Feledrion auf dem Drachesteinturnier

Der Turniertag

von Oliver H. Herde

Das Licht eines bedeckten Tages fiel durch das Fenster herein. Schon eine ganze Weile lag Feledrion auf seiner Schlafstatt. Über ihm - vor seinem geistigen Auge - schwebten die Gesichter Atreos und Yshijas. Er war sich nicht mehr so sicher, ob er ihr Atreos Zustand gänzlich verschweigen durfte. Zumindest von seiner Liebe hatte sie ein Recht zu erfahren, wogegen Feledrion sie vor den Eskapaden des Einhändigen lieber verschonen wollte.
Endlich kam er auf die wunderbare Lösung: Atreo hatte damals ein einigermaßen humorvolles Lied über seine Begegnung mit ihr gedichtet, in welchem doch seine Liebe zu ihr eindeutig herauskam. Und was konnte einen geschickteren Anlaß bieten, es Yshija vorzutragen, als der Bardenwettstreit heute Abend? Gewiß würde sie als Tänzerin ihn aufmerksam verfolgen!
In aller Gemütlichkeit kam Jaldek die Holztreppe herab.
»Guten Morgen!« begrüßte ihn Feledrion schmunzeln. »Ging nicht die Rede, du müßtest in aller Frühe an Waffenübungen teilnehmen?«
»Oh ja«, erwiderte Jaldek und tat wie entrüstet. »Unerhört, dass man mich nicht weckte!« Er lachte, frühstückte in Ruhe und brach dann zum Turnierplatze auf.
Der Elf hingegen folgte seinem Plane und begab sich in die Taverne, in welcher man sich zum Bardenfeste anmelden konnte. Die Bewerberschar hielt sich in überschaubaren Grenzen. Wie wundersam aber mutete Feledrion an, dass er die meisten anwesenden kannte: Der Narr und seine Begleiterin von gestern Nacht traten ebenso an, wie Voronjev und Gwydon Silbersang. Sogar Yshija saß nahebei, doch schien sie am Wettbewerbe nicht das Interesse einer Kandidatin aufzubringen.
Ein jeder gab nun dem Preisrichter Auskunft, wie er angekündigt zu werden wünschte, und wie lange er vorzutragen gedenke. Beiläufig erwähnte Feledrion für alle Fälle, er nehme aus privatem Anlaß teil, nicht um zu gewinnen. Und da ihm nicht recht wohl bei dem Gedanken war, sich vor so vielen Rosenohren produzieren zu müssen, über deren Reaktion er noch dazu nur waghalsig spekulieren konnte, bat er darum, nicht als Letzter aufzutreten.

