Der Sonderemissär

von Oliver H. Herde

Spät am Abend - es mochte derselbe oder ein ganz anderer Tag sein - humpelte Atreo noch etwas benommen und mit getrübter Sicht auf den Burghof, wo sich viel Kriegsvolk versammelt hatte.
Der Ort glich eher einem Lazarett, denn einer Feste. Dem zum Trotze lag erwartungsvolle Stimmung in der Luft. Niemand schien so recht zu wissen, was er hier suchte, als auf einmal Trommelwirbel erklang.
Leute schritten zum Tore herauf, und als sie es erreichten, verkündete jemand: »Der König ist tot!« Schon wurde die Bahre hereingetragen, die Menschen knieten nieder, so auch Atreo.
Das Prinzlein tot? Atreo schalt sich selbst, den Reichsbehüter in Gedanken noch immer so zu nennen. War er auch älter als Brin, und hatte dieser in seinen Augen auch keine glückliche Hand bei seinen Staatsgeschäften bewiesen, so hätte er ihm doch kein so frühes Ende gewünscht.
Vor seinem geistigen Auge erstand die Szene neu, in welcher der junge Prinz ihm den Edlentitel zusprach. Ein Leben schien dies nun her zu sein!
Bei Fackelschein und Trommelklang trug man den Leichnam über den Hof, ohne dass Atreo viel hätte erkennen können. Es lag nicht nur an der Menschenmasse; seine Augen wollten ihm nur trübe Bilder bescheren, als stünden sie unter Tränen. Dabei weinte er gar nicht; viel zu dumpf war ihm zumute, viel zu wenig realisierte er noch den Tod eines anderen, der ihm ungleich nähergestanden hatte, denn der Herr Garethiens.
Unter den gleichmäßigen Schlägen einer einzelnen Trommel wurde der Körper in ein Gewölbe im unteren Teile der Burg gebracht. Die versammelten Herrschaften folgten langsam. In kleinen Grüppchen ließ man sie vor, dem Regenten die letzte Ehre zu erweisen.
Durch Zufall endete ein solches direkt vor Atreo, dass er als erster des nächsten die provisorische Gruft zu betreten hatte. Links lag Brin unter einer Decke oder Flagge aufgebahrt, umgeben von Getreuen. Genaueres konnte Atreo nicht erkennen, zum einen mangelnder Sehschärfe wegen, zum anderen, weil er nicht recht wusste, wie er sich als Gesandter eines auswärtigen Herzogtumes nun zu verhalten habe.
Unsicher torkelte er voran. Schaute zu dem folgenden Magus zurück, was der wohl täte. Doch galten für jenen offenbar andere Regeln der Etikette, denn er bewegte sich nur gemessenen Schrittes vorüber, während ein Umstehender Atreo beinahe verzweifelt klingend zuflüsterte: »Tritt näher heran! Noch näher! Knie nieder!«
Widerspruchslos, aber ungelenk führte Atreo alles aus. Die Gelenke schmerzten ihn. Dann wies man ihm den Weg zu einer Treppe hinauf.
Oben sammelten sich Volk und Adel in betretenem Schweigen, welches nur zaghaft abebbte. Ein Mann auf der Empore begann zu sprechen, Emer werde vermisst, da brach jemand direkt neben Atreo in sich zusammen. Eilig brachte man ihn hinaus an die Luft. Atreo folgte geistesabwesend, das Schwert des Mannes in der Hand.
»Es gibt nichts zu sehen«, erklärte ein Elf dem von unten gaffenden Volke, welches noch anstand, den toten König zu ehren, »nur jemanden, den die Trauer übermannt hat.«

Soeben schritt Atreo ein weiteres Mal an diesem Abend die Stufen der Treppe in der Eingangshalle hinab, wobei er versuchte, sich die alten Schmerzen im rechten Knie und die neuen im linken Fußgelenk nicht zu sehr anmerken zu lassen. Er kam sich wie ein greiser Mann vor, wollte aber mit diesen Eindruck nicht noch andere anstecken.
Da holte ihn Ritter Alrik ein. Er war wohl beeindruckt gewesen, mit welcher Selbstaufopferung Atreo in der Schlacht nach einem Vertrauten gesucht hatte. Auf jeden Fall fühlte er ganz offensichtlich tiefes Mitleid, mochte es auch noch so schwer sein, die richtigen Worte zu treffen.
»Er war mir ein väterlicher Freund und Lehrmeister“, bemühte sich Atreo, zu erklären.
Alrik erwiderte: »Ich würde dir gerne wenigstens den Freund zu ersetzen versuchen.«
Ohne sich bereits erleichtert zu fühlen, lächelte Atreo dennoch dankbar - und nun seinerseits beinahe ein wenig väterlich.

