Drittes Kapitel
Auf dem Weg ins Dunkel

von Oliver H. Herde

Thyra lag auf der Streckbank im Folterkeller des Tempels. Und obwohl man bislang nicht mit ihrer Misshandlung begonnen hatte, war ihre Haltung nicht eben bequem. Die kupfernen Ringe an ihren Hand- und Fußgelenken drückten ihr auf die Knöchel. Ihre Schultern waren verspannt und die Wirbelknochen auf ihrem Rücken rieben ihre Haut auf dem harten Holz der Bank.
Neben der Streckbank standen ein Wächter und der erboste Hüter. Es mochte so um die Mittagszeit herum sein, allerdings hatte die Tempelglocke noch nicht geläutet. Dennoch fühlte Thyra ihren Magen überdeutlich, weil sie seit gestern Abend nichts mehr zu Essen bekommen hatte.
Der Hohepriester schüttelte ernst den Kopf. »Wie konntest du mir das antun? All die Jahre habe ich versucht, dich vorzubereiten... Soll alles vergebens gewesen sein?« Er schwieg einige Augenblicke, dann schien er sich gefasst zu haben, als keime eine neue Hoffnung in ihm auf. »Was hat der Dämon dir erzählt?«
Thyra zögerte. »Er sprach über die Außenwelt... und über deinen Betrug. Du belügst die Menschen im Tal!« Sie wandte ihren Blick dem Wächter zu, sah ihn flehentlich an, in der Erwartung, er würde erkennen, welches Spiel der Hüter mit ihnen allen trieb.
Der aber grinste nur, stützte sich auf seinen Speer und höhnte: »Offensichtlich ist sie noch immer vom Dämon besessen.«
Bestürzt zuckte Thyra zusammen. Wie einfältig von ihr! Natürlich hatte man nicht riskiert, einen Unwissenden als Wache für sie einzuteilen! Oder war nur ihre eigene Verblendung so offenkundig?
»Du hast recht«, meinte der Hüter. »Wir dürfen uns auf kein Wagnis einlassen. Sie muss noch heute auf den Sünderhügel gebracht werden.«
Thyra standen vor Entsetzen Mund und Augen weit offen. Das bedeutete den Tod - einen qualvollen, langsamen Tod. Nie hätte sie geglaubt, ihr Leben eines Tages so beschließen zu müssen - und das so früh!
Der Hüter zog ein Tuch aus einer Tasche seiner Kutte, wand einen großen Knoten in die Mitte und knebelte sie damit.
Sie wehrte sich nicht, zu tief saßen ihr Schreck und Verzweiflung in den Knochen. Eine übermächtige Lethargie ergriff von ihr Besitz. Sie würde den nächsten Morgen zu dieser Jahreszeit wohl nicht mehr erleben.
Der Hüter zückte ein Messer und schnitt ihr damit die Haare kurz, wie es der Ritus verlangte. Dann rief er nach einem anderen Wachtposten. Es war Gunnir. Mit einem mitleidigen Blick auf Thyra erwartete er die Befehle des Hüters.
»Thyra ist besessen«, erklärte der Hohepriester. »Du wirst für sie ein Strafkleid holen! Denke daran, dass sie nichts anderes tragen darf! Fessele sie dann, wie es die Zeremonie vorsieht! Nimm ihr zu keiner Zeit den Knebel ab, und lasse nicht zu, dass sie ihn mit den Händen berührt! Töte sie, wenn sie es doch versuchen sollte, denn ein einziges Wort von ihr könnte dich ins Dunkel ziehen und bedeuten, dass du nie mehr vor das wägende Auge des Vees treten kannst! Du hast eine halbe Stunde Zeit.« Er warf einen flüchtigen naserümpfenden Blick auf Thyra, dann eilte er mit dem anderen Wächter aus dem Gewölbe.