Das Turnier für das `gemeine Volk' lief bereits, als Feledrion das Feld erreichte. Soeben war die verschleierte Novadi an der Reihe, ihre Künste mit dem Bogen zu präsentieren. Sie stellte sich gar nicht schlecht an, doch traf leider keiner ihrer drei Schüsse das Ziel. Und wie Feledrion erfuhr, war es bislang einem jeden Schützen ebenso ergangen.
Bei jenen, die folgten, war die allerdings auch vorwiegend nicht weiter verwunderlich. Schon beim Anblick, wie mancher seinen Bogen hielt, kam dem Elfen das kalte Grausen. Andere, vielversprechendere Kandidaten fanden nicht den rechten Zeitpunkt, die Sehne loszulassen, verrissen oder mißachteten den Wind. Wahrlich, es war stürmisch an diesem Morgen!
Irgendwann trat auch ein Elf an, und schon mit dem ersten Schuß gelang es ihm, diesen Wettkampf vor der Lächerlichkeit zu retten. Doch auch ihm trieb der Wind die beiden anderen Pfeile fort. Fast bedauerte Feledrion, den Ruf seines Volkes nicht selbst zu verteidigen, doch stand ihm solcher Ehrgeiz gewiß nicht gut an.
Am Ende des Bogenschießens hatten einzig zwei Elfen und ein Mensch wenigstens je einmal getroffen. Waren dies die Kämpen, die die Horden des Dämonenmeisters aufhalten sollten?
Das Gestech im Zweikampfe folgte im Anschluß, welches Feledrion jedoch nur noch mit gesenkter Aufmerksamkeit wahrnahm. Vielmehr beobachtete er wiederum die Novadi. Von einem Schaulustigen erfuhr er Näheres über sie: Es handele sich um eine Achmad'Sunni, eine Frau, die für ihre Familie die Blutrache durchzuführen habe.
Mitleidig und fasziniert verfolgte der Elf ihre Bewegungen. Da entdeckte sie ihr Schwert, das sie kurz an einen Pfahl gelehnt abgestellt hatte, in ungewünschtem Zustand. Jemand hatte es mit wirrer Ornamentik aus einem weißen Material verziert, welches Feledrion nicht kannte.
»Mein Schwert!« rief die Achmad'Sunni entsetzt aus. »Was ist damit passiert?«
Das umstehende Volk brach in schallendes Gelächter aus, und selbst Feledrion kam nicht umhin, vergnügt zu schmunzeln.
Sie bückte sich nach einem Stoffetzen, der bei ihrer Waffe lag, und hob ihn auf. »Wer war das!? Wem gehört das?«
»Vielleicht jemandem, der noch mehr davon im Überfluß hat«, erklärte Feledrion und wies auf ein in der Nähe stehendes feixendes Männlein, dessen Gewand gänzlich aus bunten Fetzen bestand. Der Elf wunderte sich kaum noch, hier auch einen Kobold anzutreffen.
Sogleich flüchtete jener, und die Frau setzte ihm nach. Doch nicht weit, dann kehrte sie zu ihrem Schwerte zurück, welches sie inbrünstig bemitleidete.
Eine in eine schwarze Kutte gehüllte Gestalt schwebte heran. In ihren weißen Händen brachte sie einen Wasserschlauch, mit dessen Inhalt sie die Schnörkel schweigend von der Klinge hinabwusch.
Unglaublich! Ein dienstbarer Geist, der zu niemandem zu gehören schien!
Nachdem er wieder entfleucht war, nahm Feledrion noch die Gelegenheit auf, die Tochter der Khom anhand von Atreos Zeichnung nach Ajishy zu fragen, doch leider kannte sie die Schwestern nicht.
Plötzlich machte ein Elf auf sich aufmerksam, indem er konfuse Warnungen von einer ledernen Schriftrolle herabzitierte. Die Umstehenden wußten nicht recht, wie zu reagieren sei. Eine direkte Gefahr ging wohl nicht von ihm aus, wenngleich er haltlose Drohungen brüllte.
Da tauchte der Kobold wieder auf und besprühte den Besessenen mit seiner weißen Masse, ihn auf seine Weise zum Schweigen zu bringen. Sogleich setzten einige Menschen hinterher, brachten den Elfen zu Fall und entrissen ihm das Leder. Zwar brach Gwydon eilig die Beherrschung, die so offensichtlich auf dem Elfen lag, dennoch führte man jenen ab.
Gewiß würde dies nicht die einzige Störung des Turniers durch borbaradianische Zaubermacht bleiben!
Und wie zur Bestätigung offenbarte Draknuh kurz darauf Feledrion, man müsse befürchten, die Borbaradianer würden die Schwächung ihrer Gegner durch die Turnei ausnutzen und des Abends oder am nächsten Morgen die Stadt angreifen. Besonders deutlich weise die ausdrückliche Aufforderung an alle Magiekundigen hin, sich registrieren zu lassen und auch am Wettstreite teilzunehmen. Von dieser Anordnung wußte Feledrion zwar nichts, da er keinen der öffentlichen Anschläge gelesen hatte, doch bestätigte ihn dies nur ein weiteres Mal in seinem Tun.