Eine unruhige, fast schlaflose Nacht für Atreo schloss sich an. Eingezwängt in einem überbelegten Gemach voller verwundeter Kämpen, spukten ihm die Bilder der Schlacht im Geiste herum, und wenn er einmal wegdöste, vermeinte er aus den Kellern immer wieder einen wirren Singsang zu vernehmen: »Shihayazad! Shihayazad!«

*

Vergleichbar zum Vorabend saß man am nächsten Nachmittag konzeptlos und gegen jede Etikette unsortiert in der sogenannten Festhalle beieinander. Schon darin drückten sich die immensen Nachwirkungen der Schlacht auf das sonst so peinlich genau strukturierte Mittelreich und seine zeremoniellen Traditionen aus.
Vermutlich hätte Raidri es mit Wohlwollen, wenn nicht gar mit Freude gesehen, dass Atreo schon nicht mehr ganz allein ihn im Kopfe hatte, sondern wieder Augen auf die Damenwelt warf. Intuitiv hatte sich der Einhändige neben eine Knappin gesetzt, welche auch auf seinem Zimmer schlief. Zu mehr vermochten ihn seine angeschlagenen Triebe allerdings nicht zu bewegen, spiegelte das Durcheinander im Saale doch nur zu deutlich jenes in seinem Schädel wieder.
Endlich begann irgendein Kanzler oder Reichsmarschall das Gehör aller auf sich zu ziehen. Fürsten und Markgrafen wechselten die Worte. Man stritt sich, wer wann wo mit seinen Truppen zu spät gekommen sei.
Welch dummes Geschwätz! Was war mit Raidris Leiche?
Die Frage wurde aufgeworfen, wer nun das Reich zu regieren habe. Es gäbe einen Erben, war die feste Antwort. Und bis dieser im rechten Alter sei, bliebe Emer die unangefochtene Erste im Reiche.
Wo aber war Raidri?
Man erfuhr, Emer sei während der Schlacht verschwunden und würde noch vermisst.
Und Raidri?
Jemand fragte, welche Kompetenzen Emer überhaupt habe, das Mittelreich zu führen. Wollte da jemand von der Versammlung massakriert werden? Bei genauerem Hinsehen erkannte Atreo jedoch an einem langen Bart, es musste sich um einen Zwerg handeln, der dort am anderen Ende der Halle etwas erhöht saß. Man erklärte ihm, was er wissen wollte.
»Was ist mit dem Schwertkönig!?« platzte Atreo schließlich hervor.
Es war wohl nicht der allergünstigste Moment für diese Frage. Man handelte rasch das vorherige Thema ab. Dann herrschte kurz Ratlosigkeit, dass Atreo schon fürchtete, man wolle ihm eine Antwort verwehren.
Da aber erhob Herzogin Walpurga von Weiden ihre Stimme, wenn sie auch offensichtlich nicht recht wusste, von wo die Frage aufgekommen war: »Der Schwertkönig... Wir wissen leider nichts über seinen Verbleib. Er kämpfte an vorderster Front, konnte aber bislang nicht gefunden werden.«
Atreo war wie vor den Kopf geschlagen. Nicht gefunden! Sollte er einer Sinnestäuschung erlegen sein? Lebte Raidri vielleicht noch? War er in die Sphäre der Dämonen entführt oder in Borons Hallen übergegangen? Wie oft hatte er von Rondra gesprochen! Ob er wohl nun an ihrer Seite saß?
Vom weiteren bekam Atreo wenig mit. Erst, als die Ankunft eines besonderen Gastes angekündigt wurde, gegen den die Waffen zu ziehen ein Verbot unabhängig des Standes erging, hatte man Atreos Aufmerksamkeit wieder geweckt. So recht konnte er sich eigentlich niemanden vorstellen, den er ohne Not angreifen würde. Es musste politische Gründe für diese Vorsicht geben. In der Tat handelte es sich um den Answinisten und Reichsverräter Gero von Streitzig, der kurz darauf in den Saal geleitet wurde.
Im Grunde war es Atreo reichlich gleichgültig, was hier im folgenden ablief. So recht klar wurde ihm nicht, was jener denn nun im Einzelnen getan hatte. Er sah und hörte nur die Erregung des versammelten mittelreichischen Adels, der den zerknirschten Gero am liebsten auf der Stelle niedergemacht hätte. Offenbar war jener hier, reumütig in die Arme des Reiches zurückzukehren, und er verlas eine Namensliste derer, für die er ebenfalls sprach. Pfuirufe begleiteten seine Ausführungen. Ein Praiot nahm sich Geros an, dass es Atreo beinahe schlecht wurde. Großherzig wurde dem Abtrünnigen verziehen, nur um ihn anschließend zu einer gesonderten Befragung abzuführen.
Wie fühlte sich der Gesandte Engasals doch fehl am Platze!
Dies änderte sich zwar nicht, als Königin Emer unter Hochrufen erschien. Mit ihrem sicheren Auftreten, ihrer Gefasstheit Brin betreffend, nahm sie Atreo gleichwohl schnell für sich ein. Sollte sie doch Kaiserin sein! Er wusste niemand geeigneteren zu benennen.
