Ende einer Kutschfahrt

von Oliver H. Herde

Pfeilschnell jagte die Kutsche nach Altdorf entlang. Der Kaufmann und sein Gehilfe in ihrem Inneren schauten die anderen drei Fahrgäste nicht mehr ganz so befremdet an, wie am Vortag. Obwohl, seltsam wirkten sie schon, diese drei. Gewiss waren Zwerge nicht allzu selten im Reikland, doch diese beiden, die sich wie Leibwächter gebärdend den dritten, einen Menschen, zwischen sich sitzen ließen, glichen wandernden Waffenkammern. Man hätte meinen wollen, der hochgewachsene sei von hohem Range oder ein reicher Handelsreisender, hätte er nicht jene Gewandung eines Priesters getragen. Eine Tarnung vielleicht? Hinzu kam, dass der eine Zwerg den anderen - einen Muskelklumpen, fast eher breit als lang - mit 'Chef' titulierte, anstatt den Menschen, um dessen Gesundheit doch beide so besorgt schienen.
Das Horn des Kutschers erschallte, da man sich einer Kurve näherte, um etwaige andere Nutzer der Straße zu warnen. An ein Bremsen gedachte man nicht auf dem Kutschbock. Man war ja schließlich Eilexpress!
Doch plötzlich splitterte Holz, der Wagen überschlug sich, und die Reisenden wurden durcheinandergewirbelt. Jemand schrie: »Geld zurück!«
Gleich darauf herrschte Stille, jedoch nicht für lange. Während Hagen Grimmwolf noch benommen feststellte, daß er unversehrt geblieben war, da er weich fiel, begann es sich unter ihm zu regen. Im nächsten Augenblick stemmten ihn starke, klobige Hände empor. »He, lass das!«
»Wo ist die Tür?« fragte Grotho, dritter Sohn Grubalds von Grubenberg, und begann dann sofort zu lamentieren: »Sauerei! Ich will aussteigen! Vielleicht haue ich mich gleich durch die Wand?« Er unterließ es, da er ja später noch weiterfahren wollte.
»Warte! Die Tür ist gleich über mir.«
»Ich helf dir.«
Fast wurde Hagen hinausgeworfen.
»Unerhört! Ich werde mein Geld zurückverlangen«, rief Grotho ihm nach.
Hagen hingegen bot sich ein übles Bild: Einer der Kutscher lag auf einem Felsen jenseits des Weges zerschmettert. Den anderen entdeckte er unter der Kutsche begraben. Nur die Beine schauten darunter hervor.
Schon kam auch Grotho heraus, der gut klettern konnte. »Der Kaufmann und sein Diener sind tot«, erklärte er, als stelle er einen Mangel an einer gekauften Ware fest.
»Was?!«
»Ungünstig gefallen«, erklärte Bragi, der andere Zwerg aus dem Inneren rufend.
»Was ist mit den Pferden?« erkundigte sich Grotho.
Gemeinsam untersuchten sie sie. Die schweren Verwundungen würden sie nicht überleben, so erlöste sie Hagen, indem er ihre Hälse mit dem Spieß durchbohrte.
»Und das nach der halben Fahrt«, schimpfte Grotho. »Die Gesellschaft schuldet mir mindestens zwei Goldkronen.« Damit wandte er sich an Bragi, der gerade mit seiner Muskete herauskam: »Durchsuche die Kutscher nach meinem Schadensersatz!«
»Ja, Chef!«
Derweil erklomm Grotho wieder die Kutsche, um seine Sachen zu holen und nebenbei die Barschaft des Kaufmanns zu prüfen.
Verständnislos schüttelte Hagen den Kopf. Womit hatte er das verdient? Allein im Wald mit zwei Zwergen! Er schaute sich um, was die Kutsche wohl aus der Bahn geworfen haben mochte, und entdeckte einige größere Steine gleich hinter der Kurve, von der anderen Seite sicher nicht zu entdecken. Da bemerkte er Schatten am Wegesrand. Die bizarren Formen konnten nur eines bedeuten. »Ähm, Grotho?«
»Was denn!«
»Ein Hinterhalt! Chaosmutanten!«
Sofort ließ sich Grotho ins Innere der Kutsche fallen. Solchen Kreaturen wollte er nicht gerne ohne Schild und nur mit einem Rapier begegnen. Letzteres eignete sich besser für zarter gebaute Gegner wie zum Beispiel Menschen. »Bragi«, brüllte er hinaus, »brauchst du irgendwas aus der Kutsche?«
»Nein, Chef!«
Schon stürmten zwei der Mutanten heran. Der dritte jedoch war es, der zuerst angriff, indem er mit seinen vier Tentakelarmen Beile warf. Eines traf Grotho, der gerade wieder aus der Kutsche kletterte, prallte aber wirkungslos von seinem schweren Kettenmantel ab. Einem zweiten vermochte Bragi auszuweichen. Die anderen beiden gingen ohnehin fehl.