Vor einer Hütte hatte sich ein Auflauf gebildet. Weiß gewandete Priester stellten drei Kranke zur Schau. Der wohl Ranghöchste lief erregt auf und ab, zeterte, man müsse die Infizierten verbrennen, um sie von dem Bösen zu befreien.
Doch erwies sich schnell, nicht jeder Anwesende teilte seine Auffassung. Insbesondere Draknuh setzte sich für Heilung statt Tötung ein.
Demonstrativ stellte sich Feledrion dem Schreier in den Weg, der ihn weiterredend musterte und in einer Mischung aus Anwiderung und Angst vor ihm zurückwich.
Einem der Kranken, einem Schelme, welcher dem Elfen ob seiner vielen Schellen an Kappe, Schuhwerk und Stabe schon öfter aufgefallen war, erhob sich von seinem Platze und rief aus verzweifeltem Schabernack: »Ich bin krank, verbrennt mich!«
Derweil begann neben dem Hause ein Schamane eine Zeremonie zur Rettung der Leidenden vor der dämonischen Krankheit Die Bannstrahler unternahmen nichts dagegen. Das Volk stand gegen sie, ebenso die Repräsentanten der anderen Götter.
So schweifte Feledrions Aufmerksamkeit ab von jener für ihn bereits geklärten Situation zu einer Handvoll rufender Leute, die über die Hügel zum Ufer hinabliefen. »Boote kommen!« hieß es. Ein Angriff?
Sogleich eilte der Elf an den Flußarm hinunter. In der Nähe des Landungssteges hockte er sich ins Schilf nieder, die nahenden Kähne zu beobachten.
Zwei Ruderboote hielten direkt auf ihn zu. Nach Minuten der Spannung aber, in denen sich weitere Kämpfer am Ufer sammelten, drehten die Boote ab und fuhren die Tobimora weiter hinauf. Sie schillerten unwirklich. »Sphärenreisende«, meinte einer der Anwesenden beinahe enttäuscht.
Als Feledrion zu den Kranken zurückkam, hatte der Schamane den ersten bereits geheilt.

Mit Fayonah, der kleinen Halbelfe, spazierte Feledrion plaudern zwischen den Hütten einher, als Van Shear hinzukam und von einem Dimensionstor berichtete, welches man vorhin am Flußlauf der Tobimora geschlossen habe. Eigentlich wäre Feledrion mit Fayonah lieber alleine gewesen, doch da er nun hierfür keine Aussicht mehr erkannte, bat er den Mann, sie dort hinzuführen, obgleich jener beteuerte, dort sei nun nichts mehr zu sehen.
Unterwegs traf man auch noch einen barfüßigen jungen Druiden, der sich ebenfalls anschloß. Es ging einen vom Mittagsregen schlammigen Weg steil hinab, dass der Druide einmal ausrutschte und sich schmerzhaft auf seinen Vulkanglasdolch setzte. Dann erreichte man die Stelle, an der tatsächlich keine Spuren mehr zu finden waren.
Die vier aber, die kein Interesse verspürten, dem Turnier des Adels beizuwohnen, juckte es in den Fingern, etwas zu unternehmen. Sollte man zum anderen Ufer hinübersetzen, um das Feindesland zu erkunden? Allein die Ermangelung eines Bootes hielt sie von dem tollkühnen Plan ab.
Aus purem Tatendrang und jeweils privatem Unmut heraus - und um sich über die ach so ernsthaften Magister lustig zu machen - begannen die vier auf dem Wege zu scharren.
»Wie viele Zacken muß so ein Stern eigentlich haben?«
»Fünf.«
»Nein, sieben!«
»Heh, mal deinen Stern nicht über meinen!«
Letztlich kam man zu der Einsicht, der Boden war viel zu hart, um Zeichen zu hinterlassen, welche auch dem Auge eines achtlosen Menschen auffielen. So ging man noch eine Strecke am Ufer entlang und erreichte zu Feledrions großer Freude endlich auch den Waldrand. Der Weg führte nun über einen ausgedehnten Steg längs des Ufers bis hin zu einer Lichtung im Walde, wo Fayonah des Vormittags ein Geist erschienen war.
Nachdem man auch hier vergeblich nach Spuren gesucht hatte, erwachte wiederum der Schalk in Van Shear, der einen siebenstrahligen Stern in den weichen Waldboden kratzte, dessen Linien er allerdings in seiner gänzlichen arkanen Unkenntnis versäumte, durchzuziehen.
Feledrion war dies ganz recht, wollte er den Spaß doch nicht zu weit treiben. Doch legte er in der Nähe noch eine Stern aus sechs Tannenzapfen und setzte noch lachend einen siebten wie ein Türmchen in die Mitte, gestützt durch die anderen.
Befriedigt machte sich das Grüppchen auf den Rückweg. Kaum aber, dass sie den Steg verließen, kam ihnen wie auf Bestellung eine Abordnung von Magiern entgegen, unter ihnen auch der Mann mit dem Raben. Überfreundlich grüßten die vier die anderen und machten sich dann eiligst aus dem Staube.

