Feledrion auf dem Konvent von Anderstein

III. Ein Tempel und ein Horn

von Oliver H. Herde

Bald nach dem Frühstück läutete Falk schon wieder sein Glöckchen. Eigentlich fühlte Feledrion keinen Bedarf am Geschwafel der alten Männer, die allesamt nach ihm geboren waren. So war es wiederum seiner Intuition zu verdanken, dass er - wieder einmal als letzter - den Rittersaal betrat.
Ein Mann unbestimmbaren Alters, gewandet ganz in schwarz samt eines ebensolchen Baretts stand vorne. Er schien besondere Anerkennung unter den Versammelten zu genießen Aleya Ambareth, so sein Name, war Feledrion bereits zuvor allein dadurch aufgefallen, dass er immer wieder spurlos zu verschwinden schien.
Und er wusste endlich mal Neues zu berichten: Bei dem gesuchten Artefakt handele es sich um ein Horn. Daraus folgerte der Elf, Aleya müsse dem Schamanen recht nahe gekommen sein. Von alledem, was jener noch erzählte, verstand Feledrion jedoch nur eines: Man dürfe das Horn auf keinen Fall öffnen, um nicht ungeahnt zerstörerische Energien freizusetzen.
Zum Schlusse sollte ein jeder bevor er den Saal verlassen durfte schwören, nichts von dem Gehörten an dritte weiterzutragen. Damit hatte Feledrion kein Problem, wußte er ohnehin kaum, was er anderen hätte berichten sollen. Für das Wenige allerdings würde sich Schannaha gewiss interessieren. Was bedeutete da schon ein Schwur?

Abermals spazierte der Elf allein durch den Wald. Noch immer fürchtete er einen Überfall der Wildpelze nicht im Mindesten, hatte er doch noch keinen Feindkontakt gehabt, und griffen Orks doch für gewöhnlich nur Gegner an, die sie auch bemerkten.
Etwas anderes bereitete ihm dafür um so mehr Sorge: Des Nachts hatte er wieder Kraft verloren. Und dass es den anderen begabten Teilnehmern des Konventes ebenso ergangen war, konnte man kaum übersehen. Mancher zauberte schon seit dem Vortage nur noch unter Einsatz seines Nurda. Viele sahen krank aus.
Hinter den gestürzten Bäumen nahm Feledrion geschäftige Arbeitsgeräusche wahr. Die Menschen mühten sich, das Tempelchen neu zu errichten. Was wohl konnte ihnen ein Gebäude in dieser Abgeschiedenheit nutzen?
Rohaja kam ihm entgegen, der Halbelf und einer vom Waldvolke folgten ihr. »Feledrion!« sprach sie ihn freundlich an, »möchtest du helfen, Material für den Tempel zu suchen?«
Sie schien wieder sie selbst zu sein. Da hatte er wohl irgend etwas verpaßt!
Warum aber sollte er sich für den Bau eines Hauses einsetzen, welches später wohl doch nicht bewohnt würde? Was motivierte wohl Elf und Halbelf? Ob jenes Gebäude, welches man offenbar einer Göttin des Krieges widmen wollte, den Kampfesmut der Krieger zu steigern vermochte, wenn die Magier bar ihrer Kraft sein würden?
Da Feledrion ihre Frage zumindest nicht sogleich abweisend behandelte, getraute sich Rohaja zu erklären: »Wir suchen Holz von dieser Stärke.«
Nun lächelte Feledrion. Deshalb war sie so versessen auf Elfen! Die Krieger mochten kaum in der Lage sein, den morschen Zweig eines nostrischen Ahorn von einer ausgewachsenen Steineiche zu unterscheiden. Und was hatte Feledrion immer getan, wenn er Sala Mandra verließ? Menschen aus Mitleid geholfen. Besser, er tat dies auch nun, bevor sie noch gesunde Äste brachen.
So kam es also, dass bei der Neuerrichtung jenes Rondratempels an der Grenze zum Orkland zweieinhalb Elfen maßgeblich beteiligt waren, was heute wohl nur noch die wenigsten wissen.
Während sie erfolgreich totes Gehölz als Baumaterial heranschafften, machten sie auch einander bekannt. Der Halbelf Tarion wies sich durch seine Reden als recht hitzköpfiger Bursche aus. Der andere stammte wie Feledrion selbst vom Waldvolk. »Ich heiße Siar'Fay, aber die Menschen nennen mich Siegfried.«
»Bin ich Mensch?«
»Nur, dass du weißt, wer gemeint ist, falls der Name einmal fällt.«
Allerdings blieb es nicht allein beim eher entspannenden Sammeln und erzählen. Immer wieder wurden die Bauarbeiten durch Attacken kleiner Orkgrüppchen gestört. Während zwei Krieger das ihnen gebrachte Geäst verbauten und die anderen gemeinsam mit den Rondrianer und zunehmend Tarion den Tempelbau verteidigten, suchten die beiden Elfen unbeirrt weiter. Und bemerkenswerterweise wurden letztere dabei kaum gestört. Trotzdem lieh Siar'Fay dem Schwan vorsichtshalber seine Ersatzwaffe, ein Kurzschwert.