Mit der Lanze warf sich Hagen dem Anführer entgegen, einem zweieinhalb Meter großen Ungetüm mit den Beinen und dem Kopf eines Widders. Nach einer Finte gelang es ihm, ihn zu treffen. Allerdings erkannte Hagen nun, daß das Wesen allerhand einstecken konnte. Und austeilen auch. Schlug es zunächst noch vorbei, so ließ der zweite Hieb Hagen fast zu Boden gehen. Ein weniger trainierter Mensch wäre sofort tot gewesen.
Derweil legte Bragi seine Muskete auf den dritten Mutanten an. Es war ein mit Chitinplatten gepanzertes, menschenähnliches Wesen, das sich dort seinem Herrn auf der Kutsche näherte. Mit einer ohrenbetäubenden Explosion verließen die Geschosse den Lauf und durchschlugen den Brustpanzer des Chitinoiden, der ihnen aber viel von ihrer Gewalt zu nehmen vermochte.
So kümmerte sich der Mutant nicht weiter um den Schützen, sondern um sein bisheriges Ziel. Ein urgewaltiger Hieb erschütterte den Zwergen, doch die Wunde nichtachtend ließ dieser seine Axt gegen den Brustpanzer fahren. Ein Sprung entstand um das Einschußloch. Der nächste Hieb ließ den Panzer zersplittern, daß sich die Eingeweide über Grotho ergossen. »Mein Mantel! Dabei war er kaum verschmutzt!«
Bragi legte die Muskete ab, zog sein Beil aus dem Gürtel und eilte Hagen zu Hilfe. War er es doch, den zu schützen sein Herr versprochen hatte, da ihm eine Schlüsselrolle im Ränkespiel der Geheimbünde des Reiklandes zukam.
Indessen stürmte Grotho geduckt an den Tentakelarmigen heran und schwang ihm die Streitaxt zwischen den Beinen empor, wo sie kaum auf Widerstand stieß, durch den Körper glitt und so das Wesen in zwei Hälften spaltete. Abermals ergoß sich ein Blutstrom über Grotho, aber das war er ja langsam gewohnt.
Da Hagen erkannte, wie leicht er und Bragi den Widderköpfigen bislang nur verletzt hatten, legte er alle Kraft in seinen nächsten Stoß. Leider traf er dabei so unglücklich eine Rippe, daß der Speer zerbrach. Aber auch der überraschte Mutant verfehlte ihn mit seinen Hieben. Und als wäre dies nicht genug, rutsche Bragi aus und stürzte rücklings seinem ungestüm heranstampfenden Herrn in den Weg, der auch prompt über ihn fiel.
Blitzschnell hatte Hagen den Streitkolben aus dem Gürtel gezerrt, doch gelang es wegen des Gewimmels weder ihm, noch ihrem Gegener, einen Treffer zu landen. Bragi gar schlug schon beim Ausholen seinen Herrn.
»Trottel!« schrie Grotho und reagierte mit zwei für ihn so typischen Hieben seine Wut an dem Chaosmutanten ab.
Das Ungeheuer schwankte, was Hagen und Bragi sogleich wohl zu deuten wussten. Grotho hingegen zögerte einen Moment zu lange, obwohl er doch mit einem Troll einst eine ähnliche Situation erlebt hatte.
So kam es, wie es kommen musste: Der Hüne kippte wie ein gefällter Baum und begrub den wackren Zwergen donnernd unter sich.
»Chef!« kreischte Bragi. »Chef! Bist du in Ordnung?«
Hagen dagegen erstarrte. Das konnte niemand überlebt haben!
Sogleich versuchte Bragi, den Fleischberg fort zu rollen. »Helft mir, Grimmwolf!«
»Natürlich!«
Gemeinsam drehten sie den Leichnam beiseite, auf dass Grotho wieder zum Vorschein kam.
Dabei bot er keinen schönen Anblick. Es ließ sich schwer sagen, was von all dem Blut und den Gedärmen aus eigenen Wunden quoll und was von seinen Gegnern stammte. Jedenfalls wirkte er platter als sonst. Seine Augen standen blicklos offen.