Mit peinlicher Deutlichkeit spürte sie nun Gunnirs Augen, wie sie sich an ihrem Körper entlangtasteten. Der Hüter wusste sehr wohl um die Aufdringlichkeit, mit der Gunnir sie schon seit einigen Monaten verfolgte. Er schien von Gunnir zu erwarten, dass dieser die Situation gegen ihren Willen ausnutzte. So stand der feiste Wachsoldat auch einige Sekunden versonnen da, und nur sein Brustkorb hob und senkte sich langsam. Dann endlich ging auch er und ließ sie in dem düsteren Keller allein.
Bange Minuten lag Thyra nun auf ihrer Bank, ohne sich recht bewegen zu können. Sie wurde sich mit einem Male bewusst, dass es niemanden geben würde, der sie vermisste - außer vielleicht Einbein. Hoffentlich fand er auch ohne sie genügend Nahrung, um zu überleben!
Bald kehrte Gunnir mit dem Opfergewand zurück, einem knielangen Hemd aus eben jenem groben Stoff, aus dem man auch Säcke knüpfte. Er legte es neben sie. Ohne von seinem Speer abzulassen, befreite er sie zuerst von ihren Fuß-, dann von ihren Handfesseln. Sie richtete sich zögernd auf. Einen Augenblick wollte sie sich instinktiv von ihrem Knebel befreien, da wurde sie Gewahr, wie dicht Gunnir die rote Klinge seines Speeres zu ihr hielt.
»Zieh dich aus!«
Thyra lief es bei dem Gedanken eiskalt den Rücken herunter. Doch ihr blieb keine Wahl, als sich zu fügen. Sie schlüpfte aus den Filzschuhen, dann legte sie ihre Robe ab und was sie darunter trug. Schließlich war ihr nur noch ein Lendentuch geblieben. Mit zitternden Händen wollte sie es abstreifen. Eine Träne kullerte ihr die Wange herab, da rief Gunnir: »Halt! Behalte es an!« Verwirrt starrte sie ihn aus ihren angstgeweiteten Augen an.
»Niemand wird es bemerken, wenn du das Opferhemd darüberziehst. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun.«
Kaum dass sie sich gefasst hatte, wurde er mit einem dankbaren Blick belohnt. So freundlich hatte sie ihn nie zuvor angesehen!
Wieder rann ihr eine Träne über das Antlitz. Diesmal war es eine Träne der Erleichterung. Eilig zog sie nun das Hemd an. Es kratzte auf der Haut und vermochte zudem kaum so warmzuhalten, wie die Priesterkleidung. Dann legte sie die Hände auf den Rücken und ließ sich widerstandslos von Gunnir fesseln. Aus einem zweiten Strick knüpfte er eine Schlinge, die er Thyra um den Hals legte. Danach setzten sie sich nebeneinander auf die Streckbank und warteten auf die Rückkehr des Hüters.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie die langsamen Schritte des Tempelvorstehers und zweier anderer Priester nahen hörten. Schnell sprang Gunnir von der Bank.
Thyra wurde das Gefühl nicht los, dass der Hüter sie und Gunnir absichtlich lange allein gelassen hatte. Als er sie und ihn nun prüfend anstarrte und zu erkennen schien, dass Zeit und Situation von dem Wächter nicht genutzt worden waren, strafte er ihn mit einem Ausdruck tiefster Verachtung.
Sowie er sich Thyra zuwandte, wechselten sie für Momente hasserfüllte Blicke, bis ihr Widerstand brach. Grimmig ergriff er das Ende der Schlinge um ihren Hals und zerrte unvermittelt daran, dass sie von der Streckbank fiel und sich an dem rauhen Steinboden das linke Knie aufschrammte.
»Beginnt!« befahl er den beiden Priestern, woraufhin diese einen leisen Klagegesang anstimmten. Er zog Thyra grob an der Schlinge empor und führte sie hinaus. Die anderen folgten.