Als der kleine Tempel schließlich nach einer ganzen Reihe von Überfällen soweit fertig war, dass man ihn weihen wollte, zog sich Feledrion zurück. Ganz offenbar sahen die Wildpelze in diesem Gebäude eine Gefahr - oder wenigstens ihr Schamane. Und da der Elf keinen Bedarf verspürte, einem Gottesdienst beizuwohnen, stieg er den Hügel hinauf und bezog einen selbstgewählten Wachtposten, den man nur vom Lager aus einsehen konnte, während man von hier aus Überblick über ein ganz erhebliches Waldstück bekam. Wohl über zwei Drittel aller in Frage kommenden Richtungen vermochte er somit als Einzelner für einen Überraschungsangriff auszuschalten.
Da saß er also als wie auf dem Turme einer Feste, derweil sich unten das Volk sammelte, unverständliche Zeremonien zu zelebrieren. Zwischendurch wurde es dort einmal kurz unruhig, als man ihn bemerkte und nicht gleich erkannte.
Bald darauf schleppte sich einer der älteren Magister bis fast zu ihm herauf. »Kommt lieber herab! Wir können Euch hier oben keinen Schutz bieten.«
»Ich weiß. Ich aber euch. Die Sicht ist außerordentlich gut.«
»Seid Ihr sicher?«
»Gewiß.«
Sorgenvoll seufzte der Mensch. »Wie Ihr meint.« Er drehte um und wankte wieder hinab.

Nicht lange, und ein junger Magier stieg zum Elfen empor. »Wir haben dich gesehen.«
»Ich weiß.«
»Was treibst du hier?«
»Ich beobachte, ob sich etwas von oben oder von Osten oder vom Bache her nähert. Keine Angst, man wird mich nicht bemerken, weil man mich hier nicht erwartet, ich mich nicht bewege und gut gedeckt bin.« Dabei wies er auf das Buschwerk, welches er durch herumliegende Zweige noch weiter gegen Blicke abgedichtet hatte.
»Du hast Recht, es ist ein guter Posten. Aber besser, du bist hier nicht allein.«
»Ich habe nicht vor, allein zu kämpfen.«
»Aber mehr Augen sehen auch mehr.«
»Meine Augen genügen vollauf.«
Doch der tatendurstige Magus ließ sich nicht überzeugen, und ein befreundeter Kollege kam auch noch hinzu. Sie bestanden darauf, sich noch weiter oben zu postieren. Vollkommen sinnlos, da sich das gemeinsame Blickfeld dadurch kaum erweiterte. Dafür stürzten die beiden den Elfen in einen Gewissenskonflikt. Sollte er sie im Angriffsfalle schützen oder fliehen, wie er es als alleiniger Wächter ohne Rücksicht nehmen zu müssen gekonnt hätte? Die Situation würde es letztlich entscheiden.
Und genau die tat sie: Die Wildhaare kamen ganz offen über den Weg an das Tempelchen heran. Scheinbar wollte der Schamane nur seine wirren Drohgebärden vollführen, um nach einem kurzen Scharmützel mit seinen Leuten wieder zu verschwinden.
Und als die Menschen nach und nach ebenso wieder abzogen, sah auch Feledrion keinen Sinn in weiterem Bleiben. Die beiden Magier folgten ihm hinab, und dabei suchten sie Feledrion für einen halsbrecherischen Plan zu gewinnen: Mit Hilfe Zoris als einer Geweihten des Phex wollten sie sich des Hornes bemächtigen. Man müsse nur die Orks ablenken, auf dass sie nahe genug an den Schamanen herankäme. Ein weiterer Magier und Draknuh sollten mit von der Partie sein.
In der Tat sah Feledrion in einer derart unvorhersehbaren Vorgehensweise einer kleinen Gruppe größere Chancen, als wenn gesamte Konvent im Walde einhertrampelte und die Schwarzpelze frühzeitig warnte.
Draknuh hingegen hielt nichts von dieser Idee. Aber wenigstens gedachte er nichts zu unternehmen, was die Mission behindern könnte. Er wolle sich nur schon eine geeignete Grabrede zurechtlegen.