»Chef! Geht es dir gut?«
Hagen schüttelte schon den Kopf, da drehte plötzlich Grotho den seinen. »Warte, ich bin gleich soweit!« Als Grotho jedoch aufzustehen versuchte, musste er feststellen, dass er sich vor Schmerzen kaum rühren konnte. »Immer dasselbe: Wenn sie einen nicht besiegen können, lassen sie sich auf einen fallen.«
»Wir müssen ihn tragen«, entschied Hagen. »Ich baue aus der Tür eine Schleiftrage. Kannst du noch etwas von meiner Ausrüstung übernehmen, Bragi?«
»Gewiss.«
»Und vergeßt MEINE Ausrüstung nicht! Und das Rückgeld von den Fuhrleuten! Und der Kaufmann, Bragi, der Kaufmann!«
»Alles klar, Chef.« Bragi begann unter Hagens mißbilligenden Blicken mit den Kutschern. »Die haben beide nichts«, berichtete er.
»Unverschämtheit! Ich werde die Gesellschaft verklagen und zum Duell fordern! Zwei Goldkronen schulden sie mir!« Das gedämpfte Klimern von Geld ließ ihn schweigen.
»Chef! Wir sind reich! Wir sind reich! Der Kaufmann hat tausendfünfhundert Goldkronen dabei!«
Grotho schnappte nach Luft. »Tata... füfü...« Bragis `Wir' traf nicht ganz zu, da der Fund nach zwergischem Recht Grotho allein zustand - er bezahlte ja auch alle Spesen.
»Bist du wahnsinnig?« schnauzte Hagen Bragi an. »Grotho kriegt noch einen Herzinfarkt!«
Doch Grotho versuchte ihn zu beruhigen: »Nein, nein, mir geht es gleich viel besser! - Und der Gehilfe?«
»Nur sechzehn Messingpfennige«, kam es aus der Kutsche. »Der Händler war ein Geizhals!«
Grotho seufzte. »Pech, aber was soll man machen! Immerhin sechzehn Messingpfennige...«
Nun schleifte Bragi die Ausrüstung heran. »Das ist zuviel für mich allein.«
»Ich kann nicht so viel tragen, wenn ich Grotho nehme... Dann müssen eben ein paar seiner Sachen hier bleiben!« Außer seiner Kleidung, seinem Helm, der Kettenhaube und dem Kettenmantel schleppte Grotho nämlich ein beträchtliches Waffenarsenal herum, so wusste Hagen. Sollte sich der kleine Halunke neu kaufen, was man nicht mitnehmen konnte!
So öffnete Hagen die beiden prallen Schlingentaschen und zerrte einen Dolch und eine Armbrust mit zwölf Bolzen heraus. Fort damit! Ebenso mit der Axt. Das Rapier musste für den Notfall reichen. Momentan konnte es Grotho ohnehin nicht führen.
»Nicht die Duellpistole! Weißt du, wie teuer die war?«
Na schön, das Spielzeug war ja nicht besonders schwer. Also weiter! Eine Wolldecke. Fort! Eine Zunderbox. Unnötig! Dann drei Paar Handketten. Ein Wahnsinn! Fünfzehn Zimmermannsnägel. Was sollte das denn!? Neben den Taschen, die er gleich mit aussortierte, lagen zwanzig Meter Seil - zwei daumendicke Taue! Hagen fasste sich an den Kopf. Was dieser Winzling alles zu schleppen vermochte!
Übrig blieben einzig die Pistolenmunition und die sternförmigen Schlüssel, die man gefunden hatte.
Grotho war froh, nicht alles vom Schiff mitgenommen zu haben, doch hinderte ihn dies nicht, bei jedem Gegenstand zu jammern und zu klagen. Auch der ruinierte Mantel sollte zurückbleiben.
»Legt wenigstens alles darunter! Vielleicht traut sich niemand, ihn zu entfernen, bis ich morgen zurückkehre.«
»Schnappst du jetzt vollends über? Einen Dreck werde ich tun! Und bis morgen bist selbst du nicht mit solchen Verwundungen wieder auf den Beinen.«
»Bragi, so tu du doch was!«
»Wie soll ich ihn überzeugen?«
»Aufstapeln sollst du! Unter dem Mantel!«
»Ach so.« Bragi tat, wie ihm geheißen.
Derweil stand Hagen kurz vor einem Ausbruch, aber angesichts Grothos Gesundheitszustandes zwang er sich, sich zu beruhigen und geduldig zu warten.
Als sie Grotho dann auf die Tür legten, erkannten sie, warum er so ungewohnt platt gewirkt hatte: Fast eine Handbreit war er in den Boden gerammt worden.
»Zurück oder nach Altdorf?« fragte Bragi.
»In Fahrtrichtung liegt bald ein Gasthaus.«
»Das ist richtig«, bestätigte Hagen. »Es kann nicht weit sein. Eine Stunde vielleicht. Wenn ihr also endlich soweit seid...«
»Aber schaukel nicht so!«
Hagen seufzte abermals, hob die Tür am Kopfende an und machte sich auf den Weg, gefolgt vom beladenen Bragi.


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