Als sie einen Platzregen später Fayonahs Hütte wieder verließen, entdeckte Feledrion schon von weitem eine nahende Gruppe aus ernstgesichtigen Magiern und einem Mann samt Raben. »Achtung!« raunte er seinen Kumpanen im Unfug zu und schlug einen ausweichenden Kurs ein.
So einfältig waren die Magier jedoch nicht, dass sie dies nicht bemerkt hätten! Auch sie änderten die Richtung und schnitten den Spaßmachern den Weg ab, um sie erbost zur Rede zu stellen.
»Ihr habt dort schwarzmagische Zeichen zur Beschwörung von Dämonen gezogen und frevelhafte Tänze vollführt«, lautete der Tenor der Anklage.
Während die anderen lieber gänzlich geleugnet hätten, für die Symbole verantwortlich zu sein, erkannte Feledrion schon nach kurzem Wortwechsel neuerlich die Weisheit seines Bruders Amaryllion: `Eine Lüge muß sich so nah wie möglich an die Wahrheit anlehnen.' So stellte er sich den Fragen der aufgebrachten Menschen, welche wohl kurz davor standen, die vier den Bannstrahlern zu überantworten. »Ich bitte euch, überlegt, was ihr wirklich gesehen habt! Bemerktet ihr nicht, der Stern war im Inneren nicht durchgezogen? Allzu wenig kenne ich mich in arkaner Symbolik aus, doch weiß ich wohl, für eine Beschwörung werden alle Linien durchgezogen!«
Die Magi und Magae waren durch die Rede offenkundig verunsichert; keiner konnte sich recht daran erinnern. Auch über die Anzahl der Zeichen war man sich auf einmal nicht mehr einig.
Überlegen lächelnd erklärte der Elf: »Das hätte einer Gruppe von Magiern aber auffallen sollen!« und fügte beinahe lachend hinzu: »Spätestens bei den Kienäpfeln hätte euch doch aufgehen müssen, dies alles war nur ein Spaß!«
Den Magiern standen Augen und Münder offen. Zwei Stunden hatten sie am Flußufer gesucht, Spuren gelesen und interpretiert, nach dem Vorhandensein astraler Kraft geforscht, den Regen ertragen... Dies alles sollte vergeblich gewesen sein? Um eines albernen Scherzes Willen!?
Der Rabenfreund schüttelte lachend den Kopf.
Eine bleiche, schwarz gewandete Magierin erklärte in bitterer Resignation: »An Euch ist ein wahrer Schelm verlorengegangen, Herr Elf! Aber vielleicht hätte ich es wissen müssen.«
»Warum?«
»Weil ich zur Hälfte selbst Elfin bin.« Zur Bekräftigung schlug sie erst die Kapuze, dann die Haare zurück und verwies auf ihre angespitzten Ohren.
»Ach«, hauchte Feledrion. Das hätte er nicht vermutet! Zumal ihn nun, da sie ihm näher stand, ein ähnliches Gefühl überkam, wie in Gegenwart Draknuhs.

