswert sein soll. Aber einmal ganz davon abgesehen, erkenne ich wohl ein Achteck, nirgends hingegen ein Sechseck. Und wie ich später erfahren soll, geht es dem Rest des Busses ebenso.
Vermutlich aufgrund meiner überaus vertrauenerweckenden Erscheinung - aber vielleicht ziehe ich auch nur ganz einfach die Irren dieser Welt an - spricht mich eine alte Frau von hinten im einheimischen Idiom an. Überrumpelt versuche ich zu erkennen, ob es wohl gleich zu Ausschreitungen kommt, da eilt mir Dahlheim, der direkt vor mir saß, zu Hilfe und verständigt sich mit der eigenartigen Lebensform. Als sie erfährt, dass wir angeblich aus einem Ort namens Berlino stammen, gibt sie sich begeistert und bedankt sich ausgiebig, ohne dass klar wird, wofür eigentlich. Für das viele Geld, das deutsche Touristen hier im Lande abladen? Oder stammt ihre Freundschaft aus längst vergangenen Zeiten?
Nach Beendigung der ach so faszinierenden Legende um das unsichtbare Ichweißnichtwievieleck ist es erlaubt, auch körperlich vom Meister abzutreiben und sich selbständig umzusehen. Das Gros der Truppe geht den Restaurator eines Wandbildes bei der Arbeit beobachten.
Ich hingegen nähere mich zielstrebig, aber der Unauffälligkeit halber mit kleinen Umwegen einer Anordnung elektrischer Kerzen. Welch prächtig flackerndes Beispiel für den prächtig flackernden Verschwendungsdrang der Menschen! Ich habe nie recht verstanden, wofür diese Kerzen eigentlich entzündet werden. Aber vielleicht ist es ein gutes Zeichen, wenn sich die Technik hier mal als Stimmungskiller betätigt. Was bin ich für ein hoffnungsloser Optimist!
Mein antichristlicher Schatten beugt sich drohend über das dem Gott der Elektrizität huldigende Mobiliar, als ich nach seinem Aufbau und seinem Schalter Ausschau halte. Da ich keinen solchen entdecken kann, und ja auch nur einzelne Birnen brennen, wird wohl jede ihre eigene Schaltung haben. So probiere ich, eine der eingeschalteten Kerzen zu drehen, was mir diese jedoch verweigert. Bleibt nur der Leuchtkörper selbst. Und tatsächlich: Nach einer Fünfteldrehung verlöscht er. Erfreut, abermals ein kleines Stück Umwelt gerettet zu haben, belasse ich es einstweilen bei dieser einen Birne, da sich Raucher-Christian nähert. Alle abzudrehen wäre vermutlich ohnehin zu auffällig gewesen.
12:00
Damit der Allmächtige sein Mittagsbreichen zu sich nehmen kann, scheucht man uns aus der Kirche. Mir natürlich sehr recht, da ich hier - abgesehen von den Elektrokerzen - nichts Neues gesehen habe.
Aufgrund einer drohenden Revolte erlaubt Dahlheim einen Zwischenstopp im Hotel, um Vorräte aufzufrischen und organischen Müll zu entsorgen. Die Aktion mit den Bussen hätte man sich also sparen können, aber so sparen wir uns einen perpedischen Rückweg. Nach all dem langen Herumstehen ist sitzen vielleicht nicht gerade das Vernünftigste, wohl aber das Einfachste.
12:21
Welch Wahnsinn hat das Zimmermädchen befallen! Offene Fenster bei dieser Hitze! Und sollen mich die heruntergelassenen Rollos jetzt etwa zum Einschalten der Lampen animieren, wo es draußen doch wirklich hell genug ist?