Auf dem Weg ins Freie schloss sich die restliche Priesterschaft der Prozession an. Alle stimmten in den Gesang mit ein. Vor dem Tempel war ein Großteil der Dorfbevölkerung versammelt. Nur wenige zeigten einen versteckten Ausdruck des Mitleids in ihren Mienen. Irgendwo im Dorf jaulte ein Hund. Man konnte es jetzt kaum von hier oben sehen, so dicht fielen die Schneeflocken. Doch Thyra nahm ihre Umwelt ohnehin nur noch eingeschränkt wahr. Der stechende Schmerz, den der Schnee ihren bloßen Füßen zufügte, ebenso der eisige Wind trieben ihr Tränen in die Augen. Ob ihrer Aufregung aber und der zornigen Eile, mit welcher der Hüter sie zum Sünderhügel schleifte, war ihr insgesamt verhältnismäßig warm.
Bald hatte der Zug den Hügel erreicht. Die großteils verwitterten Holzgestelle boten im leichten Schneetreiben einen gespenstischen Anblick wie knorrige schwarze Wesen, die klagend ihre Arme zum Himmel emporhoben. Manche waren sogar umgestürzt, während an einem noch die abgenagten Gebeine des vor Jahren zuletzt Verurteilten hingen und im Wind gegen die Bretter klopften.
Sorgfältig betrachtete der Hüter die überkreuzten Pfähle, bis er einen unter ihnen, der noch sehr stabil wirkte, ausgewählt hatte. Nur ein einsamer Unterarmknochen baumelte hier noch an einem dünnen Faden. Der Hüter riss ihn herunter. »Hieran!« befahl er.
Unter weinerlichem Gesang nahm man Thyra die Handfesseln ab. Dann wurde sie von einem der Priester emporgehoben, während andere sie an Brust und Hüfte an dem Hauptpfahl festbanden, um ihr dort zunächst einen gewissen Halt zu geben. Anschließend musste sie alle viere von sich strecken und wurde erst an Hand- und Fußgelenken, dann an Knien und Ellenbogen an das gekreuzte Gestell gefesselt. Zuletzt nahm man die Schlinge um ihren Hals und befestigte auch sie am Hauptpfahl.
Immer noch singend wandte sich die Prozession zum Gehen. Nur der Hüter verweilte noch kurz mit grimmen Blicken auf Thyra. »Was habe ich nicht alles in dich investiert! Ich war so hoffnungsvoll, als ich dich wegen deiner roten Haare von...«
Er stockte, denn sie sah ihn plötzlich voll Wissbegier an, weil sie vermutete, jetzt etwas über ihre Herkunft zu erfahren - etwas das nicht erlogen war wie wohl ihr bisheriges Leben.
Doch der Hüter wollte ihr diesen letzten Gefallen auf gar keinen Fall tun. »Du hast alles zerstört. Die Strafe, die du dafür erhältst, ist eigentlich zu milde. Der Tod durch Erfrieren wird dich allzu schnell ereilen. Um ihn hinauszuzögern, hätte ich dir sogar deine Kleidung und deine Haare gelassen. Aber das Gesetz des ersten Hüters schreibt das Ritual genau vor.«
Thyra erschauderte - weniger wegen der Kälte, als angesichts dieses Hasses, den der Hohepriester ihr entgegenbrachte. Als er sich mit leicht geneigtem Kopf abwandte, hätte er ihr dadurch beinahe ein schlechtes Gewissen bereitet.
Unvermittelt drehte er sich noch einmal zu ihr um und schlug sie in den Magen. Langsam löste sich sein verkniffener Ausdruck auf, und er ging, ohne ein weiteres Wort an sie zu verlieren.
Der Schmerz, den ihr der Hieb zufügte, ließ Thyra beinahe bewusstlos werden. Ihr Körper hätte sich nun verkrampfend krümmen wollen, die leidende Stelle schützend zu umhüllen, zu wärmen, durch sanftes Streichen zu beruhigen. Doch ihre Bande ließen kaum irgendeine Regung zu. Allein ihr Antlitz verzerrte im Leid.
