Italienisches Tagebuch

von Oliver H. Herde

Einleitung

19.9.1995 - 17:43

Ich sitze in der Wanne und ärgere mich ein weiteres Mal darüber, auf der Italien-Exkursion nicht Tagebuch geführt zu haben. Dabei hatte ich doch sowieso schon seit längerem mit dem Gedanken gespielt, mir ein solches anzulegen. Sicher, die Idee wurde von mir mehr oder weniger endgültig verworfen. Für so abwechslungsreich halte ich meinen Lebenswandel nun gerade nicht, und schließlich schreibe ich derzeit bereits an vier Romanen gleichzeitig. Mehr als genug, selbst wenn man den seit Monaten brachliegenden Fantasy wieder abzieht.
Aber gerade da wäre doch so ein Reisebericht eine wirkliche Gelegenheit gewesen. Seit 11 Jahren war ich nicht über das Berliner Umland hinausgekommen. Seit gewiss 15 Jahren hatte ich nicht geduscht. - Haltet ein, ihr voreiligen Irrläufer! Ich habe natürlich gebadet! - Und seit wohl noch länger war ich nicht mehr schwimmen gewesen. Gründe genug, in dem, was kommen sollte, Besonderes zu erwarten.
Dass mich dennoch erst nach der Hälfte der Reise meine Tagebuch-Idee erhellte, mag darauf zurückzuführen sein, dass ich in Wirklichkeit gar nicht so richtig mitfahren wollte. Und erst nach eben dieser Hälfte damit zu beginnen, erschien mir doch sehr zu einem unbefriedigenden Ergebnis führen zu müssen. Als lese man die letzten Seiten eines zerrissenen Buches. Oder als stiege man eine Stunde zu spät in einen spannenden Film ein. Andererseits - habe ich letzteres nicht schon oft getan und trotzdem noch etwas davon gehabt?
So ärgerte ich mich also während des Restes der Reise, nicht früher auf die Idee gekommen zu sein, und hinterher, nicht zum Zeitpunkt der Idee begonnen zu haben. Ich fürchtete eben, nicht alles rekonstruieren zu können. Man hat es nicht leicht als Perfektionist.
Nun, das Leben steckt voller Fehlentscheidungen, und vielleicht ist dies ja wieder eine, aber es ist einfach zuviel Lustiges und zuviel Furchtbares passiert, was ich meinem späteren Ich - und kommenden Generationen - nicht vorenthalten möchte.
Morgen trifft sich zudem der Bus, wo ich vielleicht den Anfang zum Besten geben könnte. Auch wird man mir gewiss mit Fotos manche Erinnerung bescheren.
Nun also raus aus der Wanne - ich löse mich ohnehin gerade auf - und ran an den 5,9-Zentimeter-Bleistift!
Wie gesagt: Es handelt sich nur um eine Rekonstruktion ohne Anspruch auf Vollständigkeit und minutiöse Korrektheit. Mögen meine Leser folglich ebenso keinen solchen erheben!
Schnell noch die Musik von "Der Name der Rose" aufgelegt - passt genau zum Thema und ist sowieso gerade dran - und los geht's!
Hm. Aber womit fängt man an? Mit dem Anfang? Nein, das wäre zu einfach! Und ich würde die gesamte Vorgeschichte verschweigen, die zum Verständnis doch so viel beitragen kann. Spulen wir mein Hirn also noch ein wenig weiter zurück:
Den Plan, mal wieder zu verreisen, fasste ich im Frühjahr bei einem Blick ins Kommentierte Vorlesungsverzeichnis des Instituts. In den Ferien mal wieder was anderes sehen, als die Bibliothek und die Mensa. Leute kennenlernen. Würde bestimmt lustig werden. Und schon nicht allzu anstrengend. Die Fünfhundert würde ich mir schon mal ausnahmsweise leisten...
Meine Vorfreude wurde erschüttert noch bevor das Seminar begann. Als ich nämlich Professor Dahlheim auf dem Gang nach dem Reisetermin fragte, stellte ich fest, dass selbiger mitten in die Urlaubszeit meiner Schwester Stefanie fiel, mit der ich zusammen wohne. Das mag herzlos klingen, aber deshalb sei sie hier in dem Moment zitiert, als sie es erfuhr: »Da fährst du EINMAL weg, und dann bin ich auch nicht da!« Aber sonst verstehen wir uns den Umständen entsprechend.
Weitere Erschütterungen meines Reisewillens blieben nicht aus: Ich kannte kaum jemanden in dem Kurs näher. Überhaupt waren meine Erwartungen an ein Gewimmel von Traumfrauen sicherlich etwas hoch gegriffen. Na ja - wer passt schon zu seiner Traumfrau? Das Reiseziel war auch nicht Rom, wie ich mir zusammenphantasiert hatte, weil mein dritter Band auch da spielt. Und es ging nicht um alte, sondern mittelalterliche Geschichte. Kirchenkunstgeschichte! Das einem Atheisten ohne jegliches namhaftes Kunstinteresse! Schließlich noch der Preis: 750,- DM ohne Verpflegung! Und von den drei Jobs, auf die ich mich bewarb, bekam ich vorerst genau keinen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich steigerte mich in eine Reiseunlust, während meine Umwelt mir immer engagierter zuredete. »Du musst mal raus aus Berlin! Du brauchst Abwechslung! Wie kann man es so lange ohne zu verreisen aushalten! Rhabarberrhabarberablabla!«
Was schließlich fruchtete, war eine klare Serie von Bestechungsversuchen: Fast 800,- DM von Mutter, Vater und Oma.
Überzeugen konnte mich das nicht wirklich. Es ließ mich lediglich tun, was ich häufig tue: Abwarten, bis es soweit ist.
Trotz meiner eher sporadisch aktiven Beteiligung im Seminar gehörte ich anscheinend von Anfang an zu Dahlheims Auserwählten. Indes hielt sich meine Begeisterung hierüber ebenso in Grenzen, wie - zu meiner späteren Überraschung - bei vielen anderen Teilnehmern auch. Allgemeines Reisefieber! Was es nicht alles gibt! Und zudem wohl der eine oder andere Grund aus meiner Liste...
Als wäre dem noch nicht genug, schüttete man mich auch noch mit Ratschlägen zu, was ich alles mitzunehmen hätte. An die zehn Frauen allein behaupteten, Italien ohne Sonnencreme sei unvernünftig. Dabei hatte ich doch schon als Aufsicht im Museumsdorf Düppel beschlossen, dass meine Elfen keinen Sonnenbrand bekommen.
Ich blieb mir also weitgehend treu und packte im Ergebnis einen kleineren Koffer, als von mir selbst geplant. Was soll man denn auch unterwegs mehr brauchen, als zu Hause?
Am Vorabend also stellte ich meinen Armbanduhr-ohne-Armband-Wecker auf 5:20 Uhr. Schon wieder etwas, das ich seit weit über zehn Jahren nicht getan hatte!

Zum ersten Tag


Das Italienische Tagebuch
ist auch als E-Buch bei Tolino erschienen,
erhältlich zum Beispiel bei
Thalia, Weltbild und Hugendubel.

© Oliver H. Herde
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