Diese kleine Geschichte entstand im Rahmen des elektronischen Postspieles namens Aventurische Seefahrt.

Die Mär vom Mauswanderer

von Oliver H. Herde

Friedlich scheint der Mond auf das ruhige Wasser. Welch angenehmes, laues Reisewetter!
In freudiger Erwartung trippelt die Maus die Hafenanlage entlang auf der Suche nach einem geeigneten Passagierschiff. Von einem riecht es ja besonders schmackhaft. Und neben den üblichen Hanfaufgängen hat man sogar an eine besonders einladende Rampe gedacht! Hier wird die Bedienung sicherlich ganz vorzüglich sein!
So springt die Maus nach nochmaligem vorsichtigem Schnuppern die Planke hinauf. Am oberen Ende macht sie halt und schnuppert noch einmal. Viel sehen kann sie nicht - so ist das bei Mäusen - aber es genügt, zu erkennen, dass es hier viele Riesenzweibeinratten gibt.
'Gestatten, Eratsmus von Otterndamm; wo kann ich mich hier anmelden?'
Nätürlich hört keine der Riesenzweibeinratten zu, geschweige denn, die Maus würde überhaupt von jemandem bemerkt. Man muss also aufpassen, nicht unbefugt betreten zu werden. Diese Riesenzweibeinratten sind ja solche Trampeltiere!
Hier und dort sind bereits einige Willkommenshäppchen auf den Planken angerichtet, das ist deutlich zu riechen. Vom Appetit übermaust, huscht Eratsmus zu einem Holzklotz, auf dem eine Riesenzweibeinratte sitzt, denn dort gibt es ein paar leckere Brotkrumen einzusammeln. Natürlich sammelt Eratsmus nicht einfach, sondern verspeist sie solgeich. Gut, aber etwas trocken, weshalb er sich nach etwas Trinkbarem umriecht.
Die Riesenzweibeinratte über ihm wirft soeben wertvolles Knochenmark mitsamt einem Rest exquisitester Proteine in unerreichbare Ferne. Ein Platschen verkündet der Maus, dass an diese Speise nur in Verbindung mit einem Bade heranzukommen ist. Nun, das soll notfalls kein Hindernis darstellen.
Doch gibt es in der Nähe durchaus leichter zu erreichende Leckereien, wie zum Beispiel die gut verteilten Tropfen eines stark alkoholisch duftenden Wassers. Das muss unbedingt probiert werden!
Hui, ist das ein starkes Wasser! Brennend, aber gut! Ein Gutteil der kleinen Lache verschwindet im Bauch des Mäuserichs, bevor er sich wieder umblickt.
'Hicks!' Jetzt könnte etwas Festes für den Magen nicht schaden. Die Riesenzweibeinratte hat doch eben 'Hicks!' ihre Krallen auf dem Boden abgestriffen und dabei wohlriechendes Fett zurückgelassen. Schon ist Eratsmus dort und schleckt genüsslich den Boden ab.
'Hicks!'
Muss diese Riesenzweibeinratte ihn so erschrecken? Schon will Eratsmus das Weite suchen, da bemerkt er, wie die Riesenzweibeinratte ihm etwas zu Essen anbietet. Vorsichtig schnüffelt er danach, kommt zaghaft näher.
Schon sieht es so aus, als erreiche das Mäuschen endlich den hingehaltenen Brotkrumen, als ihm die immer zahlreicher sich tummelnden Riesenzweibeinratten doch unheimlich werden. So viel Krach und Gerenne! Nachher tritt noch jemand auf Eratsmus oder betrachtet ihn als 'Hicks' Nachspeise!
Von einem Moment zum anderen zischt er deshalb unvermittelt seinem Brötchengeber davon, jagt über das Deck, da verliert er den Boden unter den Füßen. Das ist der Niedergang!
Ein paar Stufen überfliegt er förmlich, landet hart, hickst, rutscht weiter zur nächsten, wirbelt herum, um gegenzusteuern und springt dann die letzten Stiegen etwas geordneter hinunter, wie es sich für einen distinguierten Mäuserich eigentlich gehört.
Unten bleibt er erst einmal erschöpft liegen und stößt nur gelegentlich einen kleinen Hickser von sich.
Nachdem sich Eratsmus etwas erholt hat, krabbelt er den Gang entlang, in dem er gelandet ist. Hm, links oder rechts? Rechts riecht es besser.
Oh, wie schön, hier ist ein Spalt zwischen der festen Wand und einer dieser alles versperrenden Wackelwände. Und genau von dort kommen die feinen Düfte, für die sich Eratsmus so interessiert. So schlüpft er hindurch und begrüßt die Kombüse mit einem 'Hicks', bevor er sich genauer umschnüffelt.
Nachdem der Mäuserich sich erst einmal in einer Ecke erleichtert hat, riecht er sich genauer um.
Oh, welch ein Paradies! Wo es oben schon viel zu holen gab, ist hier alles im Überfluss vorhanden. Erlesenste Gaumengenüsse locken mit ihren vielfältigen Düften. Das muss Eratsmus unbedingt seinen Leuten erzählen! Hier kann man bestimmt die gesamte Sippe verköstigen und einen engeren Kreis von ein-, zweihundert Freunden.