Je mehr aber der grausame Schmerz verflog, desto schlimmer wurde sie der Eiseskälte gewahr. So blieb es ihr unmöglich, sich auch nur ein klein wenig zu entspannen. Übelkeit stieg langsam vom gequälten Bauch empor bis zum Halse. Ach, hätte man sie doch gleich getötet! Gerne hätte sie jetzt auf ihre spärliche Kleidung verzichtet, um schneller sterben zu können.
Die Mittagsglocke erklang und weckte noch einmal den Lebenswillen in dem verurteilten Mädchen. Mit den verschiedensten zitterigen Bewegungen suchte sie sich von den Fesseln zu befreien, aber es nutzte alles nichts. Schließlich gab sie mutlos auf und ließ sich hängen.
Ihre Gedanken schweiften zum Hüter zurück. Es schien jetzt klar, dass Vees nur eine Erfindung war und dies ihr ganzes Leben zu einer einzigen Lüge machte. Nie war sie sehr glücklich gewesen. Selbst die Kinder aus dem Dorf hatten nicht mit ihr spielen dürfen, weil man sie für die Tochter des Gottes Vees erklärt hatte - einen Gott, den es gar nicht gab.
Lange lauschte sie dem Wind und betrachtete die herabrieselnden Schneeflocken, dann überkam sie eine erlösende Dunkelheit.

Irgend etwas war an ihrer Hand! Sie schlug die Augen auf und erkannte, dass sie noch immer gefesselt auf dem Sünderhügel hing. Kraftlos hob sie ihr Haupt ein wenig und konnte erst nicht recht glauben, was sie sah: Einbein hockte neben ihr auf dem Gestell und pickte mit seinem Schnabel nach dem Strick um ihr rechtes Handgelenk. Verwundert wollte sie ihn ansprechen, als sie an ihren Knebel erinnert wurde. Bald darauf war ihr Arm frei, und der Adler erhob sich in die Lüfte, wo er schnell zwischen den dicken Flocken aus ihrem Blickfeld verschwand.
So eilig es ihr mit ihren erbärmlich zitternden Fingern möglich war, entfernte sie zuallererst die Schlinge um den Hals. Mit etwas Mühe kam sie gerade so an das Band über dem Ellenbogen. Mehrfach musste sie eine kurze Pause einlegen. Als sie endlich auch ihn freibekommen hatte, konnte sie das noch immer angebundene Handgelenk ein wenig zu sich herabziehen, wenn auch die Fesseln immer wieder an Unebenheiten und Splittern des Balkens hängenblieben.
Ein paarmal war sie kurz davor, einfach aufzugeben, doch immer wieder rüttelte sie irgendein fernes Geräusch auf - Gesang im Tempel, ein blökendes Schaf, ein undeutlicher Ruf zwischen Schnee und Wind. Diese Klänge bedeuteten Leben. Ein Leben, das sie verlassen wollte, aber nicht so! Die Anstrengungen wärmten sie, und die Erinnerung an den Hüter wühlte sie derartig auf, dass sie ihm nicht den Gefallen dieses jammervollen Ablebens tun wollte.
Nach einer ganzen Zeit hing sie mit befreiten Armen in ihren restlichen Banden. Gerne hätte sie nun erst einmal ihre Beine befreit, doch wegen des Seiles um ihre Brust erreichte sie diese nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuerst die Schnüre um ihren Rumpf zu lösen - vergleichsweise leicht zu erreichen, doch verzichtete sie dadurch auf sicheren Halt.
So kam der kraftfordernste und akrobatischste Teil, als sie nur noch an den Beinen festgebunden war. Hierbei rutschte sie etwas ab und verknackste sich den linken Knöchel. Fast wäre sie vor Anspannung und Schmerz ins Schwitzen geraten, doch dafür war es trotz allem zu kalt.