So lagen denn Zori Feledrion und die drei Magier des frühen Nachmittages in einer Bodensenke oberhalb des Waldweges, der zum Tempel führte. Man vermutete, die Orken würden hier für ihren nächsten Überfall entlangziehen. Zweifellos überschätzten die Magier ihren Plan, wie Zori unverhohlen offen mutmaßte. Und Feledrion stimmte ihr stumm zu, doch da sie gewiß auch sein Improvisationsvermögen unterschätzten, glich sich dies nach seiner Ansicht wieder aus.
Viel Zeit verstrich, und die Menschen wurden bereits ungeduldig und damit lauter. Da kamen raschelnde Schritte näher. Aleya Ambareth wankte arg verwundet heran und ließ sich in die Kuhle fallen. Keuchend berichtete er von einer Konfrontation mit dem Schamanen und beschrieb, wo dieser sich gerade aufhielte. Nach längerem Gedankenaustausch machte er sich auf den Weg zur Burg.
Die fünf Waghalsigen aber folgten seinen Angaben. Allerdings verloren sie viel Zeit, indem sie sich aufgrund seiner ungenauen Wegbeschreibung in ein größeres Rund aus unüberwindlichen Andergastschen Hecken verliefen.
Schließlich aber näherten sie sich über einen Feldweg dem Waldstück, in dem sie die Orks vermuteten. Drei Anhänger des Kor holten sie ein. Diese hochgewachsenen schlanken Männer, alle kurzhaarig, schwarz gewandet, ähnlich bewaffnet und sämtlich mit einem rot-schwarzen Farbstreifen auf der Stirne, hatten sich schon beim Schutz des Tempelbaus besonders hervorgetan. Sie berichteten, sie seien nur eine Vorhut, der Pulk folge in einiger Entfernung.
Die Fünf sahen ihren Plan gefährdet, wenn eine so große Menge Volkes jegliche verdeckte Handlung verhinderte. Eilig weihte man die Männer des Kor ein und schritt zügig voran.
Noch ein kleines Stück vom Walde entfernt, entdeckte einer der Kors einen Orken im Gesträuch den Weg beobachten. Die acht bemühten sich, zu tun, als hätten sie ihn nicht bemerkt und als suchten sie hier auch gar nicht nach Orks. Feledrion trank gar noch seelenruhig aus einem Bache, bevor sie den Modder umliefen, der weiträumig Feldweg von Waldweg schnitt.
Die Krieger kümmerten sich so leise als möglich um die Wache, die anderen drangen weiter vor.
Feledrion hielt es für gefährlich, dem Wege weiter zu folgen, zumal er sich um einen kleinen Hügel zog. Besser, man brachte sich nicht freiwillig in die mißliche Lage, von unten nach oben kämpfen zu müssen. Doch nur einer der Magier folgte ihm überhaupt in einigem Abstand. Zori blieb unschlüssig auf dem Wege, der Schwarzmagier noch weiter zurück und der dritte entzog sich bereits Feledrions Blickfeld, indem er dem Pfad weiterging.
Eine irrsinnige Taktik, den Feind umzingeln zu wollen! Dafür waren sie zu wenige, und der Elf glaubte nicht mehr an die Existenz des Überraschungsvorteils, wie er ursprünglich einkalkuliert gewesen war. Sich aber in dieser Situation zurückzuziehen, erschien ihm noch unsinniger. Man mußte es wenigstens versuchen, wenngleich er sich von einem gebündelten Angriff mehr versprach.
Langsam kroch er durch das allzu spärliche Unterholz, welches kaum Deckung zu geben vermochte. Seinen Hals emporreckend, entdeckte er den ersten Ork, der den Weg beobachtete, dahinter einen zweiten. Sogleich signalisierte er den anderen hinab, sie mögen ihm folgen, und dass hier zwei lauerten.
Leider machten seine Gefährten nicht die mindesten Anstalten, ihm und seiner Bitte nachzukommen. Der Magus hinter ihm bedeutete Feledrion gar, er solle die Orken in einem Bogen umgehen.
Was blieb ihm übrig! Zum Streiten war dies nicht die Zeit.
Er tat ein paar gebeugte Schritte, da stand er unversehens dem Schamanen und drei weiteren Wildpelzen gegenüber! Vor Schreck versäumte er, einen Gedankenblitz zu versuchen, hielt statt dessen nach den anderen Ausschau, von denen er niemanden mehr sah.
Aus finsteren Augen starrte ihn der Orkschamane an und rief ein einzig orkisch Wort. Der Schwan wußte nicht, wie ihm geschieht. Panik ergriff von ihm Besitz. Er allein gegen vier mächtige Wildhaare, hilflos, verlassen!
Ehe er sich's versah, sauste er den Hügel hinab.
Da ertönten schon die Rufe der Kors: »Rückzug, Rückzug!« und die gesamte Verteidigungslinie brach zusammen.
Doch dies sah Feledrion nicht mehr. In einem gewaltigen Satz überwand er die schlammige Grenzstelle auf dem Pfad. Dahinter jagte er den Feldweg hinauf, dass weder Freund noch Feind Schritt zu halten vermochten.
Erst in einiger Entfernung gewann er gerade so viel Besinnung zurück, einen kurzen Blick rückwärts zu wagen. Die anderen lagen bereits gut hundert Schritt zurück, und gerade schleuderte der Schamane den Menschen eine weiße Wolke nach, dass sie husten und würgen mußten und ins Wanken gerieten. Johlend zogen sich die Schwarzpelze in das Waldstück zurück.
Feledrion aber folgte einer Biegung und lief noch ein gutes Stück, bis er langsam wieder klar im Kopf wurde. Was nun? Ohne Zweifel war er einer Beherrschung erlegen, der Schamane mächtiger als erwartet. Gewiß würden die Freunde gleich folgen. Jetzt war der Augenblick für eine Großoffensive! Wo steckte die Nachhut? Die Menschen waren längst überfällig! Sollte auch dort etwas geschehen sein?
Er lief weiter.