12:43
Wir fahren in südlicher Richtung dem Appenninus, den die Deutschen als Apenninen bezeichnen - entgegen, da fällt mir in der Ebene jenseits der Straße ein absolut undefinierbares Objekt auf. Sieht fast aus wie ein unfertiges Gebäude, aber doch auch irgendwie anders, zumal niemand dort arbeitet. »Was soll das denn sein?« frage ich laut. Und da mir dies niemand zu beantworten vermag, füge ich zur allgemeinen Belustigung hinzu: »Das haben die da doch nur aufgebaut, damit da kein Wald steht!«
13:07
Nachdem wir ein Stück Bergs hinaufgefahren sind, ist es an uns, den Rest des Weges zum Kastell l'Arquato zu Fuß zurückzulegen. Da keiner der anderen Busse zu sehen ist, hetzen wir uns nicht allzu sehr. Andererseits habe ich gar nichts dagegen, dass wir uns einmal bewegen, anstatt zu stehen oder zu sitzen.
Als wir zu einer steilen Treppe kommen, mache ich mir einen Spaß daraus, sie im 3-Stufen-Takt hinaufzuhechten. Es muss wohl ein komisches Bild für jene sein, die, auf unsere Stimmen aufmerksam geworden, zur Treppe schauen, als ich plötzlich aus der Versenkung heraufschieße. Auch ich bin doch ein wenig überrascht, die Insassen der anderen drei Busse vor mir auf den Gartenmöbeln eines Cafés vorzufinden. Aufgrund meiner vielleicht eigenwilligen Wahrnehmungsweise registriere ich keine bestimmten Einzelpersonen bewusst, sondern die Szene in ihrer Gesamtheit. Allerdings entgeht mir im Augenblick ebenso die Interessante Tatsache eines fehlenden Gartens für dieselbigen Möbel, wie ich noch immer nicht realisiere, dass wir das gesuchte Kastell längst erreicht und betreten haben. Statt dessen unterrichte ich lauthals mein Gefolge weiter unten von unserem diesmaligen letzten Platz.
Oben angekommen stürmen die anderen unverzüglich ins Café. Ich folge ihnen vorsichtig, mich nach Speisekarten und Preistafeln umschauend. Da man sich jedoch offenbar nicht getraut, die Kosten einer Nahrungsaufnahme öffentlich bekanntzugeben, bin ich ganz schnell wieder draußen, um mich auf einem freien Platz zu sonnen.
Nach ihrem Einkauf gesellen sich die anderen zu mir. Als Stefanie mir von ihrem Mineralwasser anbietet, zögere ich einen Moment, anzunehmen. Dieses Zeug ist mir etwas zu bitter und bereitet mir eher Durst als Erfrischung. Andererseits steht es nicht gerade üppig um meinen Flüssigkeitshaushalt. Naaa gut!
Steffi gießt mir etwas in ein Glas, und Sekundenbruchteile später habe ich die Hälfte davon auf der Hose.
»Mach nur so weiter!« meine ich trocken.
Sie entschuldigt sich überschwänglich, bricht fast in Panik aus.
»Ist ja warm genug«, versuche ich sie zu beruhigen, aber mein spöttelnder Unterton arbeitet an dieser Stelle wohl gegen mich. Wird sie je darüber hinwegkommen? Zumal ich es ihr bis an ihr Lebensende unter die Nase reiben werde?
13:38
Die dritte Kerstin, jene aus dem Dahlheim-Bus referiert über die Schlacht von Pavia 1525. Ein mal wieder interessanteres Thema. Doch da Steffi, Kerstin und ich uns etwas verspätet haben, sitzen wir nicht gerade zentral, und das zarte Stimmchen der Referentin erreicht mein Ohr nicht durchgehend, sondern nur immer wieder mal. Immerhin schnappe ich den Begriff der 'Schwarzen Bande' - einer beteiligten deutschen Söldnertruppe - auf, der mich sogleich fasziniert.
14:42
Eine durchaus stimmungsvolle und vermutlich schon deshalb kunsthistorisch wertlose Kirche später ist das Kastell abgehakt. Die Decurien strömen auseinander.