Als sie sich schließlich vollends befreit hatte, ließ sie sich ermattet in den Schnee fallen. Schnaufend sah sie hinüber zum Tempel und hinab zu den Häusern des Dorfes, die durch die treibenden Flocken schwer zu erkennen waren. Schon begannen ihre Zähne wieder zu klappern und machten es ihr noch schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie gerne hätte sie sich einfach niedergelegt und ausgeruht, aber sie durfte hier auf keinen Fall hocken bleiben! Krampfhaft versuchte sie zu überlegen, wie sie das Tal unbemerkt verlassen könnte. Sicher war es unmöglich, ungesehen in den Tempel zu gelangen und Darion durch den Tunnel zu folgen.
Diese Kälte! Als erstes brauchte Thyra etwas zum Anziehen, wenn sie nicht schon sehr bald erfrieren wollte. Vielleicht konnte sie etwas im Dorf stehlen! Sie nahm einige der Stricke und band sie sich wie einen Gürtel um die Hüfte, damit ihr der Wind nicht so leicht unter das Hemd schlüpfen konnte. Fetzen der Gewänder des Skelettes benutzte sie als Fußlappen, die sie mit weiteren Schnüren befestigte. Dann humpelte sie nach Norden in den Wald, um sich in seinem Schutz dem Dorf zu nähern.
Sie war den Häusern schon recht nahe gekommen, als sie Leute vom Tempel herabsteigen bemerkte. Sofort erkannte sie, dass es sich um einen Leichenzug handelte. Wahrscheinlich wurde Bikat zu der Flussinsel mit dem Haus der Toten gebracht, um ihn dort der Strömung zu übergeben. 'Das Haus der Toten!' fuhr es Thyra schlagartig in den Sinn. An jenem Ort gab es die langen, wenn auch dünnen Gewänder, mit denen man die Verstorbenen ankleidete. Wenn Thyra sich sputete, erreichte sie es noch vor der Prozession. Sie wollte - und konnte - auf keinen Fall so lange warten, bis die Priester wieder abzogen!
Hoffnungsvoll jagte sie durch das Unterholz, bis in die Nähe der nördlichen der beiden Brücken, die über die beiden Teilarme des Wassers des Lebens zu der Todesinsel hinüberführten. Ein paar kurze Blicke nach allen Seiten mussten ihr in ihrer Zeitnot als Vorsichtsmaßnahme genügen. Schnell huschte sie hinüber und in die Hütte hinein.
Ohne sich lange umzusehen, riss sie eine kleine Kommode auf. Leider fand sie in ihrer Hast nur zwei Gewänder, die ihr halbwegs passen würden. Sie zog sie beide eilig unter das kratzige Opferhemd an, denn sie bestanden aus recht weichem Leinen. Dabei fiel ihr Blick auf eine Brechstange. Sie nahm sie an sich. Vielleicht würde sie sich noch mit einer Waffe verteidigen müssen. Hinterher verschwand sie auf dem gleichen Wege wieder im Wald.
Aus ihrem Versteck beobachtete sie die gemessenen Schrittes herannahenden Menschen. Man trug Bikat auf einer Bahre und hatte hierzu einen feierlichen Gesang angestimmt, der von einem gelegentlichen Trommelschlag begleitet wurde. Niemand achtete auf Thyras Fußspuren, die der Schnee schon wieder zu verdecken begann. Zwei Männer holten einen Kasten aus dem Haus, in den Bikat unter Flötenspiel hineingebettet wurde. Mit wenigen Nägeln wurde der Sarg verschlossen und schließlich dem Fluss überantwortet. Danach zogen sich die Teilnehmer an der Trauerfeier in den Tempel zurück.
Thyra schaute dem davonfließenden Kasten nach, wie er in den Wald hineintrieb und Vees' Schlund entgegen.