Vergeblich suchte Feledrion auf seiner Schlafstatt sitzend, seinen ob des baldigen Auftritts nervösen Magen zu beruhigen. Und noch etwas anderes lag in der Luft, wie sich bestätigen sollte: Vom nahen Turnierplatze drang aufgeregtes Geschrei herüber. So verließ Feledrion das Haus, nachzusehen.
Von überall eilte man in Waffen herbei. Eines der Zelte war von einer Größeren Zahl Untoter umstellt, diese wiederum von den Turnierteilnehmern. Im Zelt, so erfuhr der Elf, wurden Geiseln gehalten. Etwas abseits standen Magier im Kreise, soeben in einem magischen Geistesbund elfischer Tradition verschmelzend. Dort hinzuzutreten war es bereits zu spät, also umlief Feledrion den Platz, die Lage genauer zu ergründen. Die Stimmung kochte, die Menschen standen kurz vor dem Angriff.
Um einigen Kriegern schon vorher eine Bresche in die feindlichen Reihen zu schlagen, schleuderte der Elf einer Leiche mit Turban ein »fial miniza dao'ka« entgegen, doch das Ziel wurde nicht einmal erschüttert. Irgendeine antimagische Sphäre schützte es. Folglich konnte Feledrion auch auf diese Weise nicht behilflich sein, und da er weder Wolfsmesser noch Bogen mit sich führte, zog er sich ratlos zurück.
Kaum aber, dass er sich umwandte, kam ihm jemand entgegengelaufen, auf den Armen die schwer verwundete Achmad'Sunni. »Könnt Ihr heilen?« fragte er Feledrion. Schon wieder solch ein erstaunlicher Zufall!
Aber schon hatte der Elf seine Faszination darüber wieder im Griffe. »Leg sie dorthin«, rief er und wies auf den Baldachin, unter dem noch vor Kurzem der Herzog mit seinem Gefolge dem Turnier beigewohnt hatte.
Dort angekommen, machte sich Feledrion sogleich daran, sein Mandra in die Bewußtlose einfließen zu lassen. Er begann mit den Wunden an ihrem Arme und stellte nebenbei fest, dass sie etwas am Halse durch das Tuch hindurch gebissen hatte.
»Ich bin auch gebissen worden«, rief jemand von der Seite her.
Kurz schaute Feledrion, doch wirkte die Verwundung nicht lebensgefährlich. Auch schien sie den Mann nicht zu beeinträchtigen. Drum hielt er ihn hin: »Der Reihe nach! Erst sie.«
Obwohl er schon viel Kraft eingesetzt und die klaffenden Armtreffer geschlossen hatte, machte sie noch keine Anstalten, ihr Bewußtsein wiederzuerlangen. So wandte sich der Elf ihrem Oberschenkel zu.
Ein weiterer Versehrter wurde zu Feledrion gebracht. Man hatte ihm im Zelt die Augen ausgestochen. Folglich hatte man zumindest einen Teil der Gefangenen freisetzen können. Doch der Schlachtenlärm tobte noch immer. Andererseits hatte sich Feledrion auf die Novadi zu konzentrieren.
Das Bein war wieder heil, doch sie erwachte noch immer nicht. War also doch der Biß verantwortlich? Warum aber tat es dem Manne nichts?
Die Hand an ihren Hals gelegt beschwörte Feledrion: »bha'sama sala bian da'o!« Er spürte die Löcher in ihrer Haut zuwachsen, doch die Frau blieb weiter reglos.
Unfähig einer Erklärung, kümmerte er sich um den nächstschweren Fall, das Augenlicht des anderen zu retten. Es war unvermutet anstrengend, er mußte sich bis an die Grenzen seiner Seelenkraft verausgaben, doch immerhin gelang es.
Der Patient dankte seinem Heiler überschwenglich.
»Aber was mache ich nur mit ihr?« fragte Feledrion verzweifelt.
»Bring sie doch in den Hesindetempel! Ich werde sie für dich tragen«, bot der wieder Sehende an.
Da Feledrion am Ende seiner Künste angelangt war, willigte er sofort ein. »Tut mir leid, dass du nun zu kurz gekommen bist«, verabschiedete er sich von dem anderen Gebissenen. Vielleicht kann dir jemand anders noch helfen.«
Geschwächt durch das Erlebte, wankte der Träger nicht schlecht unter seiner Last, dass Feledrion ihm schon bald trotz eigener Schwäche zur Hand ging. Da der Turnierplatz am unteren Ende des Dorfes lag, der Tempel aber zentral, mußten sie die Bewußtlose durch den halben Ort über hügeliges Gelände mit glitschig feuchtem Grase schleppen.
Als er in Sichtweite kam, überließ sie Feledrion wieder dem Menschen allein, um vorauszulaufen. Keuchend stampfte er in die Halle. »Ist jemand zugegen?« rief er, so laut er noch konnte.
`Nein, raus!' entgegnete eine Stimme in seinem Kopfe.
Sofort stürzte er wieder hinaus. »Da ist niemand, was nun?«
»Rastullah«, stöhnte die Kranke, nur für einen Augenblick halb aus ihrem Koma erwachend.
»Das Haus der Novadis steht am anderen Ende.«
»Ich weiß«, japste Feledrion und packte wieder mit an.
Immer langsamer wurden sie, bar jeglicher Reserven. Eine um die andere Hütte kroch an ihnen vorbei. Einen um den anderen Hügel ging es hinaus und hinunter.
Einen Moment lang erinnerte sich Feledrion des Bardenfestes, das für diese Zeit angesetzt war. Bestimmt hatte man es des Angriffes wegen verschoben. Wenn jedoch nicht, so war das Leben dieser Frau wichtiger als die Nöte eines chronisch liebeskranken Atreo, für den allein sich Feledrion eingetragen hatte. Fast hoffte er, dort zu spät zu kommen.
Es dunkelte bereits, als die beiden mit ihrer Patientin den Weg zur Behausung der Wüstensöhne hinaufschwankten. Erst kurz vor dem Eingang ließ Feledrion diesmal ab.
Er riß die Tür auf und fand einen einzelnen barbrüstigen Novadi vor. »Wir bringen eine Kranke deines Volkes. Sie wurde von etwas gebissen. Ihre Wunden konnte ich heilen, etwas muß noch in ihr sein, das sie hindert, zu erwachen.«
»Der Mawdli ist noch nicht da. Legt sie erst einmal hier nieder!« Er verschwand, wohl um schon etwas vorzubereiten.
So warteten Feledrion und der Mensch, der sich als Geweihter des Firun herausstellte. Sie warteten lange, und die Gedanken des Elfen wirbelten wild um die Schlacht und die Novadi, jedoch auch um Atreo und Yshija und den Wettbewerb, den er zu verpassen befürchtete.
Doch da die eine vor ihm lag, fiel es ihr leicht, seine Sorgen bald wieder zu dominieren. Und nebenbei stieg wieder Feledrions alte Neugier auf, wie sie wohl unter dem Schleier aussehe. »Sie bekommt ja gar keine Luft«, erklärte er und begann, sie vorsichtig auszuwickeln. Dieser Grund genügte dem Menschen gar, ihm dabei zu helfen. So legten sie gemeinsam ein liebliches Antlitz und herrliches langes Haar frei.
»Ist das schön!« seufzte Feledrion verträumt.