Nach der Verlesung von Brins Testament wurde weiter Bilanz gezogen. Die Provinzherren berichteten, die Zwerge, die Aranier. Emer fragte, ob Gesandte des Alten Reiches oder des Kalifats zugegen seien. Wenn sie sich allgemeiner erkundigt hätte, wäre daraus Atreo die Verpflichtung erwachsen, sich als Engasaler Botschafter zu melden. So aber zog er es vor, sich davor zu drücken. Bei all den Toten stand hier gewiss niemandem der Sinn nach einem solchen Auftritt, der wohl nur allgemeiner Belustigung gedient hätte. Atreo hätte ohnehin nichts zu vermelden gewusst. Lediglich mit Raidris Tod hätte er die Versammlung erschrecken können, doch war er sich dessen nicht mehr so sicher. Der verschwundene Leichnam gaukelte ihm Hoffnung vor.
Schließlich geschah noch etwas Überraschendes: Da Borbarad tot sei und die Schlacht gewonnen, ordnete Emer ein gebührendes Fest an. Wieder einmal musste Atreo feststellen, wie leicht es manchem fiel, gewisse Befehle auszuführen. Er selbst saß eine ganze Weile recht reglos zwischen den Feiernden, vertieft in seine trüben Gedanken.
Ein Tumult weckte ihn. Jemand wurde beschuldigt, mit Borbarad zu paktieren. Es war Adaon der Barde, den man dort abführte! Anscheinend hatte er versucht, irgendwelche Borbarad verherrlichenden Pamphlete zu verteilen. Und schon reagierte der Adel, wie Atreo es auch vom gemeinen Volke nicht anders erwartet hätte: Man forderte die Verbrennung des Übeltäters.
Aber da stimmte doch etwas nicht! Warum hätte Adaon erst die Barden gegen den Dämonenmeister rüsten sollen? Eine Beherrschung? Atreo sprang auf und folgte dem Pulk hinaus auf den Burghof.
Aufmerksam lauschte er der Befragung des offenkundig verwirrten Poeten durch Geweihte und Magier, jederzeit bereit, sich mit einer Aussage für ihn einzusetzen. Doch man kam schnell von selbst darauf und stellte fest, Adaon war in der Tat beherrscht gewesen. Beruhigt kehrte Atreo in die Festhalle zurück.
Allerdings hatte die Angelegenheit kurz darauf noch ein Nachspiel. Rechtschaffen erbost ließ Königin Emer auf den Versammelten Adel eine donnernde Strafpredigt hernieder, wie man denn eben nur so eilig und vorverurteilend nach der Verbrennung hätte schreien können. Minutenlang tobte sie auf und ab, während die Menge betroffen schwieg, statt wie sonst nach beinahe jedem Satz Hoch, Heilig oder Unheilig zu johlen. Was für eine Frau!
Derweil sie aber noch wetterte, blieb Atreos Blick mit einem Male an einer anderen Hängen. Sogleich stand ihm der Atem still. Wie lange hatte er dieses liebliche Antlitz nur in seinen Träumen gesehen! Yshija, jenes wundervolle Wesen, welches er ja nur ein einziges Mal getroffen hatte und ihm doch von Beginn an immer im Herzen geblieben war. Oh, diese entrückten Augen!
Der Söldner - jener damals so überraschend aufgetauchte und glückliche Konkurrent - war nicht bei ihr. Doch wusste Atreo von Feledrion, sie liebte Gwydon noch immer, wenngleich sie wohl nicht oft beisammen waren. Natürlich konnte dies kein Grund sein, sie zu ignorieren!
So ließ Atreo es sich nicht nehmen, sie nach Emers Unwetter zu begrüßen. Mehr aus Höflichkeit fragte er sie nach Gwydon, doch schien sie sich über dessen Verbleib selbst nicht ganz sicher. Sie wirkte geistesabwesend.
»Hast du meinen Brief erhalten?«
Sie nickte, sagte aber nichts weiter dazu. Was hätte sie auch sagen sollen! Sicherlich jagte er wahrlich unerfüllbaren Hoffnungen nach, doch manchmal vermag man es eben nicht anders.
Immerhin wurde sie durch seine Frage angeregt, über Ajishy zu sprechen. Sie erwähnte, dass sie eine Gruppe Helfer zusammensuche und erwähnte eine Spur, die es gegeben habe. Leider verschwieg sie Genaueres, erklärte nur, sie sei in Begleitung des Magisters Lordarion, doch erweckte sie bei Atreo den Eindruck, es würde nicht lange dauern, bis man der Schwester näher käme.
Wie in seinem Schreiben und auch damals im Grünen Eber, sicherte er ihr alle Unterstützung zu, die er ihr geben könne. Trotzdem kam von ihr noch immer keine konkrete Aufforderung an ihn. Langsam machte er sich ernsthaft Sorgen um sie. Rührte ihre Verstörung von einem Erlebnis in der Dämonenschlacht her oder doch von der Suche nach der Schwester?
Wie auch immer, Atreo nahm sich vor, zumindest diesen Abend nicht mehr von ihrer Seite zu weichen. Und er versuchte, sie aufzuheitern: »Wirst du für uns tanzen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Als man den Barden hinauszerrte, trat mir jemand auf den Fuß.«
Auch das noch!