Vees' Schlund! Die Höhle, in welcher der Fluss verschwand! Hatte Darion nicht davon erzählt, dass der Fluss auf der anderen Seite der Berge wieder an die Oberfläche trat? Der Fluchtweg aus dem Tal war also gefunden.
Thyra lief sofort wieder zur Hütte hinüber. Sie hatte noch weitere vorbereitete Särge dort stehen sehen, für den Fall, dass jemand im Tal während des Winters verstarb, der den Fluss bald zugefrieren lassen würde. Den kleinsten, in den sie noch hineinpasste, wählte sie aus, um nicht so schwer tragen zu müssen. Die Brechstange ließ sie einfach fallen.
Dennoch musste sie sich eine geraume Zeit abmühen, bis sie die Kiste ins Wasser bekam. Um ein Haar wäre ihr das schwere Holz aus den klammen Fingern gerutscht und ohne sie davongetrieben. Erschöpft ließ sie sich hineinfallen.
Gemächlich führte sie der Fluss durch den Wald bis zu Vees' Schlund. Eine unbestimmte Furcht ergriff Besitz von ihr. Würde Vees sie je wieder ausspeien? Hatte Darion vielleicht doch gelogen? Schon verschluckte sie die Dunkelheit. Sie wäre ohnehin zu schwach gewesen ihr behelfsmäßiges Boot jetzt noch zu verlassen, also ließ sie sich in einen tiefen Schlaf hinabgleiten.

Etwas schlug auf ihr Gesicht und riss sie aus wilden Träumen. Es war das Ende eines Seiles, zu einer Schlinge gebunden. Gleich wurde es wieder weggezogen, so dass Thyra sich in ihrem Dämmerzustand fragte, ob es noch zu ihrem Traum gehört hatte. Der Himmel über ihr war noch immer grau-weiß, und noch immer fielen dicht Flocken von dort herab. Allerdings konnte sie noch nicht lange aus dem Berg heraus sein, denn sonst hätte sie ja viel mehr von Schnee bedeckt sein müssen. Auf jeden Fall trieb sie noch auf dem Fluss. Ihr war ganz übel von der Schaukelei.
Plötzlich klatschte ihr das Seil auf den Bauch. Instinktiv griff sie danach und behielt es diesmal in beiden Händen, so fest sie vermochte. Wieder wurde am anderen Ende gezogen. Fast hätte sie loslassen müssen. Sollte sie sich zeigen? Wenn man sie für eine Leiche hielt, ließ man dann das Seil womöglich vor Schreck fallen! Außerdem fühlte sie sich noch sehr schwach. Hätte sie doch etwas zum Befestigen des Seiles gehabt! Es zu halten, kostete sie alle verbliebene Kraft.
Bald stieß der Sarg hart auf Grund - zweimal - dreimal - dann ergriffen rauhe Hände eine Kante und endlich lag sie still. Eines schien sicher - es waren nicht Darions Hände, denn sie waren nicht feingliedrig und langfingerig, sondern eher klobig. Ein rundes Gesicht erschien, mit einer großen Nase und einem stattlichen Vollbart. Es lächelte sie freundlich an. »Die kleine Thyra, darf ich annehmen...?«
Verwundert richtete sie sich auf und betrachtete ihr Gegenüber eingehender. Der klitzekleine Kerl reichte ihr vielleicht kaum über die Hüfte, obwohl sie selbst nicht gerade zu den Größten zählte! Er trug braune und grüne Kleidung, nur die Kappe auf seinem Kopf war schwarz. In seinem Gürtel steckte eine Handaxt. Woher kannte dieser Winzling ihren Namen? Die ungeliebte Formulierung 'kleine Thyra' wies darauf hin, dass er jener Reisegefährte sein musste, den Darion einmal beiläufig erwähnt hatte.