'Hicks!' Aber zuvor könnte noch ein kleiner Verdauungsimbiss nicht schaden. Mit ein paar unsicheren Sprüngen gelingt Eratsmus der Aufstieg über ein paar Kisten zur Arbeitsfläche, wo diverse Zutaten wirr versammelt sind. Er schnüffelt hier, kostet da, als ihm unversehens ein Gewürzbecher davonrutscht. Eratsmus kann sich gerade noch halten, das Behältnis aber poltert zu Boden.
Nun, da unten ist das nicht schlechter aufgehoben als hier oben. Überhaupt ist es recht eng hier, wo doch der Boden so viel Platz bietet. Deshalb schert sich Eratsmus nicht darum, wie sein Bauch oder Schwanz weitere Kleinigkeiten hinabstoßen, sondern macht sich lieber begeistert über herumliegendes Obst her.
Schnell noch das Revier markiert, dann springt Eratsmus wieder hinab.
'Hicks!' Voll genug ist er nun wirklich erstmal; man kann also die Verwandtschaft einladen.
Er huscht wieder auf den Gang hinaus. Vorhin war er nach rechts gegangen, also tut er dies wieder - Rattenlogik. Als sich der Gang dann allerdings weitet, ist er doch ein wenig überrascht. Wo ist denn die Hinabstürzanlage mit den vielen Stufen?
'Hicks!'
Hier riecht es seltsam gefährlich - Mäusefresserkurzschwanzgroßratte? Vorsichtig tappelt Eratsmus durch das Halbdunkel, immer die Wand entlang - nach rechts natürlich - sowie schnuppernd und lauschend.
Vor Eratsmus tut sich eine Wand hervor, dass er nach links abbiegen muss.
'Hicks!'
Wo ist nur diese blöde Fallvorrichtung geblieben? Langsam wird ihm doch etwas unheimlich so allein auf fremden Gelände und mit diesem wenig anheimelnden Geruch. 'Ist da wer?' piepst er. Aber dann tapsen seine nervösen Füßlein wie von allein nur um so schneller, bis er wieder linksherum muss. So findet er die Stufen ja nie! Die waren schließlich rechts!
Ah, endlich wieder rechts! 'Hicks!'
Wieder rechts, dann aber links, nach einer Weile besonders links... Das ist ja wie im Labyrinth des Minokatzos!
Da hört die Wand plötzlich ganz auf. 'Hicks!' Was nun? Eratsmus hat sich verirrt! In dunklem, muffeligen Gelände ist er einsam und verlassen. Kein Freund in Sicht, kein rettender Schwanz, der sich ihm zeigte. Dabei wollte er doch nur mal nett ausgehen!
Ein Mäusetränchen kullert ihm über die spitze Nase.
Ein rüder Rattenrülpser reißt Eratsmus aus resignativer Ratlosigkeit - und befreit ihn ganz nebenbei von seinem lästigen Schluckauf.
Irgendwo muss die stufige Sturzvorrichtung ja sein! Also weiter nach rechts, bis man sie gefunden hat!
Ähm, wo rechts, wenn man keine Wand hat?
Achja, die hatte ja hinter ihm aufgehört! Also dreht er sich um.
Hm, links oder rechts daran entlang?
Rechts natürlich, denn sonst würde man ja zurückgehen!
Rattenlogik ist schon was Feines...
So läuft er also, so schnell ihn seine Beinchen tragen erst auf der rechten Seite der Wand entlang geradeaus, dann einen scharfen Knick nach rechts - sehr schön, hier muss er richtig sein! - dann wieder rechts, dann zweimal links, rechts, rechts, links...
Zwar wundert es ihn, dass es ihm vorhin nicht so weit vorkam, aber vielleicht hat er auch nur zuviel gegessen, also immer hübsch weiter!
In seiner Eile und seiner Angetrunkenheit bemerkt er den Türspalt zu seiner Linken zum Glück nicht. Wohlmöglich hätte ihn dies nur dazu verleitet, sich weiter im Kreise zu drehen.
So gelangt er ohne weitere Zwischenfälle endlich am gesuchten Ort an: 'Heureka! Die Sturzvorrichtung!' piepst er - womit er nebenher seine Grundkenntnisse in Alt-Güldenrättisch unter Beweis stellt.
Erleichtert springt er die Stufen empor. Allerdings wird sein fröhliches Ungestüm mehr und mehr gebremst, ist es doch ein sehr anstrengender Aufstieg, zumal in seinem alkoholisierten Zustand.
Oben angekommen japst er erschöpft nach Luft. Die Schatten wabern wirr vor seinen Augen. Helle Flecken blinken. Für einen Moment vermeint er gar, eine grüne Ringelschwanzriesenratte zu erkennen!
Nachdem ihm wieder besser geworden ist, sucht er nach der Rampe, seine Freunde und Verwandten auf dieses Schlemmerparadies aufmerksam zu machen.
Schon bald hat die Maus den Ausgang des Rattenvergnügungsetablissementes gefunden. Geradezu euphorisch jagt sie die Planken hinab und die Hafenanlagen entlang Richtung des Otterndammes, wo sie geboren wurde. Wie könnte sie ahnen, dass das Schiff, das sie soeben besuchte, bei ihrer Rückkehr nicht mehr hier vor Anker liegen wird! Aber vielleicht hätte Eratsmus die richtige Stelle ohnehin nicht wiedergefunden...


Atreos Haus

© OHHerde 1999