Bald entdeckte er den Pulk in der Ferne stehend. Warum kamen sie nicht?
Näherkommend erkannte er Brandwunden in einigen Gesichtern, angesengte Haare und Kleidungsstücke.
Nun wurden die ersten auf den heraufschwankenden Elfen aufmerksam. Zu vorderst stand Rohaja und tat ihm noch ein paar Schritte entgegen. Erschöpft ließ er sich in die augebreiteten Arme der für ihn so kleinen und doch so starken Frau fallen.
»Feledrion, was ist geschehen?« erkundigte sie sich besorgt.
»Es war furchtbar«, japste der Elf. »Wir hatten einen Zusammenstoß mit dem Schamanen und seinen Leuten. Ich fühlte plötzlich eine entsetzliche Furcht vor ihm und mußte fliehen...«
»Wer ist noch dort unten?«
»Zori, drei Magier und die Korgeweihten.«
Da nahm sie eine aufrechte, abweisende Haltung ein, riß die Augen auf und zischte frostig: »Geweihte!?«
Die Umstehenden begannen ob der kläglichen Desinformation des Elfen zu kichern und zu glucksen.
»Sind das keine Geweihten? Ich dachte.« Er zuckte die Achseln. War das so wichtig?
Während Rohaja noch brüskiert schwieg, lachte jemand: »Typisch! Nein, das sind nur Laienbrüder!«
Wo da nun der gewaltige Unterschied verborgen liegen sollte, verschloß sich Feledrions Einsicht, allerdings war ihm dies auch herzlich gleichgültig. Kopfschüttelnd wechselte er das Thema: »Was hat euch überhaupt so lange aufgehalten? Die Korge...brüder hatten euch angekündigt.«
»Schau uns doch an! Der Scholar Adaons hat unvermittelt zwei Feuerbälle auf uns geworfen!«
Einige waren also nun so geschwächt, dass sie umkehren mußten. Die anderen aber folgten Feledrion den gewundenen Weg wieder hinab.