»Darion hat mir schon erzählt, dass du am Beginn einer Bekanntschaft wenig von dir gibst. Aber du bist ja ganz blaugefroren! Komm, unser Lager ist gleich hinter den Sträuchern dort. Werde dir eine Decke geben und eine heiße Suppe bereiten.«
Zögernd stieg sie zu dem kleinen, aber offensichtlich sehr stämmigen Männlein hinaus. Das Angebot war einfach zu verlockend, als dass sie noch auf den Gedanken gekommen wäre, irgendwelche Fragen zu stellen. Der Winzling stützte sie ungefragt beim Gehen. Nur zu gern ließ sie es zu. Allerdings wurde sie auch ein wenig enttäuscht, als sie den Lagerplatz zwischen Bäumen und Büschen erreichten, denn Darion war nicht hier. »Wo ist er?«
»Ah, die ersten Worte! Er beobachtet das Tal, ob du noch dort bist. Hier, setz' dich!« Er bot ihr ein Plätzchen am Lagerfeuer an und legte ihr wie versprochen eine Decke um die Schultern. »Hoffentlich hast du dir nicht die Blutkeuche geholt!« Sogleich setzte er einen Topf auf das Feuer, schüttete Wasser aus einem Schlauch hinein und gab einige Stücke Fleisch und Kräuter hinzu.
Thyra beobachtete ihn dabei sehr aufmerksam und warf zwischendurch argwöhnische Blicke auf die drei seltsamen Tiere, die an den Bäumen festgebunden waren. Sie wirkten deutlich größer, schlanker und eleganter, als die Rinder im Tal. Jedenfalls besaßen sie keine Hörner. »Was sind das für Tiere?« fragte sie.
»Pferde. Zum Reiten. Dabei fällt mir ein, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Das ist mir aber auch noch nie passiert! Verzeihung, wie gedankenlos von mir!« Er stand auf, nahm seine Kappe ab und verbeugte sich mit einem treuherzigen Ausdruck und den Worten: »Gestatten, Murmûr Grustin, Sohn des Mardock, Zwerg aus Vilskert.«
Dann setzte er sich wieder und erklärte: »Mein Vater war früher ein Händler. Wahrscheinlich habe ich von ihm meine Reiselust. Neulich erst in Zweiquell...«

Eine gute Stunde verging, in der Thyra weitgehend schwieg und Murmûr ihr ohne längere Atempausen alles mögliche erzählte, von dem sie kaum etwas verstand und das sie zum überwiegenden Teil nur wenig interessierte.
Da erschien zu ihrer Erlösung endlich Darion hinter dem Gesträuch. »Kleine Thyra! Ich hatte gehofft, dass du hier bist. Als ich vom Rand des Talkessels hinab sah, wie du zum Fluss liefst, wusste ich, das du den Weg ins Freie gefunden hattest und hier noch vor mir eintreffen würdest.«
Thyra war so froh, den Elfen zu sehen, dass sie ihm sogar dieses unverschämte 'kleine Thyra' verzieh.
»Setz dich zu uns«, bot Murmûr an, »es ist noch Suppe da.«
Nachdem sie gegessen hatten, berieten sie sich, was weiter geschehen sollte. »Am besten, wir brechen noch heute auf«, schlug Darion vor. »Wer weiß, ob man uns folgt, wenn Thyras Verschwinden entdeckt wird!«
Murmûr nickte bedächtig und betrachtete dabei das zitternde Mädchen. »Das wäre das Sicherste. Und man muss ja nicht ausgerechnet den Winter im Norden verbringen! Aber wohin sollen wir sie bringen? Wo könnte sie ein neues Leben beginnen?«
»Wir ziehen zuerst nach Kaiserberg. Das liegt fast am nächsten, wenn man von Gehöften und den Piratensiedlungen einmal absieht. Und wenn sie sonst nirgends hinpasst, dort kann jeder gut leben.«
»Da hast du wohl recht, vor allem wegen der Nähe, meine ich. Sieh dir nur an, wie sie friert! Leider habe ich nichts bei mir, das ihr passen könnte - außer einem Gürtel vielleicht.« Er griff nach einem prall gefüllten Säckchen und wühlte darin herum.