Endlich erschien der Mawdli, und Feledrion erzählte ihm noch einmal alles ausführlich.
»Ihr habt recht getan«, erwiderte dieser, »die Tochter der Wüste zu mir zu bringen. Ich werde ihr helfen können. Und nun geht bitte!«
Der Geweihte gehorchte sogleich. Feledrion aber sträubte sich. »Ich hätte gern gewußt, ob sie überlebt.«
»Sie wird, sei unbesorgt!«
»Ich wollte dabei sein.«
»Tut mir leid, Ungläubigen kann ich dies nicht gestatten. Ich kann Rastullahs Ratschluß nur ohne dich suchen. Wir geben dir Bescheid.«
So verließ Feledrion schweren Herzens das Haus.

Die Taverne lag nahebei, folglich ging er dorthin, seiner nächsten Verpflichtung nachzukommen. Zu seiner Überraschung hatte der Sängerstreit trotz fortgeschrittener Stunde noch gar nicht angefangen. Köstlicher Braten wurde verteilt, doch Feledrion Nervosität, seine Sorge um die Novadi, und die allgemeine Erschöpfung ließen ihn kaum etwas davon hinunterbekommen.
Eilig brachte er seinen Teller zur Hütte am anderen Ende des Dorfes. Kalt würde ihm dies später noch ebensogut schmecken.
Auf dem Rückweg schaute er noch einmal durch ein Fenster in die Hütte des Mawdli, doch konnte er allzu wenig einsehen. Man war wohl noch mit den Vorbereitungen zur Heilung befaßt.