An einer engen Biegung wurde der Elf von Zori und den Magiern beinahe über den Haufen gerannt. »Was ist los?« wollte er wissen, doch sie rief nur: »Bloß weg hier!« und setzte dies auch sogleich in die Tat um. Feledrion wähnte eine Wiederholung des Zaubers, der auch ihn in die Flucht geschlagen hatte.
Die Korbrüder folgten rückwärts, die nachdrängenden Orks bremsend. Augenblicke lang verlor angesichts der vielen wimmelnden Gestalten um ihn her die Übersicht. Eilig plazierte seinen störend umherschlenkernden Beutel am Wegesrand, legte »ama tharza« rufend die Hände auf die Brust und trat an die schmale Front, die sich soeben bildete. Die Magier hielten sich auffällig zurück, aber auch menschliche wie orkische Kämpfer überstürzten nichts, standen sich mehr drohend gegenüber, Feledrion mitten unter ihnen.
Dann endlich kam der Zusammenstoß. Unter schweren Verwundungen wurden die Schwarzpelze niedergemacht, während sich ihr Anführer bedenklich zurückzog.
Urplötzlich errichtete er eine Erzwand zwischen sich und allen anderen. Eilig ließ sich Feledrion hinaufwerfen und kletterte hinüber, doch der Schamane war bereits ein gutes Stück entfernt und zog gerade um eine Windung des Weges, um sich Feledrion Blickfeld erneut zu entziehen.
Einen Hinterhalt vermutend, folgte ihm der Elf vorsichtig und gebückt, zwischendurch nach hinten Ausschau haltend. Wo blieben die anderen schon wieder?
An der Biegung angelangt, folgte ihm noch immer niemand! Allerdings war der Schamane ebenfalls verschwunden. Hier stimmte doch schon wieder etwas nicht!
In einem Gefühlsgemisch aus Verwirrung, Ärger und Erleichterung kletterte er mühsam zurück zu den anderen.
Was war das für ein müder Haufen! Mancher lag angeschlagen halb im Felde, die Magier disputierten schon wieder, anstatt Hand anzulegen. Dass er allein dem Schamanen gefolgt war, interessierte offensichtlich niemanden - die wenigsten hatten es überhaupt recht mitbekommen.
Mit dem letzten seiner Seelenkraft versorgte Feledrion noch einen der tapferen Kors, den es besonders übel erwischt hatte, danach suchte nach seinem Beutel. Jener aber lag nicht mehr an seinem Platze, was sein momentanes geistiges Durcheinander noch verstärkte. Suchend lief er zwischen den Menschen einher und wollte schon einen jeden fragen, ob er wisse, wer den Beutel genommen habe, der ja kaum etwas enthielt. Da gewahrte das Feixen einiger Umstehender. Sein Blick schwenkte, dem ihren zu folgen, über Tarlisin bis hin zu Yoffrynn, der ihm offenbar schon ein wenig länger das gesuchte Stück entgegenhielt.
»Habt Ihr dies hier verloren?«
»Nein, abgelegt!« Etwas pikiert schnappte sich der Elf seine Habe und wandte sich zum Gehen. Diese Menschen! Keinen Sinn für Ordnung!

