Die Dame in Blau

von Paul Filipp

Anna Bogner war davon überzeugt, dass bei ihrer Geburt mit den Durchschneiden der Nabelschnur nur eine körperliche Trennung von ihrer Mutter erfolgt war. Seelisch blieben sie auf eine ihr unerklärliche Weise verbunden. Als kleines Kind hatte sie das als selbstverständlich hingenommen. Später, ganz besonders nach ihrer Verheiratung dachte sie oft darüber nach. Sie fand keine Erklärung. Ihr Mann bezeichnete es als reinen Zufall, dass sie und ihre Mutter sich manchmal am selben Tag und zur gleichen Zeit hinsetzten und sich Briefe schrieben, die sie dann am folgenden Tag zur ungefähr ähnlichen Stunde erhielten. Sie fühlten beide eine innere Unruhe, wenn die eine krank wurde und es der anderen verheimlichen wollte, um sie nicht unnötig zu beunruhigen.
Den plötzlichen, unerwarteten Tod ihrer Mutter hatte Anna nicht gespürt. Es ging wohl zu schnell, und das Dunkel hatte die alte Dame ohne die geringste Vorwarnung aufgesaugt, bevor sie nur an ihre Tochter denken konnte.
Sie hatten manchmal darüber gesprochen, was wohl nach dem irdischen Ende sein würde. Ging das Leben irgendwie weiter? Gab es doch irgendeine Möglichkeit für eine Botschaft an die Hinterbliebenen, mit denen man zeitlebens durch ein starkes Gefühl verbunden war? Annas Mutter hatte ihr versprochen, sich zu melden. Sie war allerdings der Ansicht, dass es vielleicht sehr schwer sein könnte, die Trennungsschicht zwischen den Schwingungsebenen des Diesseits und des Jenseits zu überwinden. Ein Problem dürfte auch die Verschiebung oder gar Aufhebung von Zeit und Raum sein. Vielleicht war eine Nachricht so unfaßbar schnell da, dass der Empfänger sie gar nicht aufnehmen konnte, weil ihn die üblichen Ereignisse seines Alltags zu sehr ablenkten. Vielleicht dauerte es auch Jahre oder Jahrzehnte, bis er erreicht werden konnte. Anna wartete tagelang - wochenlang - jahrelang vergeblich. Das Bild ihrer Mutter in ihr wurde immer blasser, schemenhafter. Schließlich konnte sie sich nur noch an ihre Augen und den Klang ihrer Stimme genau erinnern.
Ihr Mann hatte es inzwischen zu einem gewissen Wohlstand gebracht und trug sich mit dem Gedanken, ein kleines Haus am Stadtrand zu kaufen. Da er wenig freie Zeit hatte, fuhr Anna mit ihrem Zweitwagen in die nähere Umgebung, um sich die Angebote einer Maklerfirma zunächst einmal anzusehen. Sie fand nichts Passendes und kam manches Mal müde und enttäuscht zurück.
In diesen Tagen begann sie unruhig zu schlafen, und manchmal träumte sie, noch einmal durch die Räume gehen, die sie in der letzten Zeit gesehen hatte. Sie vergaß diese Träume gleich nach dem Erwachen wieder, bis auf einen.
Den träumte sie zweimal in aufeinanderfolgenden Nächten. Beim ersten Mal sah sie einen mittelgroßen Raum mit großen Fenstern, die auf einen blühenden Garten hinausgingen. Zwischen den Fenstern sah sie undeutlich einen blauen Fleck, den sie nicht sicher als ein Bild identifizieren konnte. Leider wachte sie zu früh auf, und es blieb die Unruhe eines ungelösten Rätsels den ganzen Tag über ihr. Deshalb nahm sie sich vor, ganz nahe heranzugehen, wenn sie diesen Traum noch einmal zu sehen bekäme. Sie wunderte sich etwas über diesen Gedanken, denn sie hatte bisher keinen Traum noch einmal geträumt.