Langsam kam die verordnete Feier in Gang. Verschiedene Barden begannen nun mehr oder weniger ungestört, zu singen und Gedichte vorzutragen. Atreo indes hatte bisweilen alle Mühe, der unruhigen Sharisad zu folgen. Hoffentlich gab es unter den hunderten Anwesenden wenigstens eine Handvoll solcher, die nicht zu ihren Helfern zählten! Was kam er sich überflüssig vor, wie sie ihm ständig fortzulaufen drohte!
Als einer der Reimeschmiede ein Lied über Raidri ankündigte und ihn als den größten Helden der Gegenwart anpries, raunte Atreo seiner Nachbarin seufzend zu: »Wenn er nur noch lebt...!«
Ratlos blickte Yshija zurück. Wie hätte sie auch ermessen können, was gerade in ihm vorging!

Später am Abend sollte es Yshijas Fuß besser gehen. Nur zu gern hätte Atreo ihr bei den Vorbereitungen zum Tanze geholfen, doch ihr standen weit mehr Hände zur Verfügung, als eine gesamte Tanzgruppe benötigt hätte.
So sicherte er sich wenigstens einen Platz ganz vorne. Und er erwog, ob es nicht passen würde, wenn er anschließend sein Lied sänge, in dem er seine erste Begegnung mit der Sharisad beschrieb.
Da begann es. Vom ersten Schritt an saß Atreo wie verzaubert da, reglos in einer Trance, in der allein seine Augen ihren Bewegungen zu folgen vermochten. Tiefe Trauer überkam ihn. Er hatte gehofft, halbwegs über sie hinweg zu sein, doch die Tränen, welche seine Wangen hinabfluteten, straften diesen Glauben Lügen. Würde er je dauerhaftes Glück mit einer Frau finden?
Beim nächsten Tanze schlug seine Stimmung um, dass er es sich nicht recht erklären konnte. So sehr freute er sich über Yshijas anmutige Darbietung - ja, schon über ihre bloße Anwesenheit - dass es ihm nur noch mehr Tränen abforderte.
Offenkundig hatte die Sharisad bei der Königin eine ähnliche Wirkung erzielt. Eifrig vor Begeisterung lief Emer zu ihr, sich zu bedanken und sie auszuzeichnen. Ein Tuch mit dem füchsischen Banner derer zu Gareth überreichte sie der Tulamidin als Wertschätzung.
Yshija zeigte sich geehrt, erklärte aber, nach den Tänzen, welche zum einen Trauer und Verzweiflung, zum anderen die Freude symbolisierten, müsse nun noch jener der Zuversicht folgen. So bat sie einen Barden in Atreos Nähe, das Wappentuch für sie bis hinterher zu verwahren, dann wirkte sie ihren dritten Zaubertanz.
Bei Atreo konnte dies nicht wirken wie bei den anderen Zuschauern, denn die Hoffnungen, welche Yshija in ihm weckte, richteten sich auf Raidri und ganz besonders auf sie selbst. Kein Wunder also, wenn ihn dies nicht beruhigte!