Darion holte indessen seine Satteltasche, in die nicht sonderlich viel hineinzupassen schien. Im Gegensatz zu Murmûr, der noch suchte, brauchte der Elf nicht einmal in die Tasche hineinzusehen, um eine schwarze Strumpfhose hervorzuholen, welche jener glich, die er trug. Er reichte sie Thyra hinüber, die sie nur misstrauisch ansah, weil sie so winzig zu sein schien, dass sie gerade einem kleinen Kinde passen würde.
»Die taugt ja nicht einmal für ihn!« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung in Murmûrs Richtung.
Darion grinste überlegen. »Doch, doch! Sie passt beinahe jedem ausgewachsenen Menschen, Elfen oder Zwergen, denn sie besteht aus reiner Elfenseide. Sie dehnt sich je nach ihrem Träger aus.« Zur Demonstration der Elastizität zog er ein Hosenbein lang. »Das Material stößt Wind und Wasser ab und hält deswegen wärmer, als es den Anschein haben mag. Und andererseits man schwitzt darin nicht so schnell.«
So richtig vorstellen konnte sich Thyra das zwar noch nicht, den Versuch war es bei dieser Kälte jedoch allemal wert. Und tatsächlich! Das Beinkleid lag eng an, ohne zu drücken, und glänzte trotz der trüben Witterung matt, als sei es feucht.
Darion lächelte zufrieden, denn es betonte Thyras schlanke Beine sehr angenehm, wie er feststellte. »Ein Hemd habe ich auch noch für dich, aber nur Leihweise.« Letzteres betonte er ausdrücklich mit dem Zeigefinger, bevor er ein offensichtlich dem gleichen Faden gewobenes Kleidungsstück aus der Tasche zog. Auf der Vorderseite trug es ein von einem dünnen grauen Streifen eingerahmtes Wappen, das schräg in die Farben Schwarz, Weiß und Grün aufgeteilt war. Allerdings interessierte Thyra dieses fremdartige Symbol nicht im Geringsten, sondern vielmehr die erhoffte wärmende Wirkung des Hemdes. Schnell zog sie es über die anderen Sachen, um sich nicht in der Kälte und vor den beiden Kerlen entblößen zu müssen.
Ganz anders dagegen reagierte Murmûr Grustin auf das Seidenhemd. Er war überrascht, weil er es heute zum ersten Male sah, obwohl er und Darion doch schon so lange gemeinsam die Welt bereisten. Neugierig beugte er sich zu dem Elfen hinüber, der ihn wie unbeteiligt anblickte. »Was mag das für ein Wappen sein, verrätst du es mir?«
»Es gibt Auskunft über meine Familie.«
Das tat fast jedes Wappen! Diese Antwort empfand der Zwerg als so mager, wie die Gebeine eines verhungerten Wolfes. Zweifellos hatte Darion jedoch einen gewichtigen Grund für seine Einsilbigkeit, weshalb Murmûr auch nicht weiter nachfragte.
Statt dessen steckte er die Nase schmollend wieder in seinen Sack und suchte weiter nach dem Gürtel. Nach einer kleinen Weile meinte er: »Ach, da sind ja noch Fäustlinge! Fang!« Er warf sie Thyra zu, die sie sofort überstreifte. »Und hier ist auch schon der versprochene Gürtel«, ergänzte er ein wenig später endlich.
Der Abend war nicht mehr allzu fern und Thyra sehr schwach. Dennoch ließen Zwerg und Elf nicht von ihrem Vorhaben ab, noch an diesem Tage ihre Abreise aus den Weltendebergen zu beginnen. Und nur die Erwartung neuer, unbekannter Länder half Thyra, die Augen noch für ein Weilchen offen zu halten.

Viertes Kapitel


Kurzgeschichten / Bibliographie Oliver H. Herde

© 1991-2002 Oliver H. Herde Elf und Adler Verlag