In der Taverne hatten die Vorführungen indes begonnen. Eine junge blonde Frau, die sich wohl höherer Bekanntheit erfreute und auch schon gestern Abend hier gesungen hatte, läutete mit ihrer wohlklingenden Stimme das Fest außer Konkurrenz ein.
Leider hatte man den Barden den wohl ungünstigsten Platz zugewiesen - denkbar weit von der Darbieterin entfernt, dafür aber dicht neben der lärmbehafteten Theke. Deswegen bekam Feledrion zwar den Klang, kaum aber den Text zu verstehen.
Außerdem gab sich eine große Zahl der Gäste dem Rauschkraute hin, dass es Feledrion nicht nur den Spaß am Zuhören verleidete. Würde er bei diesem Qualm noch genügend Luft zum Singen schöpfen können? Welch eine Hitze!
Die Bardin endete ihre Vorstellung und ging unter tosendem Applaus ab.
Nun erhob sich eine kleine Frau am anderen Ende des Saales - zumindest kam sie Feledrion klein vor. Sie trug die Tracht einer Tochter der Khom, soweit er dies beurteilen konnte. Neben ihr am Tische erkannte er den Mann, bei dem er sich des Morgens angemeldet hatte - und Yshija!
Die Frau sprach davon, der Bardenwettbewerb würde nun beginnen, und man bekäme zuerst elfische Kunst zu hören. Noch begriff Feledrion nicht, erst als gleich darauf sein Name fiel, stand er überrascht auf. »Schon?« fragte er sich selbst, dann zuckte er die Achseln und trat unter mutmachendem Beifall ins Licht.
Er seufzte. »Nun, ich hoffe, ich kann bei dieser Luft meine Stimme halten«, begann er, als müsse er sich bereits für etwas entschuldigen. Anschließend erklärte er: »Ich werde ein Lied singen, welches ein Freund von mir über seine Begegnung mit einer Frau dichtete, die ich hier kennenlernte.« Dabei achtete er insbesondere auf Yshijas Reaktion. Neugier mischte sich auf ihrem Antlitz mit guter Laune, auch mit einer Ahnung? Ganz gleich, er mußte beginnen!
Schon nach den ersten Fersen stellte er erfreut fest, die Schüttelreime Atreos trafen den Geschmack der Zuhörer. Yshija kicherte in ihren Schleier. Kein Zweifel, sie war überrascht, denn sie erkannte allzu leicht, von wem die Rede war.
Ab der zweiten Strophe sang das Publikum den Refrain mit, was Feledrion eine ganz neue Art Glückes bescherte. Schon vergaß er Rauch und Hitze, hörte kaum mehr bewußt den Text, den er trotzdem fehlerfrei fortsetzte.
Die Begeisterung der Menschen steigerte sich nach Beendigung des Liedes zu einem rasenden Jubelsturme, welcher Feledrion mitriß und in ihm eine nie gekannte Euphorie auslöste. Sich unentwegt verbeugend, kehrte er an seinen Platz zurück, wobei er schon mit ersten Gratulationen durch einen Magier bedacht wurde.
Der Erfolg raubte ihm dermaßen die Sinne, dass er gar versäumte, Yshija weiter zu beobachten. Auch von der nachfolgenden Bardin, jener mit dem kurzen Rock, bekam er wenig mit, doch lag dies auch an dem dicken Manne, der ob der verräucherten heißen Luft am Tresen zusammenbrach. Sie sang wohl irgendein fröhliches Trinklied.
Anschließend jonglierte der Narr gemeinsam mit einem Freunde Bälle, während ein dritter dazu einen mitreißenden Rhythmus trommelte.
Nach ihrem Auftritt glaubte Feledrion, den Rauch nicht länger ertragen zu können. Auch wollte er noch einmal nach der Achmad'Sunni schauen. Da hielt ihn die Ankündigung zurück, nun gebe es zwei unvergleichliche Tänzerinnen zu bewundern, welche den Kontrast zwischen novadischer und tulamidischer Tanzkunst darböten. Mit letzterer, so glaubte Feledrion, müsse Yshija gemeint sein. Das durfte er auf keinen Fall versäumen!
Die andere Sharisad begann mit einem exotischen Kerzentanz voller geheimnisschwerer Mystik, für den allein sich Feledrions Bleiben reich gelohnt hätte. Er bemerkte, er war aufgesprungen, besser zu sehen.
Als jedoch Yshija darauf über die Tanzfläche wirbelte, Dynamik, Ekstase und Leidenschaft versprühend, verzauberte sie die Zuschauer vollends. Zwar hatte der Elf sie schon einmal im Traume tanzend erblickt, doch nun ergriff sie sein Herz. Oh, armer Atreo! Wie konnte er ihn mit einem Male gut verstehen! Welch ein Zauber! Wie in Trance fiel er in den Applaus ein.
Nun war die Reihe an Gwydon Silbersang. Da dieser aber ein Lied sang, welches Feledrion schon bei den Menschen gehört hatte, gab jener endlich dem Rauche nach und wandte sich zur Tür.
Die Achmad'Sunni kam ihm wohlgesund entgegen. Er gratulierte ihr zur Genesung, auch wenn sie sich wohl nur schwach an ihn erinnerte, dann trat er hinaus in die kühle Nachtluft. Glücklich breitete er die Arme aus, den frischen Nieselregen zu begrüßen.
Und doch hätte es ihn alsbald in die Taverne zurückgezogen, hätte sich nun nicht sein Magen vorlaut zu Worte gemeldet. Ja, nun war er bereit, den Braten zu vertilgen!
Eilig huschte er durch das nächtliche Dorf, da wurde er unvermutet aus der Dunkelheit beim Namen angerufen.
»Draknuh! Du verpaßt das Bardenfest!«
»Ach, dort stinkt es schlimmer, als in einem Knoblauchlager!«
»Und da verbirgst du dich hier?«
»Kannst du für mich nachsehen, ob noch irgendwer in diesem Hause dort ist?« Er wies auf das Gebäude der Wolfengarde.
»Gewiß.«
Schon schlich er sich näher heran und lauschte durch ein beleuchtetes Fenster hinein. Wenigstens drei Stimmen vermochte er zu unterscheiden. Auch im oberen Stockwerk waren Leute. Dort klang es nach einem Verhör.
So kehrte er zu Draknuh zurück und berichtete: »In diesem Haus wimmelt es von Menschen.«
»Gut, sehr gut!«
»Warum? Was hast du vor?«
»Die Geweihtenschaft will zu etwas Wichtigem aufbrechen. Ich hatte befürchtet, sie wären schon fort.«
»Sagtest du nicht, auch du seist Geweihter?«
»Äh... Ja, aber es wird zuvor eine Befragung durch die Praioten durchgeführt, der ich mich nicht unterziehen kann.«
Ein verschmitztes Grinsen legte sich über Feledrions Antlitz. Dafür hatte er natürlich Verständnis, unabhängig davon, was Draknuh wohl zu verbergen haben mochte. Vermutlich hing es damit zusammen, dass er tot war. In Feledrions Familie wußte man über derlei Äußerlichkeiten hinwegzusehen. Taten allein sprachen für oder wider eine Kreatur.
»Soll ich dich begleiten?«
»Nicht nötig.«
»Gut, ich gehe jetzt in die Hütte etwas essen. Ich kann im Vorübergehen darauf achten, wer sich alles vor dem Hause der Garde versammelt hat.«
»Danke. Ich bleibe hier, bis man aufbricht.«