Als die letzten Klänge verflogen, tobte der Beifall. Selten bedauerte der Einhändige etwas so sehr, wie nun nicht wie jeder applaudieren zu können. Zum Ersatz schlug er unermüdlich auf die Sitzfläche seines Stuhles, bis Yshija sich zur Erholung zurückzog. Da konnte er endlich wieder seine Augen trocknen.
Zum Singen fühlte er sich jetzt kaum mehr in der Lage. Außerdem wollte er es nicht ohne ihr Dabeisein tun. Einstweilen schien der Teil der Vorträge ohnehin beendet, als traue sich niemand, nun noch seine Künste darzubieten.
Sich selbst zunächst kaum darüber bewusst, starrte Atreo auf die Flasche Ingerimms Donnerschlag, welche der Glaubensbruder neben ihm umklammerte. »D... darf ich einen Schluck...?« fragte er heiser.
»Natürlich...«
Fast riss er ihm den Schnaps aus den Händen. Tief setzte er an, und es sollte nicht mehr allzu lange dauern, bis der Einhändige dem Glaubensbruder all sein Herzeleid ausgeschüttet hatte.
Um so länger ließ Yshijas Rückkehr auf sich warten, und so trank sich Atreo in wechselnder Gesellschaft und mit wechselnden Alkoholika durch die Festhalle und anschließend durch weitere Teile der Burg.
Erst spät in der Nacht gestand er sich in einem lichten Augenblick ein, ganz gewiss keine noch so blasse Aussicht auf eine noch so kurze Zweisamkeit mit der Geliebten zu haben - nicht hier und nicht heute. Folglich begab er sich zu Bett, als es in weiten Teilen Mersingens schon sehr still geworden war. Sein Schlaf war der eines Toten - die einzige wirkliche Hilfe, die ihm der Suff seit jeher gewährte.

Zu Frühstück und Mittagsmahl sah er sich außerstande. Während sich der Adel nach Regionen gruppierte und die Gelegenheit zu kleinen Hoftagen nutzte, geisterte Atreo als vollendeter Außenseiter ziellos durch die Burg.
Wie nur sollte er Yshija unter die Augen treten? Gewiss war ihr gestern sein Zustand nicht entgangen. Und würde sie ihn benachrichtigen, wenn sich Neues von der Schwester ergäbe? Bei der vorigen Spur hatte sie dies auch nicht getan. Wenn auch aus anderem Motive heraus, war sie gegenwärtig wohl wenigstens so unzurechnungsfähig wie er selbst.
Doch sie reiste ja nicht allein! Vielleicht ließe sich der Magister ja erweichen, ihm seine Mithilfe zu ermöglichen. Sogleich suchte er ihn auf.
Jener durchschaute den Einhändigen allzu leicht in seinen Gefühlswallungen. Weniger die Worte als der Ton gaben den Ausschlag, Lordarion auf Atreos fast verzweifelte Bitten hin zusagen zu lassen, ihn über besondere Entwicklungen zu unterrichten. Der Magister fühlte sich selbst Yshija allzu verpflichtet, als dass er Atreo diesen Wunsch abzuschlagen vermochte.

Unter einem trüben Firmament trat Atreo den langen Rückweg an - allein, zu Fuß und fortwährend mit den Augen Yshijas und dem Leichnam Raidris im Geiste.


Atreos Haus

© OHHerde 1998