Jemand stand hinter der Tür

von Paul Filipp

Elvira Morten war damals sehr traurig, als ihr kleiner Lebensgefährte Thomas starb. Den Titel 'Lebensgefährte' hatten ihm ihre Freunde verliehen, denn Thomas war ein Vogel - ein Dompfaff. Sie hatten sich sehr aneinander gewöhnt im Verlauf dieser letzten dreizehn Jahre, und sie waren sehr nett zueinander gewesen, der Thomas und sie.
Sie begrub ihn in einem seidengefütterten Karton ihres französischen Parfums neben dem Tulpenbeet. Als sie wieder auf ihrem Balkon saß und wehmütig zu seinem nun leeren Käfig hinübersah, der mit offener Tür an seiner Kette leicht im Wind hin und her schaukelte, schoß plötzlich ein sehr kleiner Vogel aus einem der nahen Bäume sozusagen im Sturzflug in den verlassenen Käfig hinein. Er setzte sich auf die oberste Stange und gab durch ein lautes Tschischtitt zu erkennen, dass er die frei gewordene Wohnung für sich beanspruchte.
Elvira war damit nicht einverstanden. Sie hatte eben unten am Grabe von Thomas beschlossen, keinen neuen Vogel zu kaufen. Sie stand also von ihrem Stuhl auf, ging zu dem Bauer hinüber und griff hinein. Der fremde Vogel, der sehr schöne Farben hatte, ließ sich von ihr greifen. Sie warf ihn in den Garten hinaus. Er flog zurück auf den Baum, von dem er gekommen war und begann laut zu schimpfen: Tschi-tschi-tschitschitt! Er schien so empört zu sein, dass Elvira unwillkürlich lächeln mußte. Dieser Winzling war reichlich frech, fand sie.
Als sie nach einer halben Stunde mit einer Tasse Kaffee in der Hand wieder auf den Balkon kam, saß er auf der obersten Stange des Käfigs. Bei ihrem Anblick richtete er sich so hoch als möglich auf, als wenn er ihr imponieren wollte, und schmetterte ein diesmal kämpferisches Tschischtitschitt!
Elvira stellte die Tasse auf den Tisch und ging zu ihm hinüber - bereit, ihn abermals hinauszuwerfen, aber dann hatte sie auf einmal das Gefühl, dass er ihr von irgend jemandem geschickt worden sein könnte. Vielleicht gab es wirklich einen Gott der Vögel, wie sie es erst vor Tagen in einer Geschichte gelesen hatte. Also ließ sie ihn drinnen auf seiner Stange sitzen und zum Zeichen ihrer Einwilligung, schloß sie die Käfigtür. Er schien sie sofort verstanden zu haben, denn er begann eine richtige Arie zu singen, die er irgendwo gelernt haben mußte. Von einem Kanarienvogel vielleicht. Er hatte eine sehr starke Stimme, die man sicher in den Nachbarwohnungen hören konnte. Später erfuhr sie von einem vogelkundigen Bekannten, dass er ein Bluthänfling sei.
Er benahm sich so, als wenn der tote Thomas sie ihm vermacht und ihm alle ihre Vorlieben verraten hätte. Er legte den kleinen Kopf mit dem roten Fleck genauso schief auf die Seite, wenn sie mit ihm sprach. Sie wurden sehr schnell vertraut miteinander. Eigentlich zu schnell, dachte sie manchmal fast etwas schuldbewußt.
Er erkannte ihre Schritte auf der Treppe, und wenn sie den Schlüssel im Türschloß herumdrehte, begann er seine Begrüßungsarie, über die sie sich immer wieder freute.
Einmal, als sie neben seinem Käfig stand und mit ihm sprach, stieß er plötzlich einen lauten Warnruf aus und saß dann steil aufgerichtet mit ganz enganliegenden Flügeln da, die kleinen Augen nach oben gerichtet. Über ihnen sah sie einen großen Raubvogel, der mit weit ausgebreiteten Flügeln bewegungslos in der Luft zu hängen schien.
Da sie allein lebte, war sie vorsichtig. Sie schloß ihre Wohnungstür immer zweimal ab und ließ die Balkontür niemals offen, wenn sie in die Stadt ging. Der Käfig mit dem 'Spatzele', wie sie ihren neuen Freund nannte, blieb bei schönem Wetter draußen hängen.
Als sie eines Tages etwas später als sonst heimkehrte, blieb alles still in der Wohnung. Sie war noch in Gedanken mit dem Unfall einer Freundin beschäftigt, von dem sie durch einen Anruf erfahren hatte, und dessentwegen sie das Haus überstürzt verlassen hatte. Von der erst halboffenen Wohnungstür her sah sie bereits, dass die Balkontür weit offen stand. Draußen in dem leicht im Wind schwankenden Käfig saß der kleine Spatzele wie erstarrt, steil Aufgerichtet, mit enganliegenden Flügeln.
Bevor sie den Korridor ganz betreten konnte, stieß er jenen lauten Warnruf aus, mit dem er sie damals auf den Raubvogel aufmerksam gemacht hatte, den er für eine große Gefahr hielt.
Sie begriff sofort, trat blitzschnell in das Treppenhaus zurück, zog die Tür wieder zu und drehte den noch im Schloss steckenden Schlüssel zweimal herum.
Vom Schreck überwältigt, lehnte sie die Stirn gegen das kühle Holz und spürte, jemand stand hinter der Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Dann hörte sie schnelle Schritte weglaufen.
Sie läutete bei ihrer Nachbarin und rief von dort die Polizei an. Als die Beamten, denen sie ihren Schlüssel gegeben hatte, die Wohnung betraten, fanden sie dicht neben der Tür einige zum Abtransport bereitgestellte Plastiktüten mit ihren ererbten Wertsachen, ihrer Schreibmaschine und dem Kassettenrekorder.
Als sie wieder allein war, verschloß sie die Wohnungstür von innen und drückte einmal auf die Klinke, um ganz sicher zu sein. Dann ging sie beruhigt durch das Zimmer auf den Balkon, dessen Tür unversehrt war. Sie hatte sie in der Eile offen gelassen.
Der Spatzele begann sofort seine Begrüßungsarie - lauter als sonst, fand sie, und triumphierend.


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