Stehende S-Bahn

26.6.25

Träge kriecht die S-Bahn vor sich hin; anscheinend fürchtet sich der Fahrer vor dem bisschen Wind und Regen. Als der Zug endlich Fahrt aufnimmt, beginne ich die stimmungsvolle Atmosphäre zu genießen.
Schon im ersten Bahnhof ist Schluss damit: Durchsagen und Anzeigen verkünden die Verweigerung der Weiterfahrt. Wieder einmal ist "Sicherheit" der Vorwand. Sie gehört schon lange zu meinen meistgehassten Begriffen, auch wenn sie nicht wie nun einen ungewünschten Übergriff bedeutet. Eine Regionalbahn rattert ungerührt vorbei. Drüben auf dem Bahnsteig warten die Leute auf den Zug in Gegenrichtung. Keinem von ihnen gilt das Wetterchen als unangenehm genug, hier im Waggon kurzzeitig Schutz zu suchen.
Tatsächlich ist es auch rasch vorüber; es klart auf. Die Bahnhofsanzeigen hingegen ändern sich nicht. Wollen die warten, bis das Stürmchen sich über die Stadtgrenze verzogen hat? Nun gut, auch dies kann ja nicht mehr allzu lange dauern.
Irrtum. Nachdem ich eine Weile mit einem Paar über die Öffentlichen abgelästert habe, rufen sich die beiden ein Taxi, um ihr Konzert nicht zu verpassen. Ein Zug rast ungehindert von rechts nach links.
Ein alter Herr schießt Aufnahmen der Bahnhofsanzeigen, der Uhren und des stehenden Zuges. Er ist hierin nicht der einzige, doch der Ausführlichste. Ein Zug poltert von links nach rechts. Schönste Sonne lädt zum Spazieren auf dem Bahnsteig ein.
Nach und nach verlassen Radbesitzer Zug und Bahnsteig und setzen den Weg mit ihrem überlegenen Verkehrsmittel fort. Einziger Grund, weswegen sie so lange damit gewartet haben, kann nur die geringe Vorstellungskraft sein, an der es auch mir mangelt, wie sorglos und konsequent die S-Bahn-Geschäftsleitung ihre Leistung zu verweigern gewillt ist. Unser Geld haben sie ja nun.
Ob ich nach Pankow laufen soll? Aber wie finde ich den Weg - und wie geht es dann weiter? Es ist satt fünfundzwanzig Jahre her, dass ich den Linienplan teilweise im Kopf hatte. Einen vernünftigen Stadtplan gibt es auf diesem abgelegenen Bahnhof schon mal gar nicht. Statt dessen durchquert ein Zug mein Blickfeld.
Nun ist eine Stunde um; da kann es ja nicht mehr lange dauern. Als Anerkennung der herausragenden Leistung - und weil mir wenig anderes übrig bleibt - pinkele ich an die Wand des Bahnhofsaufganges.
Zunehmend wird der Zugführer von verhinderten Passagieren zu Rate gezogen. Gerüchteweise liegen irgendwo Äste auf den Schienen - oder vielmehr KÖNNTEN dies tun. Wie ist man wohl zu Wilhelmines Zeit mit derlei Kleinigkeiten verfahren? Fraglos fuhr man zunächst einmal so weit, bis man wirklich welche fand! Dann stiegen Zugpersonal und ein paar Freiwillige aus, räumten auf - und man setzte den Weg mit geringer Verspätung fort. Ich beschließe, eine entsprechende Szene für Wilhelmines Wien-Reise zu schreiben.
Ein Regio eilt vorüber. Den Anhalter-Daumen eines Gestrandeten beantwortet jener Führer mit einem freundlichen Winken. Äste haben auch die wohl keine gesehen.
Die Bahnhofsdurchsagen brechen wiederholt nach wenigen Worten ab. Den Sinn kann man dennoch leicht erraten: "Heute ist Wetter; da fahren wir nicht."
Abermals passiert drüben ein Zug. Ein Wartender betont, wie lächerlich sich die S-Bahn mal wieder macht. Ich stimme zu: Dieses Land geht an seinem Sicherheitswahn zugrunde. Selbst der Zugführer stimmt mir zu, dass dieses Vorgehen nicht im Sinne der Fahrgäste sein kann. Mein Schatz sorgt sich womöglich, weil ich mich nicht melde, aber nun kann es ja nicht mehr lange dauern, weswegen ich niemanden um sein Handy bitte.
Nach zwei Stunden Aufenthalts sind nur die Hilflosesten oder Gutgläubigsten im Zug und auf dem Bahnsteig verblieben. Möglicherweise gehöre ich mangels Erfahrungen mit den öffentlichen Nahverbrechern zu beidem. Doch nun endlich, endlich sehe ich ein, dass ich hier heute keine Leistung mehr für mein unverhältnismäßiges Fahrgeld zu erwarten habe.
Leider gibt es an diesem Provinzbahnhof lediglich eine einsame Buslinie als Umsteigemöglichkeit. Im Verlauf der Suche nach der Station begegne ich einem weiteren Schiffbrüchigen, welcher sich in diesem Niemandsland auch nicht auskennt und es nun vermittels eines Leihrades elegant verlässt.
Auf dem Busfahrplan entdecke ich immerhin genau jene eine Liniennummer, von welcher ich tatsächlich den ungefähren Streckenverlauf kenne, womit meine weitere Route nun feststeht.
Hilfesuchend tritt der ältere Herr mit der Fotokamera von vorhin an mich heran, also weise ich ihn ins weitere Vorgehen mit ein. Dadurch habe ich einen Gesprächsgefährten für die lange Busfahrt.
Obgleich mich die anschließende U-Bahn in Wohnungsreichweite bringt, muss ich noch einmal umsteigen, weil mein Rad anderswo am ursprünglichen Zielbahnhof wartet.
Hin und wieder sollte man mit den Öffentlichen fahren zwecks Erkenntnis, wie gut man es doch im normalen Leben hat. Beschwingt vom belebenden Gefühl der Freiheit steige ich schlussendlich aufs Rad und fliege über den Asphalt von hinnen.


Geschichtenübersicht

Stichwortverzeichnis

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Italienisches Tagebuch (1995)
Wie ich radfahren lernte (1999)
Notizen aus der Provinz (2014)
Bilder aus der Altmark (2015)
Harz war's (2016)
Autounfall eines Radfahrers (2017)
Weihnachtsgedanken (1995-2016)