Endlich hatte er Ruhe zum Nachdenken! Seine Intuition schrie ihn geradezu an. Vielleicht etwas zu laut, da er sie nicht gleich verstand. Zu viele Nebensächlichkeiten hatten ihn vom Wesentlichen abgelenkt, aber auf einmal verstand er. Natürlich! Zori hatte das Horn erbeutet! Deshalb wurden sie von den Wildhaaren verfolgt, deshalb blieben die Krieger, den Rückzug zu decken, und deshalb flüchtete der Schamane selbst dann noch, als ihm nur Feledrion nachsetzte! Eigentlich schade, dass er im entscheidenden Moment nicht dabeigewesen war! Wenigstens gesehen hätte er es gern einmal.
In der Burg konnte er weder Zori noch die drei Magier finde, und auch Draknuh fehlte auffälligerweise. Da er die Menschen inzwischen gut kannte, ahnte er schnell, wo sie das Horn hingebracht haben mussten: In den Rondratempel. Folgerichtig begab er sich nun dorthin - wie immer der Sicherheit wegen allein.
Und tatsächlich! Dort saßen die drei Magier völlig ermattet am Wegesrand vor dem Tempelchen. Näherkommend spürte er indes eine Macht, die an seiner Seelenkraft zu zehren drohte. Draknuh kam ihm entgegen, führte den Elfen wieder ein paar Schritte fort. Und er mühte sich, seinen Frage und Vermutungen auszuweichen, doch jener war sich längst sicher. Und weil er einsah, welche Gefahr das Horn momentan für ihn bedeutete, kehrte er auf die Burg zurück.

Isreada de Medié, die tote Magierin und Halbelfe, räumte soeben ihr Lager neben Feledrions. Sie müsse sofort in ihre Heimat Al'Anfa abreisen, wo eine Seuche ausgebrochen sei.
Der Elf begleitete sie ein kleines Stück Wegs, sie zu verabschieden - und vor allem, noch etwas über sie zu erfahren. Doch wie gut kann man schon jemanden in einer Stunde kennenlernen!

Es dunkelte bereits, als er die Burg wieder erreichte.
Im Rittersaal ging etwas vor. Draknuh, Zori und einige Magier saßen dort beisammen, doch die Gebrüder Kor ließen niemanden zu ihnen. Das Gerücht ging, das Horn sei nahe des Tempels vergraben worden. Schon wollte sich Feledrion angesichts einer solchen Wahnsinnstat die Haare raufen, als ihm sein Gefühl eines Besseren belehrte: Das Artefakt war in der Burg, stellte hier aber offenbar keine Gefahr mehr für seine Seelenkraft dar. Nun gut, wenn man seine Anwesenheit nicht wünschte, gedachte er nicht, sie sich gewaltsam zu verschaffen.

Ein kleines Grüppchen hatte sich in der Eingangshalle versammelt, darunter auch der Waldelf Siar'Fay. Dieser erklärte dem Schwane, der Großmeister Adaon läge im Streben, aber man könne ihn mit einer Mixtur retten. Es fehle an einer einzigen Zutat. Ein Magier erklärte, es gehe um einen Rondrapilz, einen Pilz, dessen roter Hut weiße Tupfen aufweise.
»Seltsam«, meinte Siar'Fay, »bei uns nennt man ihn den Rot-Weiß-Sprenkler.«
Die Hexe, die in den letzten Tagen gelegentlich aufgetaucht war, wußte von einem solchen Gewächs, welches irgendwo hinter der Taverne unter der Hecke »links oder rechts« stünde, war aber nicht bereit, die Leute zu führen.
Feledrion hingegen beteiligte sich bereitwillig an der Suche. Für einen Lichtzauber fehlte ihm die Kraft, doch zwei Lampen und ein Stabzauber sorgten dafür, dass die Suche der fünf in dunkler Nacht und inzwischen strömendem Regen nicht allzu lange dauerte.