Bevor wir uns allerdings an den Abstieg machen können, werden wir von einem alten Herrn angequatscht, der uns von irgendwelchen Filmaufnahmen vorschwärmen will, die hier dereinst stattfanden. Da ich einerseits kein Wort verstehe und andererseits ja auch schon selbst mehrmals als Komparse vor der Kamera stand, belasse ich das Problem unbeeindruckt den anderen.
Schließlich können wir das Kastell doch noch verlassen. Erst satte acht Monate später wird mir auffallen, dass wir schon zu diesem Zeitpunkt in Uwe einen Überläufer aus dem Hunecke-Bus in unseren Reihen haben.
Zum krönenden Abschluss dieser Örtlichkeit kommen wir noch an einem Feigenbaum vorbei, für dessen Aberntung man schon mal ein wenig seinen Hals riskieren muss, was Stefan, Uwe und ich natürlich sofort in Angriff nehmen. So stehen wir auf der Burgmauer, die sich nach außen hin über einen Abgrund erhebt, und reichen die Feigen weiter an die F... freundlich Wartenden. Ich persönlich bin ein wenig enttäuscht vom Aroma, aber man muss das Preis-Leistungs-Verhältnis beachten.
14:54
»Ist es weit?«, fragt Kerstin von der Rückbank. »Kann man sich die Schuhe ausziehen?«
Es treibt uns südwestlich, tiefer hinein in den Appenninus - den die Italiener Appennino nennen. In hunderten kleiner Kurven windet sich die Straße durch das Gebirge und führt uns zunächst immer weiter empor.
15:23
Raucher-Christian schießt aus dem fahrenden Bus ein paar Panoramabilder, da überholen wir den weißen Dahlheim- und den grünen Miller-Bus, die am Straßenrand an den Abhang gepresst stehen. Auch wir halten an, und Stefan steigt aus, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung ist. Der armen Kerstin aus dem Dahlheim-Bus ist vom Achterbahnfahren schlecht geworden, und ein paar andere standen wohl kurz davor. Immerhin scheint man ohne Auswürfe ausgekommen zu sein. Da jedoch bei uns noch niemand über derlei Beschwerden klagt, setzen wir den Weg fort.
15:28
Bald darauf lassen wir auch den grünen Hunecke-Bus hinter uns, der zu einem Fototermin angehalten hat. Sofort entbrennt auch bei uns die Diskussion, ob man es jenen nicht gleichtun solle.
15:31
Die Diskussion dauert nicht lange, und schon posieren wir Stefan an einer windumtosten Klippe für eines der meines Erachtens gelungensten, weil beknacktesten Photos der gesamten Reise.
15:42
Es geht wieder abwärts. Zudem darf man wohl behaupten, dass Stefan der offensivere unserer Fahrer ist. Stefanie auf der Rückbank bekommt fast einen Schreikrampf: »Schneide doch die Kurven nicht so eng!«
»Dafür nennt man ihn auch den Grimmen Schnitter!« werfe ich begeistert ein.
16:05
In einem kleinen Örtchen springt Stefan aus dem Bus, weil er unbedingt etwas besorgen zu müssen glaubt.
Kurz darauf spricht Fahrer-Christian zum ersten mal von einem gewissen Werner. Er meint Dahlheim.
16:27
Und da wären wir schon wieder in einer Kirche. Den primären Gegenstand der Betrachtung bildet ein Taufbecken. Nichts Besonderes eigentlich - keine Schnörkel, kein Schnickschnack - aber gerade deswegen gefällt es mir. Trotz seines Durchmessers von vielleicht knapp einem Meter fünfzig scheint es aus einem einzigen Fels herausgeschlagen. So sieht es aus, wie eine große, kreisrunde Steinbadewanne.
Doch es gibt noch etwas anderes, was mich an diesem Becken ungleich mehr in seinen Bann zieht. Ob die Welt darum weiß, dass niemand geringerer als der berühmte Zilliardär Dagobert Duck hier in Italien seine Taufe empfing? Warum sonst sollten Münzen am Boden des knochentrockenen Beckens liegen, die zweifellos von der Taufzeremonie übrig geblieben sein müssen? Oder sollte es noch reichere Leute als ihn geben, die hier aus purer Tragefaulheit ein paar Gramm loszuwerden suchten?