Feledrion hielt sich zufrieden den Bauch. Was für eine wundersame Nacht! Doch sie war noch nicht zu Ende. Wenigstens etwas wollte der Elf noch von den anderen Sängern mitbekommen. Gerade schickte er sich an, die Hütte zu verlassen, als Zori hereintrat.
»Ist Draknuh hier?«
»Nein, aber ich weiß, wo er sich versteckt.«
»Versteckt? Er wollte doch mitkommen...«
»Und die Befragung?«
Die gilt doch nicht für Geweihte! Das hat er wieder falsch verstanden!«
Über die Menschen lachend, führte Feledrion Zori zu Draknuh.

Anschließend eilte er zur Taverne. Als er sie jedoch betrat, fand er am Tische der Barden nur fremde Gesichter vor. Da rief man ihn von vorne: »Feledrion! Gut, dass du kommst! Wir singen jetzt alle gemeinsam!«
Unsicher, wie das vonstatten gehen sollte, trat er zu den anderen. »Was singen wir denn?«
»Sing einfach immer nach, was er vorsingt!« erklärte einer, da ging es auch schon los. Zeile um Zeile sang man im Chor dem Vorsänger hintan. Fast fühlte sich Feledrion an die improvisierten Lieder seiner Heimat erinnert.
So beschloss man den Wettbewerb würdig, bevor das Ergebnis verkündet wurde: Die Preisrichter - bestehend aus dem Mann und den Tänzerinnen - hätten sich nicht entscheiden können zwischen all den hervorragenden Künstlern; Sieger seien demnach alle gemeinsam.
Von dem Preise - zwei Flaschen Met - kostete Feledrion nur der Höflichkeit halber. Doch genügten dies und der Rauch, sein rechtes Ohr so zu betäuben, dass er es nicht mehr spürte und nichts mehr darauf hörte. Folglich verzichtete er darauf, dem ausklingenden Feste länger beizuwohnen und begab sich erschlagen zu Bette.

Weiter am Abreisetag


Feledrion / Atreos Haus

© OHH