Sie war erstaunt, als sie in der nächsten Nacht tatsächlich ganz nahe an den blauen Fleck herangehen konnte. Er war ein Bild einer sehr schönen Dame in einem blauen Kleid. Als sie durch das Fenster in den Garten blickte, sah sie ihre Mutter so deutlich, wie sie ihre Mutter schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie trug ihre alte Gartenschürze und war dabei, gelbe Rosen abzuschneiden. Sie winkte Anna kurz zu, ohne ihre Tätigkeit abzubrechen. So, als wenn sie zu dem Haus gehören würde - so, als wenn sie sich eben noch beim Frühstück gesehen hätten und sich gleich wieder sehen würden.
Anna hatte ihrerseits auch keineswegs den Wunsch, in den Garten zu eilen und ihre langentbehrte Mutter in die Arme zu schließen. Sie wandte sich vom Fenster ab, weil sie ein Geräusch hinter sich vernommen hatte. Ein kleines Mädchen kam auf sie zugelaufen und hielt ihr die Hand hin. »Kommen Sie bald wieder, sonst wird das Bild verkauft!« sagte es eindringlich und lief weg.
Nach dem Erwachen konnte sich Anna genau an jede Einzelheit ihres Traumes erinnern. Sie suchte nach einem Foto ihrer Mutter und fand es unter anderen Bildern von ihrer Hochzeit in einer Schublade ihres Schreibtisches. Es war etwas ausgeblichen und glich irgendwie dem Bild in blau. Es kam nicht an die herrlichen Farben heran, in denen sie ihre Mutter in dem Garten voller Blumen gesehen hatte. War dieser Traum eine Botschaft? Bedeutete der blühende Garten, dass es ihrer Mutter gut ging?
Ihrem Mann sagte Anna zunächst nichts von diesem Traum. Nach einigen Tagen dachte sie auch kaum noch daran.
In der folgenden Woche fand sie ein Haus, das ihr schon von außen gefiel. Als die Besitzerin sie bei einem Rundgang in ein großes Zimmer führte, dessen Fenster auf einen sonnigen Garten hinausgingen, erkannte Anna sofort den Raum, den sie im Traum gesehen hatte. Zwischen den beiden Fenstern hing kein Bild, aber an dem weniger ausgebleichten Tapetenmuster konnte man erkennen, dass dort etwas gehangen hatte.
Ein kleines Mädchen kam herein und hielt Anna die Hand hin. Die Besitzerin des Hauses tadelte ihre kleine Tochter: »Kinder müssen warten, bis ihnen eine fremde Dame die Hand gibt!«
»Die ist doch nicht fremd«, antwortete die Kleine. »Die war schon einmal hier. Die kenn' ich.«
»Wann denn?« fragte die Mutter überrascht und sah Anna an, als wenn sie von ihr eine Erklärung erwartete.
»Vorige Woche«, sagte das Kind. »Du hast da geschlafen.«
Anna wußte nicht, ob sie etwas von ihrem Traum sagen sollte. Um abzulenken, deutete sie an den helleren Fleck an der Wand. »Hing da ein Wandteppich?« Sie vermied die Bezeichnung `Bild', weil sie sehr bewegt war und jede Täuschung ausschließen wollte.
Statt der Mutter antwortete das Kind: »Ein Bild hing da. Sie haben es doch gesehen. Die blaue Dame! Erinnern sie sich nicht? Es wurde gestern verkauft.« Und dann lief sie lachend weg, wie Kinder eben manchmal plötzlich weglaufen, wenn sie ein ihnen unangenehmes Gespräch beenden wollen.
»Wer hat das Bild gekauft?« wollte Anna wissen.
»Mein Bruder. Es ist in der Familie geblieben. Er wohnt ganz in der Nähe.«
»Ob ich es einmal sehen könnte? Ganz kurz nur«, bat Anna. »Ich glaube, dass wir ihr Haus kaufen werden.«
Die freundliche Dame ging mit ihr hin. Das Bild hing jetzt nicht zwischen zwei Fenstern im Halbdunkel, sondern an einer Seitenwand im grellen Sonnenlicht. Das wunderbare blau ihres Traumes fand Anna nicht wieder, und die gemalte Dame hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Annas Mutter. Aber die Tochter hatte die versprochene Botschaft verstanden.


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