Hernach hoffte sich Feledrion in der Schenke trocknen zu können, doch gönnte man ihm keine Ruhe. Ein Bauer und eine Bäuerin sprachen ihn an, ohne dass er zunächst recht verstand, was man von ihm wolle. Er als mächtiger und kluger Elf, der die Natur liebe - so ungefähr die Argumentation - müsse unbedingt gegen eine schreckliche Angelegenheit vorgehen. Ein Mann prahle in aller Offenheit damit, unentwegt Leichen zu zerschneiden.
Feledrion begriff zwar noch immer nicht, was ihn dies alles anginge, oder auch nur, wen so etwas nützen oder schaden könne. Andererseits vermochte er nicht, die so erregten Menschen einfach um seines eigenen Friedens Willen fortzujagen. Schließlich folgte er ihnen schicksalsergeben an den Tisch mit dem ach so schändlichen Anatom.
Und welch Wunder! Er brauchte gar nichts zu sagen, allein seine Anwesenheit gab den Bauersleuten den Mut, auf den Anatomen und seinen Tischnachbarn von Herzen einzuschimpfen!
Kopfschüttelnd wandte er sich ab von diesem lauter werdenden Platze, ohne dass die zunächst bemerkt worden wäre.
Draknuh erschien mit Sorgenfalten in der Taverne. »Feledrion, ich muss Euch sprechen!«
»Gewiss.« Es mußte Draknuh sehr wichtig sein, wenn er ihn nach ihrem gemeinsamen Wege auf einmal wieder in der Mehrzahl anredete!
Unglücklicherweise stürzten in diesem Moment die Bauern hinzu. Draknuh als Boroni müsse diesem Treiben des Gotteslästerers ein Ende setzen!
Jetzt siegte Feledrions Selbstschutz einmal über seine Hilfsbereitschaft, und er ließ den Armen Draknuh allein mit dem lamentierenden Pärchen.
Bald aber hatte sich der Dunkle von den Lästigen befreit und trat nun mit Zori an Feledrions Tisch. Mit tiefernster Mine fragten sie ihn, ob er Verpflichtungen habe.
Sogleich dachte Feledrion an Atreo, den in Engasal zu besuchen er beabsichtigte, diesem von seiner Begegnung mit der Sharisad Yshija zu berichten, die Atreo so verzweifelt liebte. Wenngleich Feledrion nicht erwartet wurde, betrachtete er dies doch als eine gewisse Verpflichtung seinem Freunde gegenüber. Andererseits verströmten Draknuh und Zori solch eine Ernsthaftigkeit! Sie scheuten sich, Genaueres zu verraten, was Feledrions Neugier weckte. Nur sollten es zwölf Teilnehmer bei dieser Expedition sein, was wohl auf menschlicher Zahlenmagie beruhte.
Zori erwähnte, es könne sehr gefährlich werden, womit sie Draknuhs Zorn erregte, so gewänne man Krieger aber keinen Elfen. Beinahe gerieten sie darüber in ernsthaften Streit und drohten, ihre eigentliche Mission zu vergessen.
Diese Menschen! Feledrion war doch froh, wenn sie ehrlich zu ihm waren! Und der Zank sprach allzu deutlich für die hohe Bedeutung, die jene geheimnisvolle Reise für sie beide haben musste. Vermutlich ging es darum, das Horn fortzuschaffen. In jedem Falle war es gewiss erst einmal wichtiger als ein chronisch Liebeskranker, den ein einzelner Besuch ohnehin nicht zu heilen vermochte.
Deshalb brauchten sie ihn nicht mehr lange bitten, nachdem sie sich untereinander wieder beruhigt hatten. Der Elf sagte zu, er werde mitkommen und helfen, worum es auch ginge, und sie zogen sichtlich beruhigt ab.

Nachdem Adaon die fünf Pilzsucher an sein Bett hatte rufen lassen, ihnen für seine Rettung Dank auszusprechen, beschloss Feledrion, hiermit den Tag zu beenden. Gewiss würde er schon morgen abreisen müssen, obschon nicht wie erwartet nach Engasal.

Weiter am letzten Tag


Feledrion / Atreos Haus

© OHHerde 1998