Notizen aus der Provinz

Neunter Tag

Immer wieder hat Conny von der Bastei bei Rathen gesprochen und mir Bilder gezeigt. Über deren Namensherkunft und den ursprünglichen Zweck der Brücke kann ich nur wild spekulieren. Heutzutage jedenfalls dient sie anscheinend hauptsächlich dem Tourismus, weswegen sie mich gar nicht so sehr reizt. Conny dagegen wäre wohl unbefriedigt, ließe sie diesen offenbar bekanntesten Ort der Gegend - vielleicht mit Ausnahme der Burg Königstein - auf ihrer Reise aus. Drum soll unser letzter Tag vor der Abreise diesem Ziel dienen.
Erneut müssen wir den Weg gen Königstein zu Fuß zurücklegen - vorüber an den Himbeeren, für welche Conny heute nicht viel Zeit einzuräumen bereit ist - und dort auf den öffentlichen Nahverkehr, diesmal in Gestalt der S-Bahn, zurückgreifen. In Rathen wiederum haben wir mit der bekannten Treibfähre überzusetzen.
Im Ort kauft Conny Briefmarken, um die vorbereiteten Postkarten immerhin nicht erst von Berlin aus zu versenden. Über den späten Zeitpunkt darf ich eigentlich nicht lästern, da ich meine letzte Reisepostkarte 1995 unserer Zeitrechnung auf meiner ersten Italien-Exkursion schrieb, und dies im Grunde auch nur, weil ich die Karte damals geschenkt bekam.* Vierzig Cent pro Marke erscheinen mir vergleichsweise niedrig, allerdings gibt es hierfür eine ganz einfache Erklärung: Wir haben es nicht mir dem staatlichen, sondern einem privaten Postdienst zu tun. Direkt am Kiosk gibt es dann auch den zugehörigen roten Briefkasten in etwas größerem Schuhkartonformat.
Auch ob des schönen Wetters ist viel besichtigungsentschlossenes Volk unterwegs. Wir strömen mehr oder weniger mit und den Hang hinauf, was physikalisch schwer zu erklären sein dürfte. Die üblichen steilen Treppen sorgen dafür, dass ich bald einmal mehr auch Connys Rucksack übernehme. Da ich eh schon eineinhalb Liter Wasser und kleineres Zubehör mit mir führe, ist der Unterschied gar nicht mal so erheblich.
Wir passieren einen Musikanten, der hier alte deutsche Weisen in den Wald hinein spielt. Nicht unpassend, dafür geschäftstüchtig, wie ich gestehen muss. Von uns bekommt er trotzdem nichts.
Auf einer Art natürlichem Treppenabsatz braucht Conny eine weitere Verschnaufpause, womit sie nicht allein ist. Auch einigen teils viel jüngeren Leuten ist die Puste ausgegangen, woraufhin ich amüsiert in die Runde werfe: "Tja, ihr wohnt alle nicht im vierten Stock!"
Die Vorhut einer Schulklasse, welche mir unten schon aufgefallen ist, holt uns ein. Derweil Conny die vielen Menschen eher stören, erfreue ich mich daran, die vielleicht Fünfzehnjährigen zu beobachten und ihre kuriosen Gespräche zu verfolgen.
Noch weiter oben wird es immer felsiger und damit auch lichter. Die mittlerweile zur lieben Gewohnheit gewordenen Naturwunder werden durch das Getümmel ein wenig geschmälert, bleiben jedoch unübersehbar. Weit unter uns liegt überall Gegend herum, und mittendrin schlängelt die Elbe einher, was uns abermals einige Fotos wert ist.
Irgendwo passieren wir den Eingang zu etwas, das Geld kostet und mich dadurch nicht weiter interessiert. Bei Conny hingegen ist die Neugier geweckt. Dennoch gehen wir erst einmal weiter und erreichen kurz darauf die Brücke der Bastei, übersät von Menschen. Noch weiter oben finden wir den Aussichtspunkt, von welchem aus wohl auch die Bilder des Bauwerks für Prospekte und Wanderbilder geschossen wurden. Nun habe ich auch eigene, aber Fotos von Bäumen in Draufsicht sind mal was anderes und davon abgesehen friedlicher und irgendwie... grüner.
In Conny rumort es noch wegen jenem, welches vorhin Eintritt verlangte, also wenden wir uns noch einmal zurück. Sie will mich sogar einladen, aber eigentlich macht es mir das dadurch nicht leichter, denn es trifft mich ebenso hart, wenn sie ihr Geld ausgibt. Weil es ihr aber nur einmal so viel bedeutet, gehen wir hinein - auch wenn wir streng genommen auch hinter den Absperrungen an der frischen Luft bleiben.
Erst drinnen - oder drüben - bekomme ich langsam eine Vorstellung, wo wir uns eigentlich befinden, obwohl Conny schon zuvor den Begriff 'Felsenburg' erwähnt hat: Es handelt sich um die Überreste einer alten Befestigungsanlage. Leider wird nicht recht ersichtlich, wer und wann hier eigentlich dereinst auf engstem Raum in schwindelnder Höhe gelebt hat. Möglicherweise wissen dies die Betreiber ja selbst nicht so genau.
Zwischendurch überkommt Conny wieder furchtbare Furcht - um das Smartfon.
Zurück im freien Freien, geht es wieder über die Brücke weiter hinauf zur Krönung all dessen hier: zu einer Ansammlung von Wirtshäusern und Ständen. Hier gibt es auch wieder einmal Gelegenheit, gegen Gebühr seine Notdurft zu verrichten, was ich mir verkneife.
Auf der Suche nach einem Eis für Conny irren wir zwischen den Gebäuden umher, fragen Menschen, warten auf abwesende Tresenwesen, und doch stoßen wir immer wieder nur auf jenes sprühhahngeborene Weicheis, dessen weitverbreiteter Anglizismus allein schon eine geringe Qualität befürchten lässt. Irgendwann wird Conny in ihrer hilflosen Verzweiflung gar gegenüber einer Bedienung etwas lauter. Ich springe schlichtend ein, aber auch unsere neueste Wegbeschreibung führt zu keinem Ziel. Conny gibt es auf und kauft an dem Weicheisstand, den wir zuvor als allerersten passierten, ihre Eismatsche, mit welcher sie dann auch nicht wirklich zufrieden wird.
Wieder abseits der Konsumtempel, schlage ich mich kurz ins Buschwerk. Die Einheimischen sind ja selbst schuld, wenn sie ihre Geldgier derart schamlos ausleben.
Auf dem Rückweg hinab nach Rathen möchte Conny den Amselsee sehen, was uns eher zufällig in den hiesigen Nationalpark führt. Durch ein unaufdringliches Schild werden wir gebeten, die Wege nicht zu verlassen. Kostenfreie Toiletten könnten dem gewiss etwas mehr Nachdruck verleihen. Allerdings führt der Pfad bald zwischen Felsen entlang, wo es eh wenig Möglichkeit, von ihm ohne Kletterei abzuweichen.
Alles hier ist herrlich grün, selbst das Gestein und tote Bäume durch Moosbewuchs. Es besteht eine ungemein beruhigende und entspannende Stimmung. Leider hat es Conny zeitweilig etwas eilig, zwei fachsimpelnden Damen und einem Herren zu entkommen, aber dann lässt es sich wieder genießen.
Nach einem Weilchen queren wir den Amselgrundbach, welchem wir hinauf folgen, obgleich See und Ortschaft unterhalb liegen. Grund hierfür ist der kleine Wasserfall, vor welchem der Weg endet. Wieder gibt es Gastronomie, doch diesmal beschaulicher und weniger zudringlich in die natürliche Umgebung eingefügt. Hier gönnt sich Conny Cola und mal wieder Kuchen. Im Anschluss entdecken wir bei den Toiletten noch einen zweiten Wassersturz unterhalb des ersten - kleiner, doch um so tosender.
Schließlich geht es dem Gewässer folgend ganz gemütlich wieder hinunter und folgend zum langgezogenen Amselsee, zur Linken wie zur Rechten das zugehörige Ur-Laub. Ich filme kleine Entchen und eine größere Ansammlung Fische. In einem Schaukasten wird mittels einiger Spielzeugfiguren das Wirken der Bergleute dargestellt. Etwas weiter unten grüßt uns vom anderen Ufer her Käpt'n Blaubär - nicht von Pappe, aber vermutlich aus Holz.
Damit haben wir wohl auch wieder Rathen erreicht. Am Bahnhof angekommen, stellen wir ob meines Harndranges erleichtert fest, dass der Zug nicht lange auf sich warten lässt. In der Aufregung vergessen wir, unsere Sammelfahrkarte abzustempeln. Als wir es bemerken, empfinden wir dies als gerechtfertigt. Die VVO hat mehr als genug an unseren meist nur eine einzige Station beinhaltenden Kurzfahrten verdient! Die gesparten beiden Fahrten können wir gut morgen für die Heimfahrt verbrauchen.

Zum letzten Tag


*) vgl. Italienisches Tagebuch: 1. Tag 15:07, 3. Tag 19:56 und 5. Tag 19:05
Tagebuchübersicht / Kurzgeschichtenseite / Bibliographie Oliver H. Herde

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