Aber im Ernst: Schon ein wenig ärgerlich, dass ich mich hier nicht unbeobachtet bedienen kann. Dabei würde ich mich nicht einmal als ungewöhnlich Geldgierig bezeichnen. Aber wenn es hier so offen herumliegt, ist mir, als fände ich es herrenlos auf der Straße. Als riefe es mir flehend entgegen: »Nimm mich mit! Ich gehöre niemandem!«
16:51
Wir erklimmen weiter den Berg, an den sich der Ort schmiegt, als der Blick auf unser nächstes Ziel frei wird: Eine Burg! Sofort bin ich hellwach und setze mich allmählich an die Spitze des Zuges.
16:54
Schon an der Kasse hinter dem Burgportal bin ich an jedem Detail interessiert. Deshalb falle ich nunmehr innerhalb der Gruppe auch immer weiter zurück. Diese urigen Wehrgänge, die Schießscharten, die ausgetretenen Stufen...!
An einer Stelle steht die Außenwand offen. Es ist eine Art Balkon ohne Geländer, jedoch rundum mit dicken, alten Gittern gesichert. Was für ein Ausblick! Auf allen Seiten geht es steil abwärts. In einiger Entfernung zieht sich unten ein ausgetrocknetes Flussbett entlang. Dahinter Hügel um Hügel, Berg um Berg. Und nirgends in dieser Richtung ein Haus, das einem die Illusion des Mittelalters nähme.
Kurz darauf huscht nur noch vereinzelt jemand an mir vorüber. Ich komme an eine hinabführende Abzweigung vom Wehrgang. Wo geht man nun lang, wenn man nichts verpassen will? Da steigt von unten Stefan herauf und berichtet mir, dass es unten eine Folterkammer zu besichtigen gibt. Da wollen wir doch mal kucken!
Unten ist niemand mehr. Eine ganze Weile betrachte ich eingehend die Instrumente, die selbst die eingefleischtesten SMler zum Schlottern bringen dürften. So erkenne ich einmal mehr: Die Menschen haben einen Schaden, und der ist durch das Christentum nicht besser geworden!
Nach Besichtigung auch der zweiten Kammer geht es nicht mehr weiter, also zurück!
17:19
Wo sind denn alle hin? Es mag schon eine Viertelstunde her sein, dass ich Annette und Tanja begegnete. Seitdem niemand mehr, nicht einmal ein Fremder. Doch das hält mich nicht davon ab, den gesamten Wehrgang abzuschreiten. Trotz meiner Höhenangst beuge ich mich über manche Zinne. Und stellenweise sind kopfgroße Löcher in den Boden gehauen, sicher um Regenwasser abfließen zu lassen, vielleicht auch, um ungebetene Gäste mittels kochenden Öls von einem Besuch abzuhalten. Jedenfalls bekommt man einen Eindruck, wie wenig Gestein und wie viel Luft unter einem liegen. Auch das hierdurch hervorgerufene mulmige Gefühl kann meine Begeisterung nicht trüben. Fast komme ich mir vor wie der Burgherr persönlich. In Höchststimmung stolziere ich weiter. So etwas wäre genau der richtige Alterssitz für mich! Was so ein Gemäuer wohl auf dem freien Markt kostet?
Tja, und auf diese Weise erkeimt und erblüht in mir der Traum von der Herdeburg. Klingt doch schön: Baron Diplomkaufmann (FH) Oliver Reimar Herbert von Herdeburg!
17:35
Ich habe zwar noch immer keinen Menschen mehr gesehen, aber warum sollte ich deswegen auf die Ausstellung verzichten? Es gibt Waffen, Möbel und Kleidungsstücke zu betrachten, sowie einige Portraits und andere Dinge, denen ich großzügig meine Zeit widme.
Als ich aber in einen Raum mit Wappen komme, erreicht mein Herzschlag einen neuen Höhepunkt. Ich bin nämlich nicht nur ein klitzebisschen größenwahnsinnig, ich interessiere mich nebenbei auch für Heraldik. Schon mein Urgroßvater ließ das Wappen eines entfernten Familienzweiges von einem Heraldiker für den unseren abändern. Und ich erstellte mir vor Jahren davon unabhängig ein persönliches. Jetzt ziert es unser Firmensignum. Schade nur, dass die Bemerkungen an den ausgestellten Wappen alle nur auf italienisch stehen.
Eine Museumsangestellte stört die Ruhe meiner Studien. Allerdings artikuliert sie sich auf jene mir unverständliche Weise. So unterhalten wir uns in unserer jeweiligen Muttersprache. Bald habe ich verstanden, dass sie demnächst schließen wollen. Kurz darauf versteht sie, dass ich den Rundgang noch beenden möchte. Und schließlich verstehe ich wiederum, dass sie die Tür am Ende des Rundganges bereits verrammelt hat, und ich dann auf gleichem Wege gehen soll, wie ich gekommen bin. Bei all dieser Verständigkeit nimmt es mich doch Wunder, wozu ich eigentlich Fremdsprachen lernen soll.
Nun, ich beeile mich aus Rücksichtnahme mit dem letzten Raum, und dann genieße ich die schnellen Schritte meines Rückweges. Endlich kann ich mal das Tempo bestimmen!
Von Ferne verabschiede ich mich winkend von der Aufsicht. Sonst sehe ich niemanden. Auch die Kasse am Eingang ist unbesetzt. Sind die anderen denn wirklich schon gegangen? Notfalls kann ich ja noch einmal zurückgehen. Hier ist niemand, mich daran zu hindern.
18:09
Am Fuße der Burg gerate ich für einem Moment ins Grübeln, aus welcher Gasse wir vorhin kamen. In so einer großen Gruppe achtet man nicht auf den Weg. Doch diesmal vertraue ich auf meinen intuitiven Orientierungssinn und stoße keine zwei Minuten später zu meiner Einheit. Die anderen Busse sind längst auf dem Heimweg.
Ich bemängele, man habe sich für dieses phantastische Gemäuer nicht genügend Zeit genommen. Man teilt meine Meinung. Den Professoren jedoch, so erfahre ich, habe es überhaupt nicht gefallen. Sie hätten sich nur darüber lustig gemacht und seien Desinteresse versprühend hindurchgerast.
Jedenfalls haben die anderen Dahlheim gefragt, ob sie noch mal nach Kastell l'Arquato fahren dürfen. Der Name sagt mir zunächst überhaupt nichts. Die Mädels klären mich darüber auf, dass wir da heute schon mal waren - da, wo dieses ach so wunderschöne Café gewesen sei. Es bedarf jedoch der Erwähnung des verschütteten Mineralwassers, um mich daran zu erinnern. Ob ich mit diesem Zwischenziel einverstanden sei oder unbedingt nach Hause wolle. Ja, was! Soll ich etwa als einziger dagegen sein? Noch dazu bei einer so nebensächlichen Frage, wo das Abendessen einzunehmen sei?
Als das geklärt ist, hat Steffi noch einen Wunsch: Sie möchte »ausnahmsweise« in der mittleren Reihe sitzen, weil sie befürchtet, ihr könne doch noch schlecht werden. So tauschen also die mittlere und die hintere Bank.
In der Gewissheit, mit der Burg den unüberbietbaren Programmhöhepunkt der Besichtigungen dieser Reise hinter mir gelassen zu haben, steige ich in den Bus.
18:25
Das Ortsschild saust vorbei. Da ich nun hinten sitze, muss ich mich noch mal danach umdrehen, um es lesen zu können: Bardi. Das muss ich mir merken!
18:27
B... Bali? Banani? »Wie hieß noch mal das Nest mit der Burg?«