Carola und der blaue Stier

von Paul Filipp

Carola Merten wurde an diesem Morgen drei Minuten vor sechs Uhr wach. Nach einem kurzen Blick auf die Zeit blieb sie still liegen und lauschte angestrengt. Ihr Gehör wurde immer schlechter. Würde sie die Turmuhr der nahen Kirche schlagen hören? Früher war der mächtige dunkle Ton bei offenem Fenster so laut zu ihr gekommen, dass sie manchmal wach davon wurde. Gestern war es ihr zum ersten Mal bewußt geworden, dass sie ihn kaum noch wahrnahm. Immerhin - sie hatte ihn gehört! Oder war das nur Einbildung gewesen? Sie war sich nicht ganz sicher. Heute wollte sie nicht auf das Zifferblatt der Uhr starren, sondern mit geschlossenen Augen lauschen, bis sie die sechs Schläge ganz deutlich hörte. Danach wollte sie aufstehen und gleich nach dem Frühstück die Tischdecke waschen. Sie war heute ganz allein im Haus.
Ihr Flurnachbar, der einzige Mitbewohner des Hauses, ein alter Engländer, war verreist. Für drei bis vier Tage hatte er gestern zu ihr gesagt. Er war immer sehr ungehalten, wenn sie etwas vor die Tür ihrer zu kleinen Wohnung stellte oder gar über das Treppengeländer hängte. Das war zu verstehen. Schön sah es schließlich nicht aus. Aber was blieb ihr anderes übrig! Ein Raum von knapp zwölf Quadratmetern mit einer winzigen Küche, in der man sich kaum umdrehen konnte, und einem fast noch kleineren Bad reichte eben manchmal nicht. Ab und zu musste die Tischdecke oder irgendeine andere Kleinigkeit gewaschen werden. Er sollte sich nur nicht so haben! Weit schlimmer war es, dass er bei diesen unsicheren Zeiten immer wieder die Tür zum Garten nicht abschloss, die sie fast gar nicht benutzte.
Sie machte sich von ihren Gedanken frei und lauschte mit angehaltenem Atem. Sie hörte nichts. Beunruhigt öffnete sie die Augen und sah nach der Uhr. Die zeigte bereits fünf Minuten nach sechs. Sie hatte trotz aller Mühe nichts gehört. Es war also gestern eine Täuschung gewesen, weil sie dauernd auf den Sekundenzeiger gestarrt hatte!
Sie kam sich plötzlich grenzenlos verlassen vor. Was sollte aus ihr werden? Eine gealterte Schauspielerin, die langsam aber unaufhaltsam taub wurde! Wenn doch Karl noch da wäre! Wenn er jetzt seinen Arm um sie legen würde, wie er es jeden Morgen nach dem Wachwerden getan hatte, und sagen würde: »Lass mal, Kleine! Ich bin ja auch noch da!«
Wie oft hatte sie sich über diesen Satz geärgert! Sie hatte ihn so dumm gefunden - damals, als er noch so selbstverständlich um sie war. Sie war schon eine bekannte Schauspielerin, nach der sich die Leute auf der Straße umsahen. Er war Masseur. Eigentlich etwas mehr, denn er machte Heilmassagen auf eine eigene Art in Zusammenarbeit mit einigen Ärzten. Er konnte manchen Menschen sehr helfen. Immerhin - welch ein Unterschied zwischen ihren Berufen! Wie überheblich fand sie diesen dummen Satz: ›Ich bin ja auch noch da!‹ den er an guten und schlechten Tagen anwandte und manchmal nur anders betonte.
Was wußte er von ihren Sorgen! Vieles an ihm hatte sie schon nach den ersten Wochen ihrer Ehe gestört. Sein immer gleichmäßig ruhiges Wesen war ihr oft unerträglich gewesen, wenn sie überreizt aus dem Atelier kam. Manchmal hatte er etwas für sie zubereitet, was sie sonst auch gern aß, sichtlich mit viel Mühe, aber an diesem Abend wollte sie es nicht. Es war ihr schon zuviel, nur den gedeckten Tisch ansehen zu müssen, über den sie sich heute freuen würde. Sie gab gereizte Antworten, die sie eigentlich gar nicht geben wollte. Warum verstand er denn nicht, dass sie ihn manchmal einfach nicht ertragen konnte!
Als er dann begriff, wie überflüssig er geworden war, wie unnütz all seine Mühe, hatte er plötzlich traurige Augen, ging ohne ein Wort aus dem Zimmer, saß auf dem Balkon und sah still auf die Bäume vor dem Haus, an seiner kalten Pfeife kauend. In der ersten Zeit tat ihr ihr Benehmen leid. Ihre Stimmung schlug jählings um. Sie konnte sich selbst nicht verstehen und ging ihm nach, um sich zu entschuldigen. Sie strich ihm über das blonde Haar, war plötzlich wieder verliebt in seine etwas starke männliche Nase und in seine hellen Augen. Er war nie nachtragend, blieb aber still an solchen Abenden, lachte nicht so unbefangen wie sonst und sah sie ab und zu mit einem ruhigen fragenden Blick an, als wolle er ausloten, wie weit sie bereits von ihm weg war. In dieser etwas seltsamen Verschlossenheit erschien er ihr auf einmal wieder so unwiderstehlich und begehrenswert wie an jenem ersten Abend, als er ihr im Operncafé gegenübersaß, von einer Kollegin vorgestellt, die er nach einem Unfall massierte und die sich vergeblich bemüht hatte, ihn aus seiner unbeteiligten Ruhe zu bringen. »Es ist fast so, als ob er sich gar nichts aus Frauen machte«, sagte die ihr einige Tage später mit einem anzüglichen Lächeln, aber da wußte sie bereits sehr genau, dass das nicht der Fall war. Ihr wurde erst jetzt klar, wie befremdet er damals sicher über ihr zu deutliches Entgegenkommen war, das er dann aber mit der Bereitwilligkeit eines Mannes erwiderte, der sich im ersten Augenblick verliebt hatte.
Ihre Verbindung blieb lange ihr Geheimnis. Die ganz verschiedenen Berufswelten begünstigten das. So glücklich sie damals auch war, hatte sie doch nie das Bedürfnis, mit anderen darüber sprechen zu müssen. Es gab zu dieser Zeit auch niemanden, der ein Recht gehabt hätte, unangemeldet zu ihr zu kommen. Jetzt wurde ihr nachträglich auch klar, dass es ihr damals durchaus recht war, ihn vor der Umwelt verborgen zu halten, weil er so gar nicht zu den Menschen paßte, mit denen sie den ganzen Tag zusammen war. Hatte sie sich seiner geschämt? Sie wies den Gedanken von sich, aber es blieb ein Zweifel. Es gab ihrer Meinung nach nichts Glänzendes an ihm, das sie den anderen hätte vorführen könne.
Menschliche Anständigkeit zählt erst dann, wenn man sie braucht. Man kann sie nicht vorzeigen wie Ruhm und Geld, obgleich sie sicher wertvoller ist. Das begriff sie erst, als es zu spät war. Sie hatte vorher einige mehr oder weniger lange Verhältnisse gehabt, aber es war nie eine wirkliche gegenseitige Bindung daraus geworden. Am nächsten Morgen schon war ihr Blick zu kritisch und so verlief wieder alles im Sand, anstatt Wurzeln zu schlagen.
Sie heirateten heimlich und noch nach Jahren wußten nur die Kassiererinnen der Firmen, bei denen sie arbeitete, dass sie laut Standesamtsregister Karola Borgmann hieß, mit K wohlgemerkt. So stand es auf ihrer Steuerkarte. Damals kaufte sie auch ihren ersten Wagen, obgleich man sie jeden Morgen abholte, wenn sie drehte. An sonnigen Wochenenden fuhren sie in die Umgebung von Berlin nach Erker oder bis Teupitz. An regnerischen Sonntagen blieben sie oft im Bett und standen nur zu den Mahlzeiten auf. Eigentlich hätte ihr schon damals auffallen müssen, wie hektisch und überschwenglich ihre Liebe war und wie ruhig die seine. Er lag nachher manchmal neben ihr, glücklich, aber trotzdem in sich zurückgezogen und nachdenklich. Ob er sich da schon Gedanken darüber machte, ob das, was ihn eben beglückt hatte, auf die Dauer unverändert bleiben würde? Vielleicht sah er auch ihre Wandlung voraus, die ja nicht ausbleiben konnte. Sie sah seine hellen Augen wieder vor sich, die wie ein von Wolken beschatteter See aussahen. Was sie nicht wußte, war, dass er sich in solchen Stunden entschloss, bei ihr zu bleiben, auch wenn sich alles verändern sollte.
Die Wandlung kam dann ganz plötzlich bei ihr. Und nur bei ihr. Sie ertappte sich auf der Heimfahrt bei dem Wunsch, dass er nicht zu Hause sein möge. Dass sie wie früher in eine leere und stille Wohnung kommen könnte. Dass sie selbst die Lampen anschalten könnte - eine nach der anderen. Dass sie das Radio andrehen und warten könnte, bis die Musik anschwoll, um dann die richtige Lautstärke einzustellen. Dass sie sich, leise mitsummend, etwas aus dem Kühlschrank holen könnte, um es auf dem Balkon zu essen - im Stehen vielleicht - oder an dem kleinen Couchtisch, der zu niedrig war, so dass sie den Teller meistens in der Hand halten musste. Und dann allein zu sein - den ganzen Abend - und allein einzuschlafen.
Aber sie wusste genau, die Lampen brannten schon. Der Tisch war gedeckt. Es standen Blumen darauf. Er wartete auf sie, wie früher ihre Mutter auf sie gewartet hatte, wenn sie einmal später aus dem Theater kam. Deshalb hauptsächlich war sie von zu Hause weggegangen, wie täglich tausend junge Menschen deswegen von zu Hause weggehen.
Sie dachte nie daran, dass er einen Arbeitstag hinter sich hatte, der vielleicht manchmal schwerer war als der ihre, mit Patienten, die eine Krankheit launisch gemacht hatte, dass er manchmal auch seelisch bewegt war von Ereignissen, die er ihr nicht sagte, um ihr Unruhe zu ersparen, oder weil er ahnte, wie gleichgültig ihr seine Sorgen waren.
Aber wenn er ihr Abends entgegenkam und sie nur kurz in die Arme nahm, weil er fühlte, dass sie sich dagegen stemmte, lächelten seine Augen trotzdem glücklich darüber, sie nach so vielen Stunden wiederzusehen, und er war bereit, für ihre schlechte Stimmung immer wieder neue Entschuldigungen zu finden. Wie egoistisch sie doch immer gewesen war! Sie konnte jetzt gar nicht mehr verstehen, wie sie es fertiggebracht hatte, nie danach zu fragen, wie sein Tag verlaufen war. Es war halt so selbstverständlich, dass er nur für sie da war - zu selbstverständlich! Nur ihr Beruf zählte! Was für unwichtige Dinge hatte sie doch für wichtig gehalten! Die augenblickliche Rolle und die nächste und den üblichen Atelierklatsch, zu dem er nie Stellung nahm. Was war davon geblieben? Sie sah sich nun manchmal in einem kleinen Kino in der Nähe alte Filme an, in denen sie gespielt hatte. Nur die Kassiererin erkannte sie noch. Wie dünn das doch alles war, was da oben auf der Leinwand vor sich ging, und wie verlogen! Und dafür hatte sie einen Menschen beiseitegeschoben, der nur für sie lebte? Bestürzt saß sie im Dunkel und sah nur noch vorüberhuschende Lichtflecke mit ihren feuchten Augen. Sie begriff zu spät, dass er in dieser für ihn schweren Zeit eine Aufgabe darin gesehen hatte, unbeirrt zu ihr zu halten, weil er erkannt hatte, wie sehr sie in einer Welt des Scheins lebte, von der er fürchtete, dass sie sie eines Tages in die Wirklichkeit zurückstoßen würde, wenn ihre Zeit des Erfolges vorbei war. Was er nicht wußte, war, dass er dann nicht mehr ›im Fleische wandeln‹ würde, wie die Bibel sagt. Eigentlich konnte sie sich nur darüber wundern, dass er diese kleine oberflächliche Person liebte, die sie damals war. Dass er sie so liebte, um den Kern in ihr zu ahnen, der ganz anders war als die Schale, und auf seine Entfaltung zu warten, die erst jetzt kam. Ganz vergebens hatte er nicht gewartet. Als er unvermittelt erkrankte, setzte ihre zweite Wandlung ein - noch nicht ganz zu spät. Unvermutet? Für sie wurde er unvermutet krank. Er selbst mußte es längst gewußt haben. Sie war damals zu Tode erschrocken, wie man so sagt, als sie hörte, dass er schon Monatelang vorher in einem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt - nicht in dem, in dem er arbeitete - sich einer Untersuchung unterzogen hatte. Er hatte geduldig im Wartezimmer gesessen, mit einer Zeitung, ohne zu lesen, während sie eine ihrer Rollen spielte. Die Schwester, die ihn aufrief, hatte ihn wahrscheinlich etwas aufmerksamer angesehen als die anderen Patienten, denn er sah noch immer gut aus, obgleich er hagerer geworden war und etwas gebückt ging. Ihr hatte er gesagt, dass er eine Abmagerungskur mache, und sie hatte kaum richtig hingehört. Wie schmerzlich mußte diese Nichtachtung für ihn gewesen sein, der in ihrem Gesicht die geringste Veränderung sofort bemerkte, weil es eben für ihn nur ein Gesicht gab. Wenn sie Außenaufnahmen hatte und ihn abends anrief, erkannte er sofort am Klang ihrer Stimme, ob sie sich über irgend etwas geärgert hatte. Und als sie später nicht mehr anrief, weil ihr seine Fürsorge lästig wurde, rief er an - jeden Abend - zehn Jahre lang. Solange sie ihm den Wagen ließ, kam er über das Wochenende zu ihr, wenn der Drehort irgendwie zu erreichen war. Er fuhr stundenlang, müde von der Arbeit - aber er fuhr. Und da ihm die Trennung von ihr auch nach Jahren noch schwerfiel, fuhr er meistens erst am Montag Morgen zurück, wenn es draußen noch dunkel war, manchmal auf Glatteis, manchmal bei dichtem Regen, der die Konturen des Weges verwischte. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie schwer nach diesen Fahrten der Arbeitstag für ihn sein mußte. Wenn er am Abend anrief, war sie unfreundlich und schützte Müdigkeit oder Kopfschmerzen vor, um das Gespräch kurz zu halten. Nach seinem Tode erst erfuhr sie, dass er einige Male knapp schweren Unfällen entgangen war.
Sie hatte ihn nie betrogen, aber sie hatte ihn oft allein gelassen. Das gestand sie sich jetzt ein. Sie hatte versagt. Nicht so sehr als Frau vielleicht, aber ganz sicher als Lebensgefährtin. Viel einsamer war er oft gewesen, als sie jetzt, in ihrer wattigen Stille, denn sie hatte die Erinnerung.
Sein Ende kam sehr schnell, und sie war nicht bei ihm. Sie war zu einer Besprechung im Theater wegen einer neuen Rolle, an der ihr viel lag. Sie hatte ihn natürlich gefragt, ob sie gehen solle, und er hatte sie ebenso natürlich weggeschickt, weil er sie kannte, mit einem matten Lächeln, mit einem leisen Händedruck, der der letzte war.
Sie hatte sich wirklich beeilt, aber er war bereits tot, als sie zurückkam - allein gestorben, wie er an ihrer Seite oft allein gewesen war. Aus der Rolle wurde dann nichts. Sie nahm zum ersten Mal in ihrem Leben eine Enttäuschung mit einer gewissen inneren Befriedigung auf, als wäre das ein Ausgleich für ihr Versagen. Er wurde dadurch nicht wieder lebendig. Am nächsten Tage fiel es ihr beim Kaufmann an der Ecke zum ersten Mal auf, dass sie schlecht hörte. Sie verstand die Worte nicht ganz, mit denen man ihr das Beileid ausdrückte. Sie schob es auf ihre gedrückte Stimmung, aber es wurde danach immer schlechter.

Sie verließ ihr Bett, zog sich den Morgenrock über und ging in die Küche. Während sie einen starken Kaffee trank, fielen die schweren Gedanken etwas von ihr ab. Es hatte auch seine Vorteile, wenn man nicht mehr gut hörte. Da die Leute sich bemühen mußten, etwas lauter zu ihr zu sprechen, sagten sie nur das, was wirklich wichtig war. Das empfand sie als wohltuend. Und die Regisseure sprachen sowieso laut, wenn sie aus dem dunklen Zuschauerraum ihre Anweisungen zur Bühne heraufriefen. Die verstand sie noch sehr gut. Bei den Kollegen auf der Bühne gewöhnte sie sich daran, auf die Bewegungen der Lippen zu achten, und auch aus der Mimik auf Worte zu schließen. Das ging ganz gut und wurde von Abend zu Abend besser. Nur wenn sie hinter den Kulissen stand und auf ihr Stichwort wartete, wurde sie manchmal ängstlich und fürchtete, ihren Auftritt zu versäumen, denn nicht immer konnte sie so stehen, dass sie das Geschehen auf der Bühne verfolgen konnte. Wenn sie hinter geschlossenen Türen warten mußte, um sie dann rasch zu öffnen und herauszugehen, überfiel sie manchmal eine Panikstimmung.
Eines Tages merkte sie, dass ein Feuerwehrmann, der hinter der Kulisse seinen Dienst tat, sie beobachtete, wie sie in der für Schwerhörige typischen Stellung hinter ihrer Tür stand, etwas vorgebeugt und die rechte Hand hinter dem Ohr, um den Schall besser auffangen zu können. Das war ihr peinlich. Sie nahm die Hand weg und richtete sich auf. Fast hätte sie dadurch ihren Auftritt verpaßt, wenn sie nicht bemerkt hätte, dass der Mann ihr aufgeregt ein Zeichen gab, dass sie hinaus mußte. Sie öffnete etwas verwirrt die Tür und ging hinaus auf die Bühne. Auf den Gesichtern ihrer Partner lag eine leichte Unruhe, die ihr zeigte, dass sie etwas zu spät kam. Aber sie konnte das mühelos mit einer kleinen Bewegung abfangen und nahm sich vor, nach dem Akt zu sagen, dass in letzter Sekunde etwas an ihrem Kostüm nicht in Ordnung gewesen wäre. Aber niemand kam darauf zurück.
Als sie am nächsten Abend wieder hinter der Tür stand, sah sie denselben Feuerwehrmann, der jetzt etwas näher stand und ihr zunickte. Sie lächelte und merkte, dass es ein dankbares Lächeln war. Da gab er ihr auch schon ein ganz deutliches Zeichen, mit der Hand. Sie trat sofort auf. Diesmal kam sie richtig heraus und war für den ganzen Abend mit einer Sicherheit erfüllt, die sie selbst überraschte.
Nach der Vorstellung ging sie noch kurz in die Kantine, um sich Zigaretten zu holen. Der Feuerwehrmann stand an der Theke, ein kleines Bier in der Hand. Sie ging zu ihm, gab ihm die Hand und bedankte sich. Er war etwas verlegen, sagte, dass er schon dreißig Jahre beim Theater wäre und sie oft gesehen hätte - von oben, denn da war er noch Beleuchter. Jetzt ginge das nicht mehr wegen des Kreislaufs. Seine Frau wäre schwerhörig. Dann schwieg er etwas verwirrt. Ein Bühnenarbeiter kam vorbei und grüßte ihn mit einem »N'Abend, Karl!« Seither nannte sie ihn bei sich Karl II.
Sie sprachen später nie mehr miteinander, als wüßten sie, dass Worte ihre Freundschaft nur gefährden könnten. Er stand aber jeden Abend irgendwo in ihrer Nähe, stets so, dass es keinem auffiel. Sie bemerkte, dass er alle ihre Auftritte kannte, auch in neuen Inszenierungen, und dass sie sich auf sein Zeichen - jetzt war es oft ein unauffälliges Kopfnicken - verlassen konnte. Einmal nur gab es eine kleine Panne.
Sie übersah an diesem Abend, dass ihr Freund mit einem Niesreiz zu kämpfen hatte. Um nicht herauszuplatzen, machte er in seiner Bedrängnis eine Kopfbewegung, die sie als ihr Zeichen nahm, obgleich sie das Gefühl hatte, dass es noch zu früh sein müßte. Sie trat auf und merkte an den verdutzten Gesichtern der anderen Schauspieler, dass sie wirklich viel zu früh war. Sie blieb vollkommen ruhig. Vor ihr auf dem Stuhl lag ein Staubtuch, das man vergessen hatte. Sie spielte ein Dienstmädchen und konnte es aufnehmen und wieder damit abgehen, als wenn sie es vorher vergessen hätte. Sie brabbelte dabei etwas vor sich hin und machte eine kleine Nummer daraus, die Gelächter hervorrief. Am nächsten Abend bat man sie vor der Vorstellung, diesen kleinen Noteinfall von jetzt ab zu wiederholen. Jedesmal gab es Gelächter, das sie und noch mehr ihren Freund tröstete, der ihr jetzt auch noch das Zeichen für diesen Auftritt gab. Das vertiefte ihre stumme Freundschaft noch mehr.

Sie trank ihren Kaffee aus und betrachtete die Tischdecke kritisch. Es waren große Flecke darauf. Sie wußte nicht mehr wovon. Es war eine blaue Decke aus einer dieser Kunstfasern, die man leicht waschen kann. ›In handwarmem Wasser nur leicht ausdrücken, nicht wringen und tropfnaß aufhängen! Gar nicht oder nur leicht Bügeln!‹ stand in der Gebrauchsanweisung, die sie aufgehoben hatte und nun nochmals genau durchlas. Man würde sehen, ob das stimmte. Etwas bügeln würde sie schon. Sie liebte glatte Decken. Sie nahm die Decke vom Tisch und ging hinüber in das winzige Badezimmer, in dem man sich kaum umdrehen konnte. Was sich die Architekten, die so etwas bauten, nur dabei gedacht hatten! Sie gab etwas Waschmittel in das ebenfalls zu kleine Becken und drückte die Decke leicht aus. Die Flecke gingen raus. Sie ließ sie noch etwas im warmen Wasser liegen und ging zurück zur Küche, um nach dem Bügeleisen zu suchen. Sie hatte es lange nicht gebraucht. Die Wäscherei lieferte die großen Stücke schrankfertig. Aus dem Alter für Spitzenblusen war sie heraus. Sie hatte sie ohnehin nie gemocht. Ihrer Meinung nach war sie nicht der Typ dafür. Das schien zu stimmen, den auch die Kostümbildnerinnen, die sie für ihre Film- und Theaterrollen anzogen, hatten sie damit verschont.
Die stieg auf einen Stuhl und fand das Eisen ganz oben im Kühlschrank. Wo war nur die Schnur? Sie mußte unbedingt einmal alle Schubladen aufräumen! Sie fand ja nichts mehr! Überhaupt - sie hätte nach Karls Tod die große Wohnung nicht gleich aufgeben sollen, in der alles viel bequemer war. Seinen Erinnerungen konnte man doch nicht entfliehen.
Sie fand die Schnur. Sie sah etwas brüchig aus. Sie schloß sie probeweise an. Als sie fühlen wollte, ob das Eisen heiß wurde, und es mit dem angefeuchteten Zeigefinger berührte, erhielt sie einen leichten Schlag. Sie zuckte zurück und zog den Stecker aus der Dose. Dass sie jetzt zu jeder kleinen Reparatur die Brille brauchte! Sie holte sie und auch einen Schraubenzieher, mit dem sie den Stecker öffnete. Das hatte Karl ihr einmal gezeigt, als sie sich von ihm noch etwas zeigen ließ, ohne gleich ungeduldig zu werden. Früher waren es doch nur zwei Kontakte gewesen, wie sie sich zu erinnern glaubte. Hier gab es drei. Sie schraubte zunächst einmal alle los. Zu spät fiel ihr ein, dass sie sich die Reihenfolge hätte merken müssen, denn da gab es auch drei Farben an den Drähten - rot, grau und schwarz. Rot war ganz sicher wichtig und schwarz wohl auch. Was konnte schon geschehen, wenn sie sich irrte? Kaum mehr, als dass eine Sicherung durchbrannte. Sie schnitt ein Stück der Schnur ab, das gebrochen schien, und schabte die Drähte mit einem kleinen Messer blank. Dann schraubte sie sie wieder an - schwarz rot und grau.
Eine Wolldecke brauchte sie noch als Unterlage zum Bügeln. Sie holte sie und stellte ein großes Glas Wasser bereit, um die Decke notfalls etwas einsprengen zu können. Dann schloß sie das Eisen nochmals probeweise an. Diesmal berührte sie es nur ganz vorsichtig mit der äußersten Fingerspitze, die sie nicht wieder naßgemacht hatte. Sie erhielt sofort einen Schlag, der viel stärker war als der erste und sie fast umwarf. Da schrillte das Telefon in ihren Schreck hinein. Sie lief ins Zimmer hinüber. Immer beeilte sie sich, wenn das Telefon läutete, dabei war es jetzt doch meistens eine Fehlverbindung. Aber sie lief immer wieder. Als sie abhob, meldete sich niemand. Sie hörte nur ein Rauschen, wie aus einem der alten Grammophone ihrer Jugendzeit. Dann kam leise wie aus weiter Ferne das Amtszeichen.
Enttäuscht legte sie wieder auf und ging ins Badezimmer. Der offensichtlich falsch gepolte Stecker fiel ihr ein, aber den konnte sie später auch noch richten. Zunächst spülte sie die Decke zweimal in klarem Wasser, das so kalt aus dem Hahn kam, dass ihre Finger ganz steif wurden. Danach ließ sie das Gewebe etwas abtropfen und ging dann ins Treppenhaus damit, da sie ja an diesem Sonntagmorgen allein im Haus war und keine Beschwerden zu fürchten hatte.
Es war ein einstöckiges Gebäude, in dem sie wohnte. Unten waren zwei Geschäfte und oben nur die beiden kleinen Wohnungen, die ihr und Mr. Webster gehörten. Eine kleine Treppe ging zu einem Vorplatz hinauf dicht vor der Bodentür. Dieser Vorplatz lag direkt über ihrer Wohnungstür. Sie konnte ihn erst übersehen, wenn sie die erste Stufe der Treppe betrat. Ein alter Gartenstuhl stand dort aufrecht ans Geländer gelehnt. Manchmal hatte sie beim Heimkommen das Gefühl, dass sich hinter ihm gut jemand verbergen konnte, der sich tagsüber eingeschlichen hatte und die Nacht abwartete, um in die Läden einzubrechen. Es war ihr daher zur Gewohnheit geworden, immer zuerst einen prüfenden Blick nach oben zu werfen.
Die Decke tropfte doch noch sehr, als sie sie durch ihren schmalen Korridor trug und die Wohnungstür öffnete. Sie warf sie rasch über das Treppengeländer und zog sie etwas glatt. Dann sah sie wie immer zu dem Stuhl hinauf. Neben dem Stuhl stand ein Mann. Er war schmal und ganz dunkel angezogen - schwarzes Hemd und schwarze Hose. In der Hand hielt er einen schwarzen Revolver, dessen Mündung genau auf sie gerichtet war. Sie sah, dass er die Lippen bewegte, aber sie verstand kein Wort. Es ging jedoch eine so starke Drohung von ihm aus, dass sie ganz still stand im Bewußtsein einer großen Gefahr, wie sie ihr in ihrem bisherigen Leben noch nie begegnet war.
Sie stand unbeweglich und sah ihm zu, wie er die Treppe herabschlich mit den glatten Bewegungen eines Tieres. Erst als er bis auf einen Schritt herangekommen war, wich sie rückwärts gehend in ihre Wohnung zurück. Das hätte sie gleich mit einer blitzschnellen Bewegung tun sollen, als sie ihn bemerkte, fiel ihr jetzt ein. Dann hätte sie sicher die Tür hinter sich zuschlagen und zum Telefon laufen können. Jetzt war es zu spät. Sie sah an seinen Augen, dass er sofort schießen würde. Ob die Waffe wirklich geladen war? War es überhaupt nicht nur eine Spielzeugpistole? Man hatte so etwas schon gehört. Sie verstand nichts von Waffen und konnte das nicht feststellen. Sein Gesicht war sehr weiß und wirkte wie gefroren. Ihr fiel besonders auf, dass die Haut an seinen Schläfen wie von einer inneren Spannung hochgezogen war, so dass er die schrägen Augen eines Asiaten hatte. Langsam und lautlos kam er näher und drängte sie weiter in den Korridor zurück, bis er die Tür hinter sich schließen konnte. Mit der freien Hand drehte er blitzschnell den Schlüssel herum, den sie immer von innen stecken ließ, wenn sie zu Hause war. Jetzt war sie gefangen und hatte das beklemmende Gefühl, nicht einem Menschen gegenüberzustehen, sondern einem unberechenbaren Tier. Sie wußte auch ganz genau, dass er kein Geld wollte. Eine unnatürliche Ruhe breitete sich in ihr aus, vom Herzen langsam zum Kopf ansteigend. Das war alles so unwirklich, dass sie darauf wartete, jeden Augenblick aus einem Traum zu erwachen. Sie schloß die Augen und öffnete sie gleich wieder in der Hoffnung, dass der Mann verschwunden und sie wieder allein in der Wohnung sein würde, wie sie es noch vor einigen Minuten gewesen war. Aber er stand noch da in seiner entsetzlichen Wirklichkeit. Ein seltsames kaltes Lächeln war jetzt um seine Lippen, das aber gleich wieder wegglitt, wie ein Wolkenschatten von einer öden Landschaft. Er sprach noch immer kein Wort, kam aber nun wieder näher und zwang sie dadurch, noch weiter zurückzuweichen, bis sie sich in ihrem kleinen Zimmer gegenüberstanden. Sie konnte nicht weiter zurück, spürte die Kante eines Stuhles in ihren Kniekehlen und wollte sich schon ermattet auf den Sitz fallenlassen, als sie eine innere Stimme davor warnte. Er hatte sie bisher wortlos und nur mit Bewegungen bedroht. Sie durfte jetzt keine Bewegung wagen, die sie kleiner machte. Endlich verflüchtigte sich auch der leichte Nebel, den der erste Schreck über ihre Augen gelegt hatte. Immer deutlicher sah sie seine hellen Augen, die durch sie hindurchsahen in eine ihr unsichtbare Ferne. Er hielt den Kopf nun etwas geneigt, als ob er einer fernen Melodie lauschte, die sie nicht hätte hören könne, auch wenn ihre Ohren sie nicht im Stich gelassen hätten. Sie empfand, dass sie zwei verschiedenen Daseinsebenen angehörten, zwischen denen es keine andere Verbindung gab als den Tod, so wie es zwischen Jäger und Wild keine andere Verbindung gibt.
Auf einmal merkte sie, dass sie sprach. Worte, die ihr Gehirn gar nicht bewußt gebildet hatte, sprudelten aus ihr heraus. Worte, die keinen Sinn hatten, die eigentlich keine Worte waren, sondern mehr Laute, wie man sie einem kleinen Kind oder einem Hund gegenüber anwendet, der mit entblößten Zähnen vor einem steht, weil man einen fremden Garten betreten hat. Der Mann hob einen Augenblick witternd den Kopf, abgelenkt von seiner Melodie, die ihm befahl, sie zu töten. Sie atmete auf, aber da senkte er die Stirn wieder und forderte sie mit einer Bewegung der Waffe auf, sich ganz dicht an die Wand zu stellen und die Hände vom Körper so weit als möglich entfernt mit den Innenflächen gegen den rauhen Putz zu pressen. Unten fuhr ein Auto mit ahnungslosen Menschen vorbei, die ihr hätten helfen könne. Sie spürte ein leises Zittern der Mauer. Dann war es wieder ganz still um sie.
Der Mann begann plötzlich leise zu pfeifen und den Kopf hin und her zu wiegen. Die Leere wich aus seinem Blick. Er musterte sie lauernd und duckte sich etwas. Sie konnte es nicht sehen, aber sie fühlte mit einem sechsten Sinn, wie sich seine Rückenmuskeln spannten wie zu einem Absprung. ›Jetzt wird er es tun‹, dachte sie. Welch bizarres Ende ihres Lebens! Sie hatte sich manchmal vorzustellen versucht, wie ihr Tod einmal sein würde, aber niemals wäre sie auf einen solchen Gedanken gekommen.
Seine Oberlippe hob sich und entblößte kräftige weiße Zähne, als wenn er sie damit zerfleischen wollte. Es war nichts in der Nähe, womit sie nach ihm hätte werfen können. Genau in der Sekunde, da sie zu unterliegen drohte, begriff sie, dass er auf eine Bewegung von ihr wartete, auf eine letzte Fluchtbewegung, die den angesetzten Sprung auslösen sollte. Eine Bewegung der unsinnigsten Angst mußte das sein. Sie wußte, dass sie ihm die verweigern konnte, und sie war entschlossen, es zu tun, bis ihre Kräfte sie ganz verließen. Ein unheimliches stummes Ringen begann. Er duckte sich noch etwas tiefer, aber sie richtete sich noch etwas höher auf und gewann dadurch an innerer Ruhe. Ihr fiel ein, dass sie einmal von einem Tänzer - es war Harald Kreuzberg - gehört hatte, dass man Bewegungen machen könnte, die beim Gegner mit absoluter Sicherheit eine Gegenbewegung hervorriefen. Als sie damals ungläubig lächelte, machte er unvermutet die große Bewegung eines Schlages gegen sie, und sofort hob sie die Hand schützend vor ihr Gesicht. Ihre Verblüffung bereitete ihm Vergnügen. Er ahnte nicht, in welcher Lage sie einmal daran denken würde. Und sie ahnte es erst recht nicht.
Aber jetzt sah sie einen Weg. Ihr Gehirn arbeitete mit jener Klarheit, die sie immer beim Spielen hatte, wenn es um verschiedene wichtige Requisiten ging, deren Reihenfolge sie nicht vergessen durfte. Sie mußte Bewegungen erfinden, die ihrem stummen Gegner etwas aufzwangen, was er eigentlich nicht wollte. Es war eine Premiere ohne Generalprobe, und es ging um ihr Leben! Wenn sie die geringste Flucht andeutete, war sie verloren!
Sie hatte keine Furcht mehr, weil sie jetzt wie in einem Theaterstück wußte, was sie zu tun hatte, obgleich ihr gerade jetzt die beiden Frauen einfielen, die man in den letzten Tagen gefunden hatte - tot - mit Bißwunden wie von einem großen Tier.
Sie wußte nun, dass sie ihn töten mußte, wenn sie weiterleben wollte. Der Tod stand unüberwindbar groß und schrecklich schwarz zwischen ihnen. Es gab keinem anderen Ausweg. Einer von ihnen mußte ihm gehören, mußte mit ihm gehen, fort aus dem grellen Licht der gleißenden Sonne in das sternenlose Dunkel einer endlosen Nacht. Der andere war ein Stier, dessen dunkles Fell blau schimmerte. Sie fand nichts dabei, dass sie ihn töten mußte. Die innere Verwandlung, die bei ihrem Beruf notwendig war, wenn man das Mittelmaß überschreiten wollte, ergriff immer stärker Besitz von ihr. Etwas war anders als sonst. Nicht mit dem Wort mußte sie diesmal arbeiten, sondern mit leichten, tänzerischen Bewegungen, die sein Mißtrauen beschwichtigten. Sie wußte nicht genau wie es weitergehen sollte. Das würde sich erst aus seinen Reaktionen ergeben. Um sie war heißer, gelbweißer Sand, und sie war ein Torero, der einem wilden, wütenden Stier gegenüberstand, den er mit genau festgelegten Bewegungen in den Tod locken mußte, dessen Fell inzwischen tiefblau geworden war.
Konnte sie versuchen, den Gegner mit einem ganz kleinen Vorstoß abzutasten? Sie mußte es wagen! Sie riskierte einen kleinen Ausfall gegen ihn, indem sie sich mit beiden Händen von der Wand hinter ihr abstieß und nur wenig gegen ihn vorfiel. Sie achtete sehr darauf, dass nichts Bedrohliches in dieser Bewegung lag, machte sie fast spielerisch und stellte fast erstaunt fest, dass sie sogar ein Lächeln zustande brachte. Sie spielte mit vollem Einsatz, wie sie immer gespielt hatte. Wenn sie gut und überzeugend war, war auch der Erfolg sicher, wie an den ungezählten Premierenabenden vorher.
Verdutzt wich er etwas zurück und knurrte sie an. Sie jubelte innerlich. Jetzt ging die Kraft auf sie über. Sie bekam ihn in die Hand. Er war anscheinend gewohnt, dass Frauen fliehen wollten und dabei schrien. Das erregte ihn zum Greifen, und das Geschrei erweckte den Reflex, sie zum Verstummen zu bringen mit seinem großen weißen Zähnen. Sie kam ihm entgegen, nicht drohend, aber was wollte sie? Sie sollte endlich erschreckt zurückweichen, dass er sie fassen konnte. Dann würde alles andere blitzschnell ablaufen, wie bei den beiden Frauen vor ihr. Er war verwirrt. Auf seiner Stirn erschienen dünne Schweißperlen. Sie sah das ganz genau und nahm erneut Kraft daraus. Sie wußte, dass sie ihm nicht zu nahe kommen durfte, um nicht das Gefühl, in die Enge getrieben zu sein, bei ihm hervorzurufen, aber sie mußte zuerst einmal ganz von der Wand freikommen, gegen die er sie gedrängt hatte. Ihr Vorteil lag darin, dass er aus dumpfem Instinkt, sie aber aus klarer Überlegung und fast zur Gewohnheit gewordener Intuition handelte. Sie begann leicht und rhythmisch ganz kleine tänzerische Bewegungen zu machen, mit den Händen zuerst, dann mit den Hüften, die er unwillig knurrend zuließ. Hatte er nicht vorhin gepfiffen? Ob er darauf irgendwie ansprach? Sie versuchte es. Es klang nicht schön, aber er horchte auf. Da glitt sie blitzschnell von der Wand weg und stand nun so, dass er sich drehen mußte und damit seinen Rücken vor die offene Küchentür brachte.
Jetzt erkannte sie, wohin sie steuern mußte. Sie erinnerte sich an eine Bäuerin, die sie einmal als Kind gesehen hatte, wie sie junge Enten sanft vor sich her scheuchte. Mit denselben Bewegungen trieb sie ihn nun rückwärts, und er tat, was sie wollte. Aber sie sah seinem Gesicht an, dass die Überraschung nachließ und er nachzudenken begann, um einen Ausweg aus ihren zwingenden Bewegungen zu finden. Seine Augen verengten sich. Die Schweißperlen auf seiner Stirn wurden größer. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Sie begann nochmals zu pfeifen, diesmal lauter. Es gelang ihr, ein Drängen in den Ton zu legen. Er reagierte ein letztes Mal und trat noch einen Schritt zurück. Jetzt war er ganz in der Küche, die er fast füllte und deren Enge ihn noch unruhiger machte. Dicht neben ihm sah sie das Bügeleisen stehen. Das Triumphgefühl, das sie durchströmte, veranlaßte eine zu heftige Bewegung. Sofort duckte er sich sprungbereit, und eine Erleichterung war ihm anzusehen. Da hatte sie sich aber wieder in der Hand. Innerlich war sie der Torero, der nun den Degen zum Todesstoß hob. Äußerlich duckte sie sich auch etwas, als wenn sie ihm endlich entgegenkommen wollte. Spielerisch griff sie nach dem Glas mit dem Wasser, das sie vorhin zum Bügeln bereitgestellt hatte, und goß es mit einem Schwung der Hand auf den Boden, dicht vor dem eisernen Abflußgitter. Seine Augen flammten auf, und sie zog ihre Hand ruckartig zurück. Sofort fuhr seine Hand etwas vor, mit griffbereiten Fingern. Sie lachte höhnisch und etwas zu schrill. Er zuckte zusammen und richtete sich dann drohend auf, jetzt bereit, sich auf sie zu stürzen. Sie duckte sich noch etwas mehr. Das nahm er als Schwäche und Nachlassen des Bannes, in den sie ihn geschlagen hatte, aber ehe er seinen Vermeintlichen Vorteil wahrnehmen konnte, streckte sie ganz langsam die Hand nach dem Bügeleisen aus, so langsam, dass er es genau sehen mußte, als wenn sie es greifen wollte. Sofort trat er einen halben Schritt vor, direkt in die Wasserlache hinein. Da schoß ihre Hand plötzlich ganz schnell vor, und prompt kam sein Gegenreflex. Seine gekrümmten Finger kamen ihr zuvor und umschlossen das Eisen. Der elektrische Schlag riss ihn zu Boden. Er lag gekrümmt da, zuckte noch zwei - drei Mal. Der Revolver entglitt seiner Hand.
Der weiße Sand leuchtete grell auf, als der Stier zuckend verendete. Dann wurde er zum blauen Fliesenbelag des Küchenbodens. Sie bemerkte, dass sie schrie, und sie konnte nicht aufhören, obgleich sie beide Hände vor den Mund preßte. Sie schrie und krümmte sich, als ob sie gleichfalls unter Strom stünde. Dann wurde ein Schluchzen daraus, das nach und nach verstummte.
Sie richtete sich ganz gerade auf und strich sich das Haar aus der Stirn, ging zum Telefon, um die Polizei zu rufen, nachdem sie rasch noch den Stecker aus der Dose gezogen hatte. Danach saß sie am Fenster und starrte hinaus, ohne etwas zu sehen, mit dem ungezielten Blick einer Blinden. Die Tischdecke fiel ihr nach einer Weile ein. Die brauchten sie nicht am Geländer hängen sehen! Sie ging und holte sie herein, legte sie auf die Wolldecke, als wenn sie gerade beim Bügeln gewesen wäre. Den Revolver hob sie auf und versteckte ihn in einer der unteren Schubladen. Sie wußte nicht, warum sie das tat.

»Wie kommen Sie denn ins Haus?« fragte sie verwundert die beiden Beamten, die bald darauf an ihrer Tür läuteten.
»Durch die Gartentür. Die ist offen«, antwortete der Jüngere, der sie an irgend jemanden erinnerte, ohne dass sie darauf kam, wer es sein könnte.
»Ich wollte gerade bügeln«, gab sie später an. »Er bedrohte mich und griff nach dem Eisen. Dann fiel er um. Ich hatte ihn nicht gehört, denn ich bin fast taub, wissen Sie!« Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie fragte: »Wer ist er denn?«
»Er heißt Karl Hellmer«, sagte man ihr. »Sein Name wird morgen in allen Zeitungen stehen. Er hieß so!« Und dann wollte der junge Polizist noch etwas sagen, aber sein Kollege machte ihm ein Zeichen, zu schweigen, weil er sah, dass sie stark zitterte und sich am Küchentisch festhielt.
Als sie im Dunkel der folgenden Nacht wieder allein in ihrer Stille lag, beschloss sie: Niemand sollte jemals erfahren, dass sie einen Stier getötet hatte, der Karl hieß - Karl Hellmer. Sie dachte in späteren Jahren immer öfter an ihn - ohne Hass und Ekel - mit einer eigenartigen Zärtlichkeit, die sie selbst nicht verstand. Und sie nannte ihn heimlich bei sich Karl III.


Geschichtenseite

© OHHElf und